Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Von der Theologie zur Politischen Ökonomie

Im Zuge der Religionskritik und der weiteren deutschen politischen Entwicklung er­gaben sich unvermeidlich schwerwiegende Änderungen in der Ein­stel­lung der He­gel-Schüler zur Phi­losophie ihres Lehrmeisters und zu des­sen Interpretation. Feu­erbach [1]) und die bei­den Bau­er waren hierbei vorangegangen. In seiner Dis­ser­­tationsarbeit [2]) steht Marx noch stark unter dem Ein­fluss des letzteren (McLellan 1969a:73). Hier hat sich Marx aus­führ­lich zum Verhältnis der Junghe­gel­i­aner zu Hegel geäußert.

Hat doch die spekulative Philosophie als die wahre, konsistente und rationale The­ologie bloß ihre historische Aufgabe erfüllt, so Feuerbach (1843a), Gott als das Dasein der Vernunft zu erkennen und als Vernunft darzustellen. Dass die speku­la­ti­ve Philosophie eine Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln ist, haben Feu­erbach (1843a), ein in Heidelberg der The­ologie ab­trünnig gewordener Stipendiat des Freistaats Bayern [3]), und nach diesem Marx (ÖPM) schon lange vor Topitsch (1967c) erkannt. Dabei sind die Hegel-Schü­ler je­doch nicht bei dieser Kritik stehen geblieben, sondern haben sie im Einzelnen nachgewiesen und gesucht, dem historisch-gesellschaftlichen Inhalt dahinter nach­zuspüren.

Topitsch macht viel Aufhebens von theologischen Stammeltern. Wenn aber eine bestimmte The­orie keinen theologischen Vorläufer hat, dann liegt das in der Regel meist an der man­gel­haf­ten the­ologischen Vorbildung des Historiographen dieser Theorie. Theologie ward die Be­dingung der Mög­lichkeit der Physik Newtons (De­le­kat 1963a:43); d.h. unter der anerkannten Vor­aussetzung von Rechtfertigungs­stra­tegie diente Theologie zur Abschirmung newtonscher The­orieproliferation. Oder ein anderes Beispiel: So verfolgt Gouldner (1971a:259) die struk­tu­rell-funktionale Soziologie von Parsons zurück auf Comte und die katholische Theologie. Pop­pers Negativismus hat seine Vorläufer in der theologia negativa, wie Agassi (1975a:72) zu be­rich­ten weiß. Es besagt daher sehr wenig, einen Gedanken als "Theologie" zu identifizieren oder auf seinen "theologischen Hintergrund" (Albert 1972c:376, Anm.1) zu verweisen. Albert ver­merkt zu Recht, dass Ideologie-Kritik, die hier leich­tes Spiel wähnt, damit auch schon bei ei­nem negativen genetischen Fehl­schluss gelandet ist. Darüber haben auch dieselben, in oft nur Theologen mit an­dern Mitteln sind, mit der Zeit ob der Zeit vergessen, das gebührende Lob der The­ologie zu singen: deren bis­weilen auch manchmal kri­tische Funktion, Tradition auf­recht­zu­erhalten und deren Ansprüche ins Leben zurückzurufen. Die Amtskirchen haben sich allerdings nur zu häufig als ein Kerker [4]) des Denkens erwiesen. Aller­dings ist dann die Befreiung aus dem Kerker der Theologie oft nur entsprechend spezialisierten Ex­perten, also Theologen [5]) zu verdanken gewesen.

Um diese Funktion heute wirksam werden zu lassen, wird gerne ein Forum [6]) der Welt­reli­gio­nen vorgeschlagen - wobei in der Regel die Frage offen gelassen wird, was aus fundamenta­li­stischer Identität wird, wenn die durch relativer Iso­lie­rung geschützte Selbstbezüglichkeit zu­sehends ver­schwindet. Was von einer Re­li­gion aktuell in einer Gesellschaft wirksam wird, muss indes eine Fra­ge des indi­vi­duellen Lebensentwurfs bleiben. Wenig ersprießlich ist es, ei­nem Menschen feste Über­zeugungen ausreden [7]) oder gar befehlen zu wollen - "denn das Glauben ver­­stattet keinen Impe­ra­tiv" (Kant XI:307).Während Hölderlin (3:375, Anm.1) ein feh­len­der Glaube noch als ein Defizit erschien, das er seiner Mutter gegenüber [8]) zu ent­schul­di­gen sich verpflichtet fühlte, ist es heut­zu­tage meist der Glaube in Über­­maß, dem Rechen­schaft abverlangt wird (Bartley 1987a).



