Die Geschichte der Junghegelianer hat insbesondere gezeigt, dass die Kritik von Religion und Theologie und die Scheidung von Christentum und Wissenschaft keine so glatte Angelegenheit ist, die sich von heute auf morgen erledigt. Die tradierte Einteilung in eine hegelsche Mitte, Rechte und Linke entstand im Zusammenhang mit der junghegelianischen Frage nach der Göttlichkeit des Menschensohns Jesus Christus (Adolphi 1989a:1).
Die Theologie als eine rationale Form der Religion tendiert zu deren Auflösung im Begriff. Die Philosophie Hegels bildet ein kraftvoller Akkord zu dieser Grundmelodie und Auftakt der junghegelianischen Religionskritik, ein Thema der deutschen Philosophie von Hegel bis zu Nietzsche und Kierkegaard (Löwith 1958a:356).
Die Theologie wandelte sich dabei unter der Hand von einem apologetischen [1]) zu einem kritischen Projekt. Den Junghegelianern ging es nicht so sehr darum, Hegels Philosophie weiterzuentwickeln, als diese auf die besonderen Gebiete des Wissens und der Gesellschaft anzuwenden: „das Weltlichwerden der Philosophie".
Ahnte Popper nicht, dass seiner Essentialismus-Kritik durch Feuerbachs (o.J.:72) Kritik an Hegels Hypostasierung von Begriffen schon längst vorgegriffen worden war? Feuerbach liefert eine psycho-logische Erklärung:
„Das Maß des Wesens ist auch das Maß des Verstandes.“ (Feuerbach 1976a:25)
Schon vor Feuerbach hatten Bibelkritiker wie La Peyrère, Spinoza, Simon und Bayle zur Entwicklung einer „science of man“ (Hume) beigetragen (Popkin 1974a). Das theoretische Grundmuster von Ideologie-Kritik lässt sich jedoch mindestens bis auf Bacon zurückführen. Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist gesellschaftlich bedingten Verzerrungen preisgegeben; seine Erkenntnisse sind anthropozentrische Verzerrungen der Natur, ex analogia hominis, nicht ex analogia universi (Krohn 1981a:272f). Hierbei werden unterschieden:
a) anthropomorphe,
b) individualistische,
c) linguamorphe und
d) soziomorphe Ideologien.
Zur soziomorphen Auffassungsweise von Religion kennen wir insbesondere das antike Vorbild des Xenophanes aus Kolophon [2]). Feuerbach verbindet Anthropologie [3]) mit philosophischer Kritik von Religion und Theologie. So verkündet seine „Philosophie der Zukunft“ in § 1 als programmatische Forderung:
„The task of the modern era was the realisation and humanisation of God - the transformation and dissolution of theology into anthropology.” (1843)
Kants kopernikanische Wende führte zum Idealismus; Feuerbachs materialistische Wende zu Naturwissenschaft und Anthropologie, welch letztere als Grundlagenwissenschaft zu empirischer Psychologie und Soziologie oder als die Kombination aller Wissenschaften vom Menschen aufgefasst werden kann.
„Die Moral ist so gut eine Erfahrungswissenschaft wie die Medizin.“ (Feuerbach, Zur Moralphilosophie, 1874a:305)
Mit gutem Recht kann man daher behaupten, die deutsche Religionssoziologie beginnt nicht erst mit Weber [4]), sondern mit Hegel, Feuerbach [5]) und Marx [6]). Während Hegel Religion noch theologisch-philosophisch kritisierte, untersuchte Feuerbach innerhalb der christlichen Theologie den anthropologischen Inhalt. Dies feuerbachische Programm hielten Marx und Engels [7]) in mancher Hinsicht für einen epochalen Fortschritt über Hegel hinaus, aber noch zu einseitig und abstrakt, da die historisch-gesellschaftliche Perspektive in dieser Anthropologie fehlte. Feuerbach macht gegenüber Hegels Religionsphilosophie den „konkreten Menschen“ geltend – bei diesem Schlagwort bleibt seine theoretische Analyse aber auch schon stehen (Löwith 1958a:334). Kernpunkt Marxens dezidiert vorgetragenen Erkenntnisprogramms war es, in einer Problemverschiebung von Philosophie hin zur konkreten geschichtlichen Analyse, die Religion aus den menschlichen sozialen Beziehungen heraus zu erklären.
Theologie und mit dieser die spekulative Philosophie werden in Feuerbachs Perspektive als Material benutzt zur Erforschung der religiösen Selbstdeutungen, die sich in den religiös äußerst heterogenen Milieus des Mittelmeerraums und Europas entwickelt haben.
„So sehr ist das Bild des Andern in mein Selbstbewusstsein, mein Selbstbild eingewoben, dass selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinnerlichsten, das Gewissen ein Ausdruck des Sozialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; dass ich selbst in den geheimsten, verborgensten Winkel meines Hauses, meines Ichs mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeugnis von dem Dasein des Andern außer mir abzugeben.“ (Feuerbach, Zur Moralphilosophie 1874a:299)
Wer glaubt hier nicht, Mead [8]) (1973a) sprechen zu hören?
