Was politischen Konformismus angeht, so hat Popper den Staatsphilosophen Aristoteles oder Hegel nicht viel vorzuwerfen. Sowohl Hegel als auch Popper bestätigen als real existierende politische Philosophen das empirische Gesetz:
Keine Philosophie kann staatstragend und kritisch zugleich sein.
Es ist das besondere „Berufsrisiko" der Sozialwissenschaftler, das er mit den anderen Trägern von Herrschaftswissen wie Juristen und Ökonomen („Mandarinen") teilt, dass ihre Karrieren politischen und/oder ökonomischen Sanktionen in besonders hohem Grade ausgesetzt sind und davon abhängen (Schelsky 1967a:46). Solche Karrierezwänge pflegen sich auch der damit verbundenen Rolle des Wissenschaftlers mitzuteilen.[1])
Wissenschaft soll, dazu in Gegensatz, eine Ausnahme, der Intention nach ein Freiraum für Kritik darstellen:
„Dank ihrer Wissensordnung und Infrastruktur der Kritik wird die Wissenschaft mit dem informationellen Fluch aller wohletablierten Institutionen - dem Bestätigungsfehler - besser fertig als andere Einrichtungen. Diese Vorzüge sind allerdings in zweifacher Hinsicht eng begrenzt: zum einen sektoral auf das Betätigungsfeld der wertfreien Erkenntnis; zum anderen funktional auf deren Erzeugung und Veröffentlichung. Jeder Schritt darüber hinaus in Richtung auf Weltanschauungsfragen, Anwendungsprobleme oder Beratungsaufgaben führt zu deutlichen Abstrichen, die bis zum Umschlag ins Gegenteil gehen können." (Spinner 1994a:121)
Es sei denn, man versucht sich als wissenschaftlicher Existenzgründer im Bereich der Massenmedien und/oder wird gleich zum politischen Unternehmer wie Marx, Engels oder Lenin. Nur wer von den Systemen der Gratifikation wie der Macht und Herrschaft wirksam ausgeschlossen [2]) ist, kann sich den Luxus der Gedankenfreiheit [3]) und offen geäußerter Kritik leisten.
Wohl noch kein Wissenschaftshistoriker oder -soziologe hat sich mit der Frage befasst, was geschehen wäre, wenn Feuerbach seinen Lehrstuhl erhalten oder nach Amerika ausgewandert wäre; oder Marx die von ihm angestrebte Assistentenstelle an der Universität Bonn [4]) oder später die erwünschte preußische Staatsangehörigkeit wiedererlangt hätte. Möglicherweise wäre das für Preußens Machtelite das kleinere Übel gewesen. Mit dem Entstehen des Kapitalismus bietet sich dem Intellektuellen neben dem Bildungswesen die alternative Laufbahn eines politischen Unternehmers oder Medienproduzenten. Michels unterschied insofern zweierlei Klassen von Intellektuellen:
„Die eine setzt sich aus denen zusammen, welchen es geglückt ist, an der Staatskrippe ein Unterkommen zu finden, während die andere aus denen besteht, die (...) die Festung belagert haben, ohne dass es ihnen gelungen wäre, in sie einzudringen.“ (Michels 1970a:162f)
Der deutsche Idealismus insbesondere ist wohl nicht zu verstehen ohne seine soziale Grundlage, dem deutschen Bildungsbürgertum, das ganze Ahnenreihen von Gelehrten und Gebildeten hervorgebracht hat und fortwährend mit Adel und Besitzbürgertum um die gesellschaftliche Vorrangstellung kämpfte (Batscha 1977a: 34). Diese gesellschaftspolitische Konfliktkonfiguration kommt besonders deutlich zur Ausprägung im „Geschlossenen Handelsstaat“ (Fichte 1977a), wo ein ständisch-bildungselitäres Gesellschaftsmodell und der jakobinische Gleichheitsgedanke eine kuriose Ehe eingegangen sind. Der Gegensatz von Besitz- und Bildungsbürgertum, Leistungs- und Wertelite kehrt bei Parsons wieder als das Verhältnis von Wirtschaftselite und den professions (Gouldner 1971a:320).
Im Falle von Bildungsbürgertum und Intellektuellen (im Spannungsfeld angesiedelt zwischen Dienstklasse und revolutionärer Avantgarde) ist im sozialen Mechanismus ein gewisser Zusammenhang zur Ironie der sozialen Kontrolle zu vermuten, etwa wie diese von Marx (1981a) analysiert wurde. Die regierende politische Elite ruft gegen ihre erklärte Absicht durch eine Exklusionspolitik [5]) eine systemoppositionelle, d.h. revolutionäre Gegenelite [6]) hervor. Wie „Das Kommunistische Manifest“ so apokalyptisch wie bildhaft prophezeit hatte: Der Kapitalismus produziert seine eigenen Totengräber. Ursächliche Bedingung aber ist der Wettbewerb, der, so sagen Sozialisten wie Liberale in gar nicht so seltener Einmütigkeit, dem Kapitalismus wesentlich inhäriert. Und wie nach dem Ausgang des Systemwettbewerbs des Kalten Krieges hinlänglich deutlich sichtbar gemacht hat, wird der politische Impetus des Marxismus nicht durch die Propaganda des Realsozialismus, sondern durch die sozialen Bedingungen des Kapitalismus am Leben erhalten und gefördert [7]).
Popper war, was dies betrifft, ebensosehr eine Stütze seines Staates wie Hegel. Auf diese Weise ist auch recht simpel das Rätsel aufgelöst, warum wir von Aristoteles nichts über die politische Vormachtstellung Mazedoniens hören, obwohl er selber live dabei war: Er ist Philosoph geblieben und hat geschwiegen.
Der Sozialphilosophie bzw. der Soziologie werden häufig restaurative Tendenzen nachgesagt, die in Wirklichkeit nichts weiter als Ausdruck der restaurativen Tendenzen der Gesellschaft selbst darstellen, die einer Sehnsucht nach der Wiederkehr einer stabilen Ordnung Raum geben, nachdem sich in politischen und militärischen Wirren ihre Energien erschöpft haben (Schelsky (1967a:58). Nun ist gerade freiwillige und kostenlos verteilte Kritik an seinen lieben Nächsten meist ein Kollektivgut, das seinem Lieferanten keinen, wenn nicht sogar negativen Nutzen einträgt, wie jeder Kritiker aufgrund seiner eigenen ihm zuteil werdenden Lebenserfahrung (soweit diese ihm in ausreichendem Maße zu machen erlaubt wird) zu bestätigen weiß und schon Sokrates in seiner berühmten Verteidigungsrede überzeugend formuliert hat:
„Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, dass meine Angelegenheiten zurückstehen, dass ich aber immer die eurigen betreibe ..." (Platon, Des Sokrates Verteidigung:22)
So gesehen ist rationale Kritik zumindest in ihrem Entstehen irrational oder doch, zumindest ökonomisch betrachtet, ein rechtes Wunder. [8]) Spinner (1978a:119ff) findet die Naivität Kritischer Rationalisten schwerlich zu verzeihen, wenn sie normative Problemlösungen, die vielleicht gerade noch für den Kleingruppenbereich funktionieren mögen (wie Entlastung von existentiellen Entscheidungen, Privilegierung der Rolle des Kritikers, etc.), unbesehen als empfehlenswerten Lebensstil für alle möglichen Bereiche der Gesellschaft oder gar für die Gesellschaft insgesamt propagieren. Was in der Methodologie richtig sein mag, muss allein deswegen nicht schon auch für Politik eine brauchbare Lösung darstellen.
