Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Vernünftigkeit des Bestehenden

Das Zitat

Popper greift kurzerhand, Hegel politisch einzuordnen, auf diese bekannte Stelle in der „Rechts­phi­loso­phie" zurück:

"Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In die­ser Über­zeu­gung steht jedes unbefangene Bewusstsein, wie die Philoso­phie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus, als des natürlichen. Wenn die Reflexion, das Ge­fühl oder welche Gestalt das subjektive Bewusst­sein habe, die Gegenwart für ein Eitles ansieht, über sie hin­aus ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eitlen, und weil es Wirk­lich­keit nur in der Ge­gen­wart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit. Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in dem Meinen ist, so ge­währt hingegen die Philosophie die Ein­sicht, dass nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitli­chen und Vor­über­ge­henden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu er­kennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in sei­ner Wirklichkeit zu­gleich in die äu­ße­re Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reich­tum von Formen, Erschei­nungen und Ge­stal­tun­gen hervor, und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewusstsein zu­nächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn eben­so in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die unendlich man­nig­faltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Äußerlichkeit, durch das Schei­nen des Wesens in sie, bilden, dieses unendli­che Material und seine Re­gu­lierung, ist nicht Gegenstand der Phi­losophie." (Hegel 1930a:14)

Bestätigt Hegel denn damit aber nichts weiter als die These:

Al­les Be­ste­hende beinhaltet notwendi­ger­weise etwas Vernünftiges?

Sonst könnte es nicht exi­stie­ren. An dem rationalen Kern des gegenwärtig Exi­stie­renden muss daher auch jede rationale Politik an­set­zen: Hic Rhodus, hic sal­ta! Hegel selbst hat sich gegen das gewöhnliche Miss­verstehen sei­ner Sentenz in der Ein­lei­tung, § 6 seiner "Enzyklopädie" aus­drück­lich verwahrt.[1]) Adolphi (1989a:1) weist auf eine von Hen­rich 1983 her­aus­gegebene Vorlesungsmitschrift aus den Jahren 1819/20 hin, die be­le­ge, dass der betreffende Ausspruch nicht statisch, sondern dy­na­misch zu begreifen sei: "Was ver­nünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig." Doch diese Argumentation grieft noch viel zu kurz.

Des Pudels Kern liegt in Hegels Un­terscheidung zwischen "Realität" und "Wirk­lich­keit" [2]).

"Die ganze Realität lässt sich vernünftig erkennen und verändern; unter die­sen Voraussetzungen enthält sie nichts Unvernünftiges oder Nicht-Ideelles." (Sarlemijn 1971a:23)

In deutlichem Unterschied dazu vertreten Popper wie Hayek [3]), dass alles, weil es existie­re, das Vor­urteil des Ver­nünftigen für sich habe und die Änderung des Bestehenden stets mit dem grö­ßeren Risiko be­haf­tet und daher in der Regel ratio­nal nicht vertretbar sei. Doch können wir uns trösten:

"... unsere offene Gesellschaft ist die beste und reformfreudigste, die es je ge­ge­ben hat." (Popper 1992a:XIV)

So wie Luther in seiner Attacke auf das Papsttum nicht sonderlich um Fragen des Staates ge­kümmert hatte, so Popper in seinem Ausfall gegen die totalitären Feinde der Freiheit für Fragen der Ausge­staltung von Demokratie. Derartige blinde Flecken einer Theorie lassen sich hernach trefflich apologetisch benutzen, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat.

Wer anderen so übereilt Angst vor dem Chaos be­scheinigt, der muss erst einmal das Hobbes'­sche „problem of order" (Parsons 1937a) [4]) ge­löst haben. Denn bei all­dem wird von Hayek im­plizit eine harmonische Ge­samt­ent­wicklung des Systems unter­stellt. Wo­her nimmt aber eine sol­che Apologetik bestehender sozialer und poli­ti­scher Ver­hält­nisse die Krite­rien der Beur­tei­lung? Es dreht sich hier mehr um eine positiv ge­wer­tete Bindung an nur residual erfasste „Tra­di­tion" denn um eine sozio­lo­gi­sche Analyse der Rol­le derselben.

„In dieser Identität des Ansichseins und des Gesetztseins hat nur das als Recht Verbindlichkeit, was Gesetz ist. Indem das Gesetztsein die Seite des Da­seins aus­macht, in der auch das Zufällige des Eigenwillens und anderer Beson­derheit eintre­ten kann, so kann das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem ver­schieden sein, was an sich Recht ist." (Hegel, Rechtsphilosophie:314ff)

Die Rechtfertigung des Positiven im Gegensatz zum Vernünftigen war auch Be­streben der hi­sto­ri­schen Rechtsschule [5]), mit welcher Marx sich auseinan­der­setz­te. Weniger scheint es um eine rationale Bewertung derselben zu gehen, denn Hayek nennt keine geeignete Kriterien, Tra­ditionen zu beurteilen. Man kann hier sogar eine zirkuläre Argumentation vom Er­folg in der Evo­lution auf die bessere An­gepasstheit des Erfolgreichen oder vom evolu­ti­ons­mäßig Be­gün­stig­ten auf das Gül­ti­ge einen naturalistischen Fehlschluss vermuten (Voigt 1990a:5). Die syste­ma­ti­sche Unschärfe des Sozialdarwinis­mus zeigt sich schon darin, dass er 1. die Aus­lese nicht über das Indi­vi­du­um, son­dern über das sta­tistische Kollektiv stattfinden lässt und 2. dem Individuum eher Macht als Leben lieb ist (Nietzsche). Die reine An­betung dessen, was sich als erfolgreich dar­stellt, entpuppt sich als das wahre rationale der sog. „Markt­ratio­na­li­tät“.