[1]) „Der Theologe hat neben seiner modernen Bildung apologetische Interessen, er muss die altertümliche Bibel und seine modern-barbarische Bildung in Einklang bringen, was aber nur möglich ist, wenn er beide verfälscht.“ (Löwith 1958a:372)
[2]) „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen. 12. Wie sie gar viele ruchlose Taten der Götter erzählten: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen. 13. [Homer war älter als Hesiod.] 14. Doch wähnen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie. 15. Doch wenn die Ochsen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte. 16. Die Äthiopen [behaupten, ihre Götter] seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.".- "Diese wunderbaren Verse des Xenophanes zeigten mir, dass er meine erkenntnistheoretischen Einsichten vor 2500 Jahren vorweggenommen hat - jene Einsichten, die ich im Winter 1919-1920 für mich formulierte und die in diesem Buch zuerst entwickelt wurden: ich meine vor allem den Fallibilismus, der für uns unüberwindbar ist; und die absolute und objektive Wahrheit, die wir anstreben und manchmal sogar finden, aber ohne je sicher wissen zu können, dass wir sie in der Tat gefunden haben. Das alles wusste Xenophanes. Es gibt Beispiele dafür, dass die Fehlbarkeit unseres Wissens oft aus unserem Anthropomorphismus entspringt, aber dass unsere Fehler trotzdem verbessert werden können." (Popper 1994b:102) Diese Verse waren Hegel nicht unbekannt. Sein Schüler Feuerbach hatte sie zu einem Programm der Religionskritik ausgebaut, unter deren Verdikt schließlich überhaupt die idealistische Philosophie geriet (Steigerwald 1998a).
[3]) „Mein hauptsächlicher Gegenstand ist das Christentum, ist die Religion, wie sie unmittelbares Objekt, unmittelbares Wesen des Menschen ist.“ (Feuerbach 1849a:19) - "Feuerbachs Naturalismus und Atheismus stehen für einen umfassenden Naturbegriff, der die körperliche Verfasstheit aller Lebewesen und ihr Unterworfensein unter Raum und Zeit ernst nimmt und von dieser Grundlage aus die Religion als Menschenwerk, als Wunsch- und Angstgebilde entzaubert." (Kahl 1997a); vgl. zu "Anthropologie" (ROM_ANT 1998)
[4]) zu Webers diesbezüglichem Forschungsprogramm siehe Baumgarten (1964a:459ff).
[5]) 1866 schreibt Feuerbach an Dr. J. Duboc: „Sie haben ferner nicht beachtet, dass nicht der Eigensinn, wenn auch philosophischer Eigensinn, sondern der volkstümliche, wenn auch aus unserm Volke verschwindende, oder vielmehr menschheitliche Gemeinsinn die Basis meines Denkens ist, dass ich mich überall auf Tatsachen, Äußerungen, Offenbarungen der Menschheit, nicht dieses oder jenes Philosophen stütze, dass folglich auch mein Moralprinzip nur die Analyse der uralten, nicht nur alt- und neutestamentlichen, sondern menschheitlichen Ansprüche ist.“ (1874a:82)
[6]) vgl. dazu Giddens (1971a:205ff)
[7]) "Stirner hat recht, wenn er 'den Menschen' Feuerbachs, wenigstens des 'Wesens des Christentums' verwirft; der feuerbachsche 'Mensch' ist von Gott abgeleitet, Feuerbach ist von Gott auf den 'Menschen' gekommen, und so ist 'der Mensch' allerdings noch mit einem theologischen Heiligenschein der Abstraktion bekränzt. Der wahre Weg, zum 'Menschen' zu kommen, ist der umgekehrte. Wir müssen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen, um nicht, wie Stirner, drin stecken zu bleiben, sondern uns von da aus zu 'dem Menschen' zu erheben. 'Der Mensch' ist immer eine Spukgestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine Basis hat. Kurz, wir müssen vom Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsre Gedanken und namentlich unser 'Mensch' etwas Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft à la Hegel." (Engels an Marx, 19.11.1844, MEW 27:12)
[8]) "Ich kann also von der Selbstheit, sie absolut gedacht - Gott ist das absolute Selbst - nicht unmittelbar zu ichrem Gegenteil übergehen; ich muss diesen Widerspruch einleiten, vorbereiten, mäßigen durch das Bewusstsein eines Wesens, welches zwar auch ein anderes ist und insofern mir die Anschauung meiner Beschränktheit gibt, aber so, dass es zugleich mein Wesen bejaht, mein Wesen mir vergegenständlicht. Das Bewusstsein der Welt ist ein demütigendes Bewusstsein - die Schöpfung war ein »Akt der Demut« -, aber der erste Stein des Anstoßes, an dem sich der Stolz der Ichheit bricht, ist das Du, das andere Ich. Erst stählt das Ich seinen Blick in dem Auge eines Du, ehe es die Anschauung eines Wesens erträgt, welches ihm nicht sein eignes Bild zurückstrahlt. Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. Ich bin und fühle mich abhängig von der Welt, weil ich zuerst von andern Menschen mich abhängig fühle. Bedürfte ich nicht des Menschen, so bedürfte ich auch nicht der Welt. Ich versöhne, ich befreunde mich mit der Welt nur durch den andern Menschen. Ohne den Andern wäre die Welt für mich nicht nur tot und leer, sondern auch sinn- und verstandlos. Nur an dem Andern wird der Mensch sich klar und ]selbstbewußt; aber erst, wenn ich mir selbst klar, wird mir die Welt klar. Ein ganz für sich allein existierender Mensch würde sich selbstlos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur verlieren; er würde weder sich als Menschen noch die Natur als Natur erfassen. Der erste Gegenstand des Menschen ist der Mensch. Der Sinn für die Natur, der uns erst das Bewusstsein der Welt als Welt erschließt, ist ein späteres Erzeugnis; denn er entsteht erst durch den Akt der Absonderung des Menschen von sich." (Feuerbach, Wesen des Christentums:184.).
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