Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Rolle des Staatsphilosophen

„Vertreter der skeptischen Position untergraben, nolens volens, die Grundlagen der Offenen Gesellschaft ...“ (Radnitzky 1976a:24ff)

Was politischen Konformismus angeht, so hat Popper den Staatsphilosophen Ari­stoteles oder Hegel nicht viel vorzuwerfen. Sowohl Hegel als auch Popper bestä­ti­gen als real existie­ren­de politische Philosophen das empirische Gesetz:

Keine Philosophie kann staatstragend und kritisch zugleich sein.

Es ist das besondere „Berufsrisiko" der Sozialwissenschaftler, das er mit den an­deren Trägern von Herrschaftswissen wie Juristen und Ökonomen (Mandarinen") teilt, dass ihre Karrieren politischen und/oder ökonomischen Sanktionen in beson­ders hohem Grade ausgesetzt sind und davon ab­hän­gen (Schelsky 1967a:46). Sol­che Karrierezwänge pflegen sich auch der damit ver­bun­denen Rol­le des Wissen­schaft­lers mitzuteilen.[1])

Wissenschaft soll, dazu in Gegensatz, eine Ausnahme, der Intention nach ein Frei­raum für Kritik darstellen:

„Dank ihrer Wissensordnung und Infrastruktur der Kritik wird die Wissen­schaft mit dem informationellen Fluch aller wohletablierten Institutionen - dem Bestäti­gungsfehler - besser fertig als andere Einrichtungen. Diese Vorzüge sind aller­dings in zweifacher Hinsicht eng begrenzt: zum einen sektoral auf das Be­­ti­gungsfeld der wertfreien Erkenntnis; zum anderen funktional auf deren Er­zeu­gung und Ver­öffentlichung. Jeder Schritt darüber hinaus in Richtung auf Welt­an­schau­ungs­fra­gen, Anwendungsprobleme oder Beratungsaufgaben führt zu deutlichen Abstri­chen, die bis zum Umschlag ins Gegenteil gehen können." (Spinner 1994a:121)

Es sei denn, man versucht sich als wissenschaftlicher Existenzgründer im Be­reich der Mas­sen­me­dien und/oder wird gleich zum politischen Unternehmer wie Marx, Engels oder Lenin. Nur wer von den Systemen der Gratifikation wie der Macht und Herrschaft wirksam aus­ge­schlos­sen [2]) ist, kann sich den Luxus der Ge­dankenfreiheit [3]) und offen geäußerter Kri­tik leisten.

Wohl noch kein Wissenschaftshistoriker oder -soziologe hat sich mit der Frage be­fasst, was ge­schehen wäre, wenn Feuerbach seinen Lehrstuhl erhalten oder nach Amerika aus­ge­wandert wä­re; oder Marx die von ihm angestrebte As­si­sten­ten­stelle an der Universität Bonn [4]) oder spä­ter die er­wünschte preußische Staats­angehörigkeit wiedererlangt hätte. Mögli­cher­weise wä­re das für Preu­ßens Machtelite das kleinere Übel gewesen. Mit dem Entstehen des Ka­pi­talismus bie­tet sich dem In­tel­lek­tu­ellen neben dem Bildungswesen die alternative Lauf­bahn eines politi­schen Unternehmers oder Me­dien­produzenten. Michels unter­schied insofern zwei­er­lei Klassen von In­tel­lek­tuellen:

„Die eine setzt sich aus denen zusammen, welchen es geglückt ist, an der Staats­krippe ein Unterkommen zu finden, während die andere aus denen be­steht, die (...) die Festung belagert haben, ohne dass es ih­nen gelungen wäre, in sie einzudrin­gen.“ (Michels 1970a:162f)

Der deutsche Idealismus insbesondere ist wohl nicht zu verstehen ohne seine so­ziale Grund­lage, dem deutschen Bildungsbürgertum, das ganze Ahnenreihen von Ge­lehrten und Ge­bil­de­ten hervor­gebracht hat und fortwährend mit Adel und Be­sitz­bürgertum um die gesell­schaftli­che Vor­rang­stel­lung kämpfte (Batscha 1977a: 34). Diese gesellschaftspolitische Konflikt­kon­figu­ra­ti­on kommt be­son­ders deutlich zur Aus­prägung im „Geschlossenen Handelsstaat“ (Fichte 1977a), wo ein stän­disch-bil­dungselitäres Gesell­schaftsmodell und der jakobinische Gleich­heits­gedan­ke eine kuriose Ehe ein­gegangen sind. Der Ge­gensatz von Besitz- und Bildungs­bür­ger­tum, Leistungs- und Wertelite kehrt bei Parsons wieder als das Verhältnis von Wirt­schafts­eli­te und den professions (Gouldner 1971a:320).