[1]) "»Philosophie der Zukunft« und »Thesen zur Reform der Philosophie« in den »Anecdotis« - sosehr sie stillschweigend be­nutzt werden - der kleinliche Neid der einen, der wirk­li­che Zorn der andern ein förmliches Kom­plott zur Verheimlichung angestiftet zu haben scheint.> Von Feuerbach datiert erst die positive huma­nistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sich­rer, tiefer, umfangsreicher und nach­haltiger ist die Wirkung der feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften seit Hegels »Phä­no­menologie« und »Logik«, worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist."

[2]) "Es ist ein psychologisches Gesetz, dass der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Ener­gie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhan­de­ne Wirklichkeit kehrt. (Wichtig aber ist es in philosophischer Hin­sicht, diese Seiten mehr zu spezifizieren, weil aus der bestimmten Weise dieses Umschlagens rück­ge­schlossen werden kann auf die immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter einer Philosophie. Wir sehen hier gleichsam ihr curriculum vitae aufs En­ge, auf die subjektive Po­in­te gebracht.) Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die ein­zelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst. allein diese unmittelbare Re­a­lisierung der Philo­so­phie ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet, und die­ses ihr Wesen ge­staltet sich in der Er­schei­nung und prägt ihr sein Siegel auf. Indem die Philosophie als Wille sich gegen die er­scheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d.h., es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht. Sein Ver­hältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis. Be­gei­stet mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt es in Spannung gegen anderes. Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wen­det. So ergibt sich die Konsequenz, dass das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Phi­losophie, dass ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, dass, was sie nach außen bekämpft, ihr ei­gener in­nerer Mangel ist, dass gerade im Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Ge­gen­teil als Schäden be­kämpft, und dass sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben ver­fällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft, ist immer dasselbe, was sie ist, nur mit umge­kehr­ten Faktoren. Dies ist die eine Seite, wenn wir die Sa­che rein objektiv als unmittelbare Realisierung der Philosophie betrachten. Allein sie hat, was nur eine andere Form davon ist, auch eine subjek­ti­ve Seite. Dies ist das Verhältnis des philosophischen Systems, das ver­wirk­licht wird, zu seinen gei­sti­gen Trägern, zu den einzelnen Selbstbewusstsein, an denen ihr Fortschritt erscheint. Es er­gibt sich aus dem Verhältnis, was in der Realisierung der Philosophie selbst zweischneidige Forderung haben, de­ren eine sich gegen die Welt, die andere gegen die Philosophie selbst kehrt. Denn, was als ein in sich selbst ver­kehrtes Verhältnis an der Sache, erscheint an ihnen als eine doppelte, sich selbst widersprechende Forderung und Handlung. Ihre Freimachung der Welt von der Unphiloso­phie ist zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fes­seln schlug. Weil sie selbst erst im Akt und der un­mit­tel­ba­ren Energie der Entwickelung be­grif­fen, also in theoretischer Hinsicht noch nicht über jenes System hin­aus­ge­kom­men sind, empfinden sie nur den Widerspruch mit der plastischen Sich-selbst-Gleichheit des Systems und wis­sen nicht, dass, indem sie sich gegen dasselbe wenden, sie nur seine einzelnen Momente verwirklichen. End­lich tritt diese Gedoppeltheit des philosophischen Selbstbewusstseins als eine doppelte, sich auf das extremste ge­gen­überstehende Richtung auf, deren eine, die liberale Partei, wie wir sie im Allge­meinen bezeichnen können, den Begriff und das Prinzip der Philosophie, die andere ihren Nicht­be­griff, das Moment der Realität, als Haupt­be­stimmung festhält. Diese zweite Richtung ist die po­si­tive Philosophie. Die Tat der ersten ist die Kritik, also ge­rade das Sich-nach-außen-Wenden der Phi­losophie, die Tat der zweiten der Versuch zu Philosophieren, also das In-sich-Wenden der Phi­lo­sophie, indem sie den Mangel als der Philosophie immanent weiß, während die er­ste ihn als Man­gel der Welt, die philosophisch zu machen, begreift. Jede dieser Parteien tut gerade das, was die an­dere tun will und was sie selbst nicht tun will. Die erste aber ist sich bei ihrem innern Widerspruch des Prinzips im Allgemeinen bewusst und ihres Zweckes. In der zweiten erscheint die Verkehrt­heit, sozusagen die Ver­rücktheit, als solche. Im Inhalt bringt es nur die liberale Partei, weil die Par­tei des Begriffes, zu realen Fort­schrit­ten, während die positive Philosophie es nur zu Forde­rungen und Tendenzen, deren Form ihrer Bedeutung wi­derspricht, zu bringen imstande ist. Was al­so er­stens als ein verkehrtes Verhältnis und feindliche Diremtion der Philosophie mit der Welt er­scheint, wird zweitens zu einer Diremtion des einzelnen philosophischen Selbst­be­wusstseins in sich selbst und erscheint endlich als eine äußere Trennung und Gedoppeltheit der Philosophie, als zwei entgegengesetzte philosophische Richtungen. Es versteht sich, dass außerdem noch eine Men­ge un­ter­ge­ord­neter, quengelnder, individualitätsloser Gestaltungen auftauchen, die sich entwe­der hinter eine philosophische Rie­sengestalt der Vergangenheit stellen, - aber bald bemerkt man den Esel unter der Löwenhaut, die weinerliche Stim­me eines Mannequin von heute und gestern greint komisch kontrastierend hervor hinter der gewaltigen, Jahr­hunderte durchtönenden Stimme, et­wa des Aristoteles, zu deren unwillkommenem Organe sie sich gemacht; es ist, als wenn ein Stum­mer sich durch ein Sprachrohr von enormer Größe zu Stimme verhelfen wollte - oder aber, mit doppelter Brille bewaffnet, steht irgendein Liliputaner auf einem Minimum vom posterius des Rie­sen, ver­kündet der Welt nun ganz verwundert, welche überraschend neue Aussicht von seinem punctum visus aus sich darbiete, und müht sich lächerlich ab, darzutun, nicht im flutenden Her­zen, sondern im soliden, kernigen Re­vier, auf dem er steht, sei der Punkt des Archimedes gefun­den, an dem die Welt in Angeln hängt. So entstehen Haar-, Nägel-, Zehen-, Exkrementen­philo­so­phen und andere, die einen noch schlimmern Posten im mystischen Welt­menschen des Sweden­borg zu re­prä­sen­tieren haben. Allein ihrem Wesen nach fallen alle diese Schleim­tier­chen den bei­den Rich­tun­gen, als ihrem Element, anheim, die angegeben sind. Was diese selbst betrifft: werde ich an einem andern Ort ihr Verhältnis teils zueinander, teils zur Hegelschen Philosophie und die einzelnen hi­sto­ri­schen Momente, in denen diese Entwickelung sich darstellt, vollständig expli­zieren." (Marx ADD)

