Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Anfänge der deutschen Religionssoziologie

„Der entscheidende Wendepunkt aber von Hegels Versöhnung zu Nietzsches Bruch mit dem Christentum ist durch die Religionskritik der Linkshegelianer be­zeichnet.“ (Löwith 1958a:351)

Die Geschichte der Junghegelianer hat insbesondere gezeigt, dass die Kritik von Re­ligion und The­ologie und die Scheidung von Christentum und Wissenschaft kei­ne so glatte Angelegenheit ist, die sich von heu­te auf morgen erledigt. Die tradier­te Einteilung in eine hegelsche Mitte, Rechte und Linke entstand im Zusammen­hang mit der junghegelianischen Frage nach der Göttlichkeit des Menschensohns Jesus Chri­stus (Adol­phi 1989a:1).

Die Theologie als eine rationale Form der Religion tendiert zu deren Auflösung im Begriff. Die Philosophie Hegels bildet ein kraftvoller Akkord zu dieser Grundmelo­die und Auftakt der jung­he­gelianischen Religionskritik, ein Thema der deutschen Philosophie von Hegel bis zu Nietz­sche und Kierkegaard (Löwith 1958a:356).

Die Theologie wan­delte sich dabei unter der Hand von einem apo­lo­geti­schen [1]) zu einem kri­ti­schen Projekt. Den Junghegelianern ging es nicht so sehr darum, He­gels Philosophie wei­ter­zu­ent­wickeln, als die­se auf die besonderen Gebiete des Wis­sens und der Gesellschaft an­zu­wen­den: „das Weltlichwerden der Philosophie".

Ahnte Popper nicht, dass seiner Essentialismus-Kritik durch Feuer­bachs (o.J.:72) Kritik an Hegels Hypostasierung von Begriffen schon längst vorgegriffen worden war? Feuerbach liefert eine psycho-logische Erklärung:

„Das Maß des Wesens ist auch das Maß des Verstandes.“ (Feuerbach 1976a:25)

Schon vor Feuerbach hatten Bibelkritiker wie La Peyrère, Spinoza, Simon und Bay­­le zur Ent­wick­lung einer „science of man“ (Hume) beigetragen (Popkin 1974a). Das theoretische Grund­mu­ster von Ideologie-Kritik lässt sich jedoch mindestens bis auf Bacon zurückführen. Die Er­kennt­nis­fä­hig­keit des Menschen ist gesellschaftlich be­dingten Verzerrungen preisgegeben; sei­ne Er­kennt­nis­se sind anth­ro­pozentrische Verzerrungen der Natur, ex analogia hominis, nicht ex analogia uni­versi (Krohn 1981a:272f). Hierbei werden unterschieden:

a) anthropomorphe,
b) individualistische,
c) linguamorphe und
d) soziomorphe Ideologien.

Zur soziomorphen Auffassungsweise von Religion kennen wir insbesondere das an­­tike Vor­bild des Xenophanes aus Kolophon [2]). Feu­erbach verbindet Anthropo­logie [3]) mit philosophischer Kritik von Re­ligi­on und Theolo­gie. So verkündet sei­ne „Philosophie der Zukunft“ in § 1 als pro­gram­ma­­­tische For­de­rung:

„The task of the modern era was the realisation and humanisation of God - the transformation and dissolution of theology into anthropology.” (1843)

Kants kopernikanische Wende führte zum Idealismus; Feuerbachs materialisti­sche Wen­de zu Naturwissenschaft und Anthropologie, welch letztere als Grundla­gen­wissenschaft zu em­pi­ri­scher Psychologie und Soziologie oder als die Kombina­ti­­on aller Wissenschaften vom Men­schen aufgefasst werden kann.