[1]) „Offensichtlich werden Menschen, die mit bestehenden Zuständen institutionell verflochten sind, im Allgemeinen zögern, an diesen Zuständen Kritik zu üben." (Adorno 1971a:14)
[2]) "Attitudes toward their superiors are continually influenced by the awareness - sometimes focal and sometimes only subsidiary - that superiors can give or withhold at will things that men greatly want, quite apart from their own agreement or consent, and that crucial gratifications depend upon allocations and decisions by their superiors. It is the sheer ability of the powerful to do this, quite apart from their right to do so, that is an independent, ever-present element in the servile attitudes that subordinates often develop toward their superiors. Legitimacy and 'authority' never eliminates power; they merely defocalize it, make it latent." (Gouldner 1971a:294)
[3]) Wird Gedankenfreiheit organisiert durch die Regelung der Frage, wer für die finanziellen Folgen aufkommt, wenn die Kirchen einem als Theologieprofessor lehrenden Beamten die Lehrbefähigung entziehen? Wie die FAZ vom 26.11.1999, S.4 meldet, hoffen die 5 ostdeutschen Bischöfe weiterhin, dass die Theologische Fakultät Erfurt (die bisher einzige theologische Ausbildungsstätte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR) in die Universität der thüringischen Landeshauptstadt eingegliedert wird. Der Steuerzahler trägt nicht nur die Kosten verfehlter Unternehmenspolitik, sondern auch die der kirchlichen Meinungsunterdrückung. "opportune, importune - ob man es hören will oder nicht", heißt es bei Paulus 2, Tim 4,2. Wann wird auch Theologieprofessoren das Recht auf die unbefleckte Empfängnis kritischer Offenbarungen zuerkannt?!
[4]) Das Bonner Stadtgebiet war bereits in der Altsteinzeit (ca. 10 000 v. Chr.) besiedelt, was ein Skelettfund im Stadtteil Oberkassel bezeugt. Tacitus erwähnt ein Lager römischer Legionäre. Von 1798 bis 1814 war Bonn französisch, hiernach preußische Rheinprovinz. Die Universität wurde 1818 gegründet; unter den ersten Professoren sah man August Wilhelm Schlegel und Ernst Moritz Arndt. Sehenswürdigkeit: die Studentenliegewiese, 1720 als Hofgarten von Robert de Cotte angelegt.
[5]) "Der operative politische Gebrauchswert eines zeitgemäß weiterentwickelten Bildungsbegriffes in humanistischer Tradition liegt jedoch darin, alle institutionellen Grenzen und hierarchischen Gliederungsprinzipien des überlieferten Bildungssystems als künstlich und willkürlich radikal in Frage zu stellen. In dem Maße, wie die genannte Zielsetzung auf Zustimmung stößt, werden Unterscheidungen und vertikale Differenzierungen zwischen allgemeiner, beruflicher, wissenschaftlicher, politischer und kultureller Bildung - und damit auch die auf diese Weise produzierten sozialen Ausschließungsmechanismen - hinfällig. Thematische und soziale Öffnung, gegenseitige Durchlässigkeit aller Bildungsformen in alle Richtungen wären gesellschaftlich erforderlich. Letzte Konsequenz ist folgerichtig die Abschaffung der Hochschulen: nicht als Bildungseinrichtungen sondern als Hochschulen." (Bultmann 1997b)
[6]) In London hat man stattdessen die LSE gegründet und gefördert. Da sich der Zwang zur Revolution hier schon lange nicht mehr ergab, verfügt England weltweit gesehen über die konservativsten Radikalen, wobei sich die Reaktion häufig daran ihren Mut kühlen konnte, den Universitäten die notwendigen finanziellen Mittel zu beschneiden. Schon hieran kann man aber erkennen, dass die Begriffe „Revolution" oder „Reform" notwendigerweise zur belanglosen ideologischen Phrase verkommen, wenn man diese historisch-politischen Kategorien ohne Bezug auf die jewielige konkrete historisch-gesellschaftliche Situation (von Preußen über das zaristische Russland nach USA oder Neuseeland, von Platons Athen bis hin zum Berliner Reichstag) verwendet.
[7]) „Why are such bad things happening to so many good people? The secular downtrend in factory employment began in the 1980s in response to fierce global competitive pressures. The end of the Cold War increased the competitive pressures." (Yardeni 1993#23:6)
[8]) "Wie glücklich wäre ich, wenn ich die Wahrheit oder das, was ich dafür halte, verbreiten könnte, ohne einem Menschen dadurch wehe zu tun." (Börne 1964a:319)
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