[3]) vgl. den Briefwechsel mit seinem Va­ter

[4]) "Only those who enjoy an independent income are free from this slavery. I doubt whether Darwin could have overcome the blast of ecclesiastical prejudice with which his doctrine was met if he had been dependent for his livelihood upon academic employment." (Russel 1962a:65)

[5]) wie dies heute in islamischen Ländern wieder zu erleben ist; siehe Rouleau (1995a). Zum Ko­ran siehe neuerdings Zirker (1999a). Zur religiösen und kulturellen Vielfalt im Mittelmeerraum gewährt Aufschlüsse der Blick auf Rabbi Mose Ben Maimon (*1138 in Cordoba, + 1204 al Fustat (Alt-Kairo), welcher eine Brücke schlug vom Judentum zum Islam. Zu einem diesbezüg­li­chen Vor­trag von Friedrich Niewöhner an der Universität Frankfurt siehe Lerch (1999a).

[6]) Nach einer sehr plausiblen Unterscheidung Kants (XI:320) gibt es nur eine unsichtbare Kir­che von Religion, da­gegen verschiedene Sekten von Kirchen. Würde eine solche Begrifflichkeit uni­­versell akzeptiert, würden sich die meisten politischen Probleme im Zusammenhang mit Religi­onszugehörigkeit leichter lösen lassen. Toleranz wäre praktisch einfacher durchzuführen.

[7]) Zum Beweis oder Gegenbeweis der Existenz Gottes: Ich sehe mich kaum in der Lage, über ein solch schlecht definiertes Problem zu diskutieren. Wenn jemand glaubt, er sei Napoleon, so ist er nicht durch das Argument zu widerlegen, dass Napoleon schon lange tot sei. Er ist sich ja abso­lut sicher, dass er selber lebt. Genauso witzlos ist es aber, einem Gläubigen die Nicht­be­weis­barkeit Gottes entgegenzuhalten. Solange ein Napoleon nicht den Bonapartismus allgemein einzuführen ver­sucht, mag er Napoleon bleiben.

[8]) "Glaube kann nie geboten werden, so wenig als Liebe. Er muss freiwillig und aus eigenem Triebe sein. Christus hat freilich gesagt: wer nicht glaubet, der wird verdammt, d.h. so viel ich die Bibel verstehe, streng beurteilt werden, und das ist natürlich, denn dem bloß pflicht- und recht­mä­ßig guten Menschen kann nichts vergeben werden, weil er selber alles in die Tat setzt, aber damit ist gar nicht gesagt, dass man ihm den Glauben aufzwingen solle." (Hölderlin 3:375, Anm.1)

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