„Die Moral ist so gut eine Erfahrungswissenschaft wie die Medizin.“ (Feuer­bach, Zur Moralphilosophie, 1874a:305)

Mit gutem Recht kann man daher behaupten, die deutsche Religionssoziologie beginnt nicht erst mit Weber [4]), sondern mit Hegel, Feu­erbach [5]) und Marx [6]). Während Hegel Re­li­gi­on noch theologisch-philosophisch kritisierte, untersuchte Feuerbach innerhalb der christli­chen The­o­lo­gie den an­thro­po­logischen Inhalt. Dies feuerbachische Programm hielten Marx und En­gels [7]) in mancher Hinsicht für ei­nen epochalen Fortschritt über Hegel hinaus, aber noch zu einseitig und abstrakt, da die historisch-ge­sellschaftliche Perspektive in dieser An­thro­po­lo­gie fehlte. Feu­erbach macht gegenüber He­gels Religionsphilosophie den „konkreten Men­schen“ geltend – bei diesem Schlagwort bleibt sei­ne theoretische Analyse aber auch schon ste­hen (Lö­with 1958a:334). Kernpunkt Marxens de­zi­diert vor­getragenen Er­kenntnisprogramms war es, in einer Problemver­schie­bung von Philosophie hin zur konkreten geschichtlichen Ana­ly­se, die Re­ligion aus den mensch­lichen sozia­len Be­ziehungen heraus zu erklären.

Theologie und mit dieser die spekulative Philosophie werden in Feuerbachs Per­spektive als Ma­te­ri­al benutzt zur Erforschung der reli­gi­ösen Selbstdeutungen, die sich in den religiös äu­ßerst hete­ro­ge­nen Milieus des Mittelmeerraums und Europas entwickelt haben.

„So sehr ist das Bild des Andern in mein Selbstbewusstsein, mein Selbstbild ein­ge­woben, dass selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinner­lich­sten, das Ge­wissen ein Ausdruck des Sozialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; dass ich selbst in den geheimsten, verbor­gen­sten Winkel meines Hauses, mei­nes Ichs mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeug­nis von dem Da­sein des Andern außer mir abzugeben.“ (Feuerbach, Zur Moral­philo­so­phie 1874a:299)

Wer glaubt hier nicht, Mead [8]) (1973a) sprechen zu hören?



[1]) „Der Theologe hat neben seiner modernen Bildung apologetische Interessen, er muss die al­tertümliche Bibel und seine modern-barbarische Bildung in Einklang bringen, was aber nur mög­lich ist, wenn er beide verfälscht.“ (Löwith 1958a:372)

[2]) „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Steh­len und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen. 12. Wie sie gar viele ruch­lose Taten der Götter erzählten: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Be­trü­gen. 13. [Ho­mer war älter als Hesiod.] 14. Doch wähnen die Sterb­lichen, die Götter würden geboren und hät­ten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie. 15. Doch wenn die Och­sen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Wer­ke bilden wie die Menschen, so wür­den die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ma­len und solche Körper bil­den, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte. 16. Die Äthiopen [behaupten, ihre Götter] seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.".- "Diese wunderbaren Verse des Xenophanes zeigten mir, dass er meine erkenntnistheoretischen Einsichten vor 2500 Jahren vor­­­weggenommen hat - jene Einsichten, die ich im Win­ter 1919-1920 für mich formulierte und die in diesem Buch zuerst entwickelt wurden: ich meine vor allem den Fal­li­bilismus, der für uns un­über­­wind­bar ist; und die absolute und objektive Wahrheit, die wir anstreben und manch­mal sogar finden, aber ohne je sicher wis­sen zu können, dass wir sie in der Tat gefunden haben. Das alles wuss­­­te Xe­no­phanes. Es gibt Beispiele dafür, dass die Fehlbarkeit unseres Wissens oft aus unserem Anthropomorphismus ent­springt, aber dass unsere Fehler trotzdem verbessert werden können." (Pop­per 1994b:102) Diese Verse waren Hegel nicht un­bekannt. Sein Schüler Feuerbach hatte sie zu einem Programm der Religi­ons­kri­tik ausgebaut, unter deren Ver­dikt schließlich überhaupt die idea­li­stische Philosophie geriet (Steigerwald 1998a).

[3]) „Mein hauptsächlicher Gegenstand ist das Christentum, ist die Religion, wie sie unmittel­ba­res Objekt, unmittelbares Wesen des Menschen ist.“ (Feuerbach 1849a:19) - "Feuerbachs Natura­lis­mus und Atheismus stehen für ei­nen umfassenden Naturbegriff, der die körperliche Ver­fasstheit aller Lebewesen und ihr Unterworfensein unter Raum und Zeit ernst nimmt und von dieser Grund­­la­ge aus die Religion als Menschenwerk, als Wunsch- und Angstgebilde entzaubert." (Kahl 1997a); vgl. zu "Anthropologie" (ROM_ANT 1998)

[4]) zu Webers diesbezüglichem Forschungsprogramm siehe Baumgarten (1964a:459ff).