Hegels positiver Konservativismus ist jedoch nicht einfach persönliche Meinung des Autors, nicht nur global schon durch den Idealismus seines Systems vorein­ge­stellt, sondern lässt sich auch präzise dort verorten, wo es um das Verhältnis von Denken und Gegenständlichkeit geht. Marx, anders als Popper, verstand dies de­tail­liert herauszuarbeiten:

„Das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein ist in seinem Anderssein als sol­chem bei sich. (...) Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder sei­nes nur scheinbaren Kritizismus:... Also die Vernunft ist bei sich in der Un­ver­nunft als Unvernunft. (...) Von einer Akkommodation Hegels gegen Religion, Staat etc. kann also keine Rede mehr sein, da diese Lüge die Lüge seines Prin­zips ist. (...) Bei Hegel ist die Negation der Negation daher nicht die Bestätigung des wah­ren Wesens, eben durch die Negation des Scheinwesens, sondern die Be­stä­ti­gung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens in seiner Ver­nei­nung oder die Verneinung dieses Scheinwesens als eines gegen­ständ­li­chen, au­ßer dem Menschen hausenden und von ihm unabhängigen Wesens und sei­ne Verwandlung in das Subjekt." (Marx ÖPM:580f)

Eine weitere interessante Interpretationshypothese besteht darin, Hegels Positi­vis­mus im Sin­ne eines nietzeanischen amor fati [6]) zu lesen.



[1] ) „Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den em­pha­tischen Namen ei­nes Wirklichen verdienen..." (Hegel 1930b:37)

[2]) "In dem meisten Texten Hegels steht 'das Reale' für 'das Endliche', 'das Getrennte', das 'räumlich Auseinander- und zeitlich Nacheinanderseiende'. Der Begriff 'Wirklichkeit' dagegen erhält in der Kategori­en­hierarchie einen besonderen Inhalt, der im Zusammenhang mit 'Möglichkeit' bestimmt wird. 'Das Wirkliche' ist für Hegel primär 'dasjenige, was wirkt'; es impliziert darum zwangnsläufig eine Bezie­hung zur Kausalität und Notwendigkeit." (Sarlemijn 1971a:25)

[3] ) „Die größte Verschiedenheit in den beiden Ansichten besteht jedoch in ihren Vorstellun­gen von der Rolle der Überlieferungen und dem Wert all der anderen Ergebnisse der durch die Zeit­alter hindurch vor sich gehenden un­bewussten Entwicklung. Es wäre wohl nicht unge­recht­fer­tigt zu sagen, dass die rationalistische Einstellung hier fast all den speziellen Ergebnissen der Frei­heit entgegentritt, die der Freiheit ihren Wert verleihen. Wer meint, dass alle nützlichen Insti­tu­ti­o­nen bewusst erfunden wurden, und sich nicht vorstellen kann, dass etwas, das menschlichen Zwe­cken dient, nicht bewusst geplant worden ist, ist fast mit Notwendigkeit ein Feind der Freiheit. Für ihn bedeutet Freiheit Chaos. Für die empiristische evolutionäre Überlieferung andererseits liegt der Wert der Freiheit hauptsäch­lich in der Gelegenheit für das Entstehen des Ungeplanten und das vor­teilhafte Funktionieren einer freien Gesell­schaft beruht in hohem Maße auf der Existenz sol­cher frei entstandenen Einrichtungen. Es gab wahrscheinlich nie einen echten Glauben an die Frei­heit und gewiss keinen erfolgreichen Versuch, eine freie Gesellschaft zu schaffen, ohne eine echte Ehrfurcht vor entstandenen Einrichtungen, vor Bräuchen und Gewohnheiten und vor ‘all jenen Si­cherungen der Freiheit, die sich aus lang bestehenden Regelungen und alten Gepflogenheiten erge­ben.’ So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer eine in hohem Maße traditionsge­bun­dene Gesell­schaft sein." (Hayek 1971a:77f)

[4] ) Dieses eine zentrale soziologische Problem, heutzutage gern als das Problem der sozialen Integration refor­mu­liert (Mills 1963a:86), kann vielleicht durch den Ansatz der Artificial Societies der Lösung näher gebracht wer­den. Siehe Malsch (1997a): "Ein programmatischer Versuch über die Fra­ge, warum die Soziologie sich mit den So­zialmetaphern der Verteilten Künstlichen Intelligenz beschäftigen sollte"

[5] ) „Wenn das Positive gelten soll, weil es positiv ist, so muss ich beweisen, dass das Positive nicht gilt, weil es vernünftig ist, und wie könnte ich dies evidenter als durch den Nachweis, dass das Unvernünftige positiv und das Po­si­tive nicht vernünftig ist? Dass das Positive nicht durch die Vernunft, sondern trotz der Vernunft existiert? Wