Im Zuge der Religionskritik und der weiteren deutschen politischen Entwicklung ergaben sich unvermeidlich schwerwiegende Änderungen in der Einstellung der Hegel-Schüler zur Philosophie ihres Lehrmeisters und zu dessen Interpretation. Feuerbach [1]) und die beiden Bauer waren hierbei vorangegangen. In seiner Dissertationsarbeit [2]) steht Marx noch stark unter dem Einfluss des letzteren (McLellan 1969a:73). Hier hat sich Marx ausführlich zum Verhältnis der Junghegelianer zu Hegel geäußert.
Hat doch die spekulative Philosophie als die wahre, konsistente und rationale Theologie bloß ihre historische Aufgabe erfüllt, so Feuerbach (1843a), Gott als das Dasein der Vernunft zu erkennen und als Vernunft darzustellen. Dass die spekulative Philosophie eine Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln ist, haben Feuerbach (1843a), ein in Heidelberg der Theologie abtrünnig gewordener Stipendiat des Freistaats Bayern [3]), und nach diesem Marx (ÖPM) schon lange vor Topitsch (1967c) erkannt. Dabei sind die Hegel-Schüler jedoch nicht bei dieser Kritik stehen geblieben, sondern haben sie im Einzelnen nachgewiesen und gesucht, dem historisch-gesellschaftlichen Inhalt dahinter nachzuspüren.
Topitsch macht viel Aufhebens von theologischen Stammeltern. Wenn aber eine bestimmte Theorie keinen theologischen Vorläufer hat, dann liegt das in der Regel meist an der mangelhaften theologischen Vorbildung des Historiographen dieser Theorie. Theologie ward die Bedingung der Möglichkeit der Physik Newtons (Delekat 1963a:43); d.h. unter der anerkannten Voraussetzung von Rechtfertigungsstrategie diente Theologie zur Abschirmung newtonscher Theorieproliferation. Oder ein anderes Beispiel: So verfolgt Gouldner (1971a:259) die strukturell-funktionale Soziologie von Parsons zurück auf Comte und die katholische Theologie. Poppers Negativismus hat seine Vorläufer in der theologia negativa, wie Agassi (1975a:72) zu berichten weiß. Es besagt daher sehr wenig, einen Gedanken als "Theologie" zu identifizieren oder auf seinen "theologischen Hintergrund" (Albert 1972c:376, Anm.1) zu verweisen. Albert vermerkt zu Recht, dass Ideologie-Kritik, die hier leichtes Spiel wähnt, damit auch schon bei einem negativen genetischen Fehlschluss gelandet ist. Darüber haben auch dieselben, in oft nur Theologen mit andern Mitteln sind, mit der Zeit ob der Zeit vergessen, das gebührende Lob der Theologie zu singen: deren bisweilen auch manchmal kritische Funktion, Tradition aufrechtzuerhalten und deren Ansprüche ins Leben zurückzurufen. Die Amtskirchen haben sich allerdings nur zu häufig als ein Kerker [4]) des Denkens erwiesen. Allerdings ist dann die Befreiung aus dem Kerker der Theologie oft nur entsprechend spezialisierten Experten, also Theologen [5]) zu verdanken gewesen.
Um diese Funktion heute wirksam werden zu lassen, wird gerne ein Forum [6]) der Weltreligionen vorgeschlagen - wobei in der Regel die Frage offen gelassen wird, was aus fundamentalistischer Identität wird, wenn die durch relativer Isolierung geschützte Selbstbezüglichkeit zusehends verschwindet. Was von einer Religion aktuell in einer Gesellschaft wirksam wird, muss indes eine Frage des individuellen Lebensentwurfs bleiben. Wenig ersprießlich ist es, einem Menschen feste Überzeugungen ausreden [7]) oder gar befehlen zu wollen - "denn das Glauben verstattet keinen Imperativ" (Kant XI:307).Während Hölderlin (3:375, Anm.1) ein fehlender Glaube noch als ein Defizit erschien, das er seiner Mutter gegenüber [8]) zu entschuldigen sich verpflichtet fühlte, ist es heutzutage meist der Glaube in Übermaß, dem Rechenschaft abverlangt wird (Bartley 1987a).