Im Falle von Bildungsbürgertum und Intellektuellen (im Spannungsfeld ange­sie­delt zwischen Dienst­klasse und revolutionärer Avantgarde) ist im sozialen Mecha­nismus ein gewisser Zusam­men­hang zur Ironie der sozialen Kontrolle zu vermuten, etwa wie diese von Marx (1981a) ana­ly­siert wur­de. Die regierende politische Elite ruft gegen ihre erklärte Absicht durch eine Ex­klu­si­ons­poli­tik [5]) eine system­oppo­sitionelle, d.h. revolutionäre Gegenelite [6]) hervor. Wie „Das Kom­muni­sti­sche Ma­nifest“ so apokalyptisch wie bildhaft prophezeit hatte: Der Kapitalis­mus pro­du­ziert sei­ne eigenen Totengräber. Ursächliche Bedingung aber ist der Wettbewerb, der, so sagen So­zi­alisten wie Liberale in gar nicht so seltener Einmütigkeit, dem Ka­pi­talismus we­sentlich in­häriert. Und wie nach dem Ausgang des Systemwett­be­werbs des Kalten Krieges hinlänglich deutlich sicht­bar ge­macht hat, wird der po­li­tische Impetus des Marxismus nicht durch die Pro­pa­ganda des Real­sozi­a­lis­mus, sondern durch die sozialen Bedingungen des Kapitalismus am Le­ben er­hal­ten und ge­för­dert [7]).

Popper war, was dies betrifft, ebensosehr eine Stütze seines Staates wie Hegel. Auf diese Weise ist auch recht sim­pel das Rätsel aufgelöst, warum wir von Aristo­teles nichts über die politi­sche Vormacht­stel­lung Mazedoniens hören, obwohl er sel­ber live da­bei war: Er ist Philosoph ge­blie­ben und hat geschwiegen.

Der Sozialphilosophie bzw. der Soziologie wer­den häufig restaura­ti­ve Ten­denzen nachgesagt, die in Wirklichkeit nichts weiter als Ausdruck der restau­ra­tiven Ten­den­zen der Gesellschaft selbst darstellen, die einer Sehn­sucht nach der Wie­der­kehr einer stabilen Ordnung Raum geben, nachdem sich in politischen und militä­ri­schen Wirren ihre Ener­gien erschöpft haben (Schelsky (1967a:58). Nun ist gerade frei­willige und kostenlos verteilte Kritik an seinen lieben Nächsten meist ein Kol­lek­tiv­gut, das seinem Lieferanten keinen, wenn nicht sogar negativen Nutzen ein­trägt, wie je­der Kritiker aufgrund seiner eigenen ihm zuteil werdenden Lebens­er­fah­rung (so­weit diese ihm in aus­reichendem Maße zu machen erlaubt wird) zu be­stä­tigen weiß und schon Sokrates in seiner be­rühm­ten Ver­tei­di­gungs­rede über­zeu­gend formuliert hat:

„Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe und so viele Jahre schon ertrage, dass meine An­ge­legen­heiten zurückstehen, dass ich aber immer die euri­gen betreibe ..." (Platon, Des Sokrates Verteidigung:22)

So gesehen ist rationale Kritik zumindest in ihrem Entstehen irrational oder doch, zumindest öko­nomisch betrachtet, ein rechtes Wunder. [8]) Spinner (1978a:119ff) findet die Naivität Kritischer Ratio­na­listen schwer­lich zu ver­zeihen, wenn sie nor­ma­tive Pro­blem­lö­sungen, die vielleicht gerade noch für den Klein­grup­penbereich funktionieren mögen (wie Entlastung von existentiellen Entscheidungen, Privile­gie­rung der Rolle des Kritikers, etc.), unbesehen als emp­fehlenswerten Lebensstil für alle mög­li­chen Be­reiche der Ge­sellschaft oder gar für die Gesellschaft insgesamt propagieren. Was in der Me­thodologie richtig sein mag, muss allein deswegen nicht schon auch für Politik eine brauch­bare Lösung darstellen.



[1]) „Offensichtlich werden Menschen, die mit bestehenden Zuständen institutionell verfloch­ten sind, im All­ge­mei­nen zögern, an diesen Zuständen Kritik zu üben." (Adorno 1971a:14)

[2]) "Attitudes toward their superiors are continually influenced by the awareness - sometimes focal and someti­mes only subsidiary - that superiors can give or withhold at will things that men greatly want, quite apart from their own agreement or consent, and that crucial gratifications de­pend upon allocations and decisions by their su­pe­riors. It is the sheer ability of the powerful to do this, quite apart from their right to do so, that is an in­de­pen­dent, ever-present element in the ser­vile attitudes that subordinates often develop toward their superiors. Le­gi­ti­ma­cy and 'autho­rity' ne­ver eliminates power; they merely defocalize it, make it latent." (Gouldner 1971a:294)

[3]) Wird Gedankenfreiheit organisiert durch die Regelung der Frage, wer für die finanziellen Fol­gen aufkommt, wenn die Kirchen einem als Theologieprofessor lehrenden Beamten die Lehr­befähigung entziehen? Wie die FAZ vom 26.11.1999, S.4 meldet, hoffen die 5 ostdeutschen Bi­schö­fe weiterhin, dass die Theologische Fakultät Erfurt (die bisher einzige theologische Ausbil­dungs­stätte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR) in die Universität der thü­rin­gi­schen Landes­haupt­stadt eingegliedert wird. Der Steuerzahler trägt nicht nur die Kosten verfehlter Unter­neh­mens­po­li­tik, son­dern auch die der kirchlichen Meinungsunterdrückung. "opportune, importune - ob man es hören will oder nicht", heißt es bei Paulus 2, Tim 4,2. Wann wird auch Theologiepro­fesso­ren das Recht auf die unbefleckte Emp­fäng­nis kritischer Offenbarungen zuerkannt?!

[4]) Das Bonner Stadtgebiet war bereits in der Altsteinzeit (ca. 10 000 v. Chr.) besiedelt, was ein Skelettfund im Stadtteil Oberkassel bezeugt. Tacitus erwähnt ein Lager römischer Legionäre. Von 1798 bis 1814 war Bonn französisch, hiernach preußische Rheinprovinz. Die Uni­ver­sität wurde 1818 gegrün­det; unter den er­sten Professoren sah man August Wilhelm Schlegel und Ernst Moritz Arndt. Sehens­wür­dig­keit: die Studen­ten­lie­ge­wiese, 1720 als Hofgarten von Ro­bert de Cotte ange­legt.

[5]) "Der operative politische Gebrauchswert eines zeitgemäß weiterentwickelten Bildungsbe­grif­fes in huma­nisti­scher Tradition liegt jedoch darin, alle institutionellen Grenzen und hierar­chi­schen Gliederungs­prinzipien des über­lie­ferten Bildungssystems als künstlich und willkürlich radikal in Frage zu stellen. In dem Maße, wie die genannte Zielsetzung auf Zustimmung stößt, werden Un­terscheidungen und vertikale Dif­ferenzierungen zwischen allgemei­ner, beruflicher, wissen­schaft­licher, politischer und kultureller Bildung - und damit auch die auf diese Weise produ­zier­ten sozialen Ausschließungsmechanismen - hinfällig. Thema­tische und soziale Öffnung, gegenseitige Durchläs­sig­keit aller Bildungsformen in alle Richtungen wären gesellschaftlich erforderlich. Letzte Konsequenz ist folge­rich­tig die Abschaffung der Hochschulen: nicht als Bildungseinrichtungen son­dern als Hochschulen." (Bultmann 1997b)

[6]) In London hat man stattdessen die LSE gegründet und gefördert. Da sich der Zwang zur Revolution hier schon lange nicht mehr ergab, verfügt England weltweit gesehen über die konser­vativsten Radikalen, wobei sich die Reaktion häufig daran ihren Mut kühlen konnte, den Univer­si­täten die notwendigen finanziellen Mittel zu beschnei­den. Schon hieran kann man aber erkennen, dass die Begriffe „Revolution" oder „Reform" notwendigerweise zur be­langlosen ideologischen Phrase verkommen, wenn man diese historisch-politischen Kategorien ohne Bezug auf die je­wie­lige kon­krete historisch-gesellschaftliche Situation (von Preußen über das zaristische Russland nach USA oder Neuseeland, von Platons Athen bis hin zum Berliner Reichstag) verwendet.

[7]) „Why are such bad things happening to so many good people? The secular downtrend in fac­tory em­ploy­ment began in the 1980s in response to fierce global competitive pressures. The end of the Cold War increased the com­petitive pressures." (Yardeni 1993#23:6)

[8]) "Wie glücklich wäre ich, wenn ich die Wahrheit oder das, was ich dafür halte, verbreiten könnte, ohne einem Men­schen dadurch wehe zu tun." (Börne 1964a:319)

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