[5]) 1866 schreibt Feuerbach an Dr. J. Duboc: „Sie haben ferner nicht beachtet, dass nicht der Ei­gensinn, wenn auch philo­so­phi­scher Ei­gen­sinn, sondern der volkstümliche, wenn auch aus un­serm Volke ver­schwindende, oder viel­mehr menschheitliche Gemeinsinn die Basis meines Den­kens ist, dass ich mich überall auf Tat­sachen, Äußerungen, Offenbarungen der Mensch­heit, nicht dieses oder jenes Philosophen stüt­ze, dass folglich auch mein Mo­ral­prinzip nur die Analyse der ur­alten, nicht nur alt- und neu­testa­ment­li­chen, son­dern menschheitlichen Ansprüche ist.“ (1874a:82)

[6]) vgl. dazu Giddens (1971a:205ff)

[7]) "Stirner hat recht, wenn er 'den Menschen' Feuerbachs, wenigstens des 'Wesens des Christentums' verwirft; der feuerbachsche 'Mensch' ist von Gott abgeleitet, Feuerbach ist von Gott auf den 'Men­schen' gekommen, und so ist 'der Mensch' allerdings noch mit einem theologischen Heiligenschein der Abstraktion bekränzt. Der wahre Weg, zum 'Menschen' zu kommen, ist der umgekehrte. Wir müs­sen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen In­di­viduum ausgehen, um nicht, wie Stirner, drin stecken zu bleiben, sondern uns von da aus zu 'dem Menschen' zu erheben. 'Der Mensch' ist immer ei­ne Spukgestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine Basis hat. Kurz, wir müssen vom Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsre Gedanken und namentlich un­ser 'Mensch' etwas Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft à la Hegel." (Engels an Marx, 19.11.1844, MEW 27:12)

[8]) "Ich kann also von der Selbstheit, sie absolut gedacht - Gott ist das absolute Selbst - nicht unmittelbar zu ich­rem Ge­gen­teil übergehen; ich muss diesen Widerspruch einleiten, vorbereiten, mä­ßigen durch das Bewusst­sein eines We­sens, welches zwar auch ein anderes ist und insofern mir die Anschauung meiner Beschränkt­heit gibt, aber so, dass es zugleich mein Wesen bejaht, mein We­sen mir vergegenständlicht. Das Bewusstsein der Welt ist ein demütigen­des Bewusstsein - die Schöpfung war ein »Akt der Demut« -, aber der erste Stein des Anstoßes, an dem sich der Stolz der Ichheit bricht, ist das Du, das andere Ich. Erst stählt das Ich seinen Blick in dem Auge eines Du, ehe es die Anschauung eines Wesens erträgt, welches ihm nicht sein eignes Bild zurückstrahlt. Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. Ich bin und fühle mich abhängig von der Welt, weil ich zuerst von andern Menschen mich abhängig fühle. Bedürfte ich nicht des Menschen, so bedürfte ich auch nicht der Welt. Ich versöhne, ich befreun­de mich mit der Welt nur durch den andern Men­schen. Ohne den Andern wäre die Welt für mich nicht nur tot und leer, sondern auch sinn- und ver­standlos. Nur an dem Andern wird der Mensch sich klar und ]selbstbewußt; aber erst, wenn ich mir selbst klar, wird mir die Welt klar. Ein ganz für sich allein existierender Mensch wür­de sich selbst­los und un­ter­schieds­los in dem Ozean der Natur verlieren; er würde weder sich als Men­schen noch die Natur als Natur er­fas­sen. Der erste Gegenstand des Menschen ist der Mensch. Der Sinn für die Natur, der uns erst das Be­wusst­sein der Welt als Welt erschließt, ist ein späteres Er­zeugnis; denn er entsteht erst durch den Akt der Abson­de­rung des Menschen von sich." (Feu­erbach, Wesen des Christentums:184.).

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