[1]) "
[2]) "Es ist ein psychologisches Gesetz, dass der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt. (Wichtig aber ist es in philosophischer Hinsicht, diese Seiten mehr zu spezifizieren, weil aus der bestimmten Weise dieses Umschlagens rückgeschlossen werden kann auf die immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter einer Philosophie. Wir sehen hier gleichsam ihr curriculum vitae aufs Enge, auf die subjektive Pointe gebracht.) Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst. allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet, und dieses ihr Wesen gestaltet sich in der Erscheinung und prägt ihr sein Siegel auf. Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d.h., es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht. Sein Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis. Begeistet mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt es in Spannung gegen anderes. Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Konsequenz, dass das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, dass ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, dass, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, dass gerade im Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Gegenteil als Schäden bekämpft, und dass sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben verfällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft, ist immer dasselbe, was sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren. Dies ist die eine Seite, wenn wir die Sache rein objektiv als unmittelbare Realisierung der Philosophie betrachten. Allein sie hat, was nur eine andere Form davon ist, auch eine subjektive Seite. Dies ist das Verhältnis des philosophischen Systems, das verwirklicht wird, zu seinen geistigen Trägern, zu den einzelnen Selbstbewusstsein, an denen ihr Fortschritt erscheint. Es ergibt sich aus dem Verhältnis, was in der Realisierung der Philosophie selbst zweischneidige Forderung haben, deren eine sich gegen die Welt, die andere gegen die Philosophie selbst kehrt. Denn, was als ein in sich selbst verkehrtes Verhältnis an der Sache, erscheint an ihnen als eine doppelte, sich selbst widersprechende Forderung und Handlung. Ihre Freimachung der Welt von der Unphilosophie ist zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fesseln schlug. Weil sie selbst erst im Akt und der unmittelbaren Energie der Entwickelung begriffen, also in theoretischer Hinsicht noch nicht über jenes System hinausgekommen sind, empfinden sie nur den Widerspruch mit der plastischen Sich-selbst-Gleichheit des Systems und wissen nicht, dass, indem sie sich gegen dasselbe wenden, sie nur seine einzelnen Momente verwirklichen. Endlich tritt diese Gedoppeltheit des philosophischen Selbstbewusstseins als eine doppelte, sich auf das extremste gegenüberstehende Richtung auf, deren eine, die liberale Partei, wie wir sie im Allgemeinen bezeichnen können, den Begriff und das Prinzip der Philosophie, die andere ihren Nichtbegriff, das Moment der Realität, als Hauptbestimmung festhält. Diese zweite Richtung ist die positive Philosophie. Die Tat der ersten ist die Kritik, also gerade das Sich-nach-außen-Wenden der Philosophie, die Tat der zweiten der Versuch zu Philosophieren, also das In-sich-Wenden der Philosophie, indem sie den Mangel als der Philosophie immanent weiß, während die erste ihn als Mangel der Welt, die philosophisch zu machen, begreift. Jede dieser Parteien tut gerade das, was die andere tun will und was sie selbst nicht tun will. Die erste aber ist sich bei ihrem innern Widerspruch des Prinzips im Allgemeinen bewusst und ihres Zweckes. In der zweiten erscheint die Verkehrtheit, sozusagen die Verrücktheit, als solche. Im Inhalt bringt es nur die liberale Partei, weil die Partei des Begriffes, zu realen Fortschritten, während die positive Philosophie es nur zu Forderungen und Tendenzen, deren Form ihrer Bedeutung widerspricht, zu bringen imstande ist. Was also erstens als ein verkehrtes Verhältnis und feindliche Diremtion der Philosophie mit der Welt erscheint, wird zweitens zu einer Diremtion des einzelnen philosophischen Selbstbewusstseins in sich selbst und erscheint endlich als eine äußere Trennung und Gedoppeltheit der Philosophie, als zwei entgegengesetzte philosophische Richtungen. Es versteht sich, dass außerdem noch eine Menge untergeordneter, quengelnder, individualitätsloser Gestaltungen auftauchen, die sich entweder hinter eine philosophische Riesengestalt der Vergangenheit stellen, - aber bald bemerkt man den Esel unter der Löwenhaut, die weinerliche Stimme eines Mannequin von heute und gestern greint komisch kontrastierend hervor hinter der gewaltigen, Jahrhunderte durchtönenden Stimme, etwa des Aristoteles, zu deren unwillkommenem Organe sie sich gemacht; es ist, als wenn ein Stummer sich durch ein Sprachrohr von enormer Größe zu Stimme verhelfen wollte - oder aber, mit doppelter Brille bewaffnet, steht irgendein Liliputaner auf einem Minimum vom posterius des Riesen, verkündet der Welt nun ganz verwundert, welche überraschend neue Aussicht von seinem punctum visus aus sich darbiete, und müht sich lächerlich ab, darzutun, nicht im flutenden Herzen, sondern im soliden, kernigen Revier, auf dem er steht, sei der Punkt des Archimedes gefunden, an dem die Welt in Angeln hängt. So entstehen Haar-, Nägel-, Zehen-, Exkrementenphilosophen und andere, die einen noch schlimmern Posten im mystischen Weltmenschen des Swedenborg zu repräsentieren haben. Allein ihrem Wesen nach fallen alle diese Schleimtierchen den beiden Richtungen, als ihrem Element, anheim, die angegeben sind. Was diese selbst betrifft: werde ich an einem andern Ort ihr Verhältnis teils zueinander, teils zur Hegelschen Philosophie und die einzelnen historischen Momente, in denen diese Entwickelung sich darstellt, vollständig explizieren." (Marx ADD)
[3]) vgl. den Briefwechsel mit seinem Vater
[4]) "Only those who enjoy an independent income are free from this slavery. I doubt whether Darwin could have overcome the blast of ecclesiastical prejudice with which his doctrine was met if he had been dependent for his livelihood upon academic employment." (Russel 1962a:65)
[5]) wie dies heute in islamischen Ländern wieder zu erleben ist; siehe Rouleau (1995a). Zum Koran siehe neuerdings Zirker (1999a). Zur religiösen und kulturellen Vielfalt im Mittelmeerraum gewährt Aufschlüsse der Blick auf Rabbi Mose Ben Maimon (*1138 in Cordoba, + 1204 al Fustat (Alt-Kairo), welcher eine Brücke schlug vom Judentum zum Islam. Zu einem diesbezüglichen Vortrag von Friedrich Niewöhner an der Universität Frankfurt siehe Lerch (1999a).
[6]) Nach einer sehr plausiblen Unterscheidung Kants (XI:320) gibt es nur eine unsichtbare Kirche von Religion, dagegen verschiedene Sekten von Kirchen. Würde eine solche Begrifflichkeit universell akzeptiert, würden sich die meisten politischen Probleme im Zusammenhang mit Religionszugehörigkeit leichter lösen lassen. Toleranz wäre praktisch einfacher durchzuführen.
[7]) Zum Beweis oder Gegenbeweis der Existenz Gottes: Ich sehe mich kaum in der Lage, über ein solch schlecht definiertes Problem zu diskutieren. Wenn jemand glaubt, er sei Napoleon, so ist er nicht durch das Argument zu widerlegen, dass Napoleon schon lange tot sei. Er ist sich ja absolut sicher, dass er selber lebt. Genauso witzlos ist es aber, einem Gläubigen die Nichtbeweisbarkeit Gottes entgegenzuhalten. Solange ein Napoleon nicht den Bonapartismus allgemein einzuführen versucht, mag er Napoleon bleiben.
[8]) "Glaube kann nie geboten werden, so wenig als Liebe. Er muss freiwillig und aus eigenem Triebe sein. Christus hat freilich gesagt: wer nicht glaubet, der wird verdammt, d.h. so viel ich die Bibel verstehe, streng beurteilt werden, und das ist natürlich, denn dem bloß pflicht- und rechtmäßig guten Menschen kann nichts vergeben werden, weil er selber alles in die Tat setzt, aber damit ist gar nicht gesagt, dass man ihm den Glauben aufzwingen solle." (Hölderlin 3:375, Anm.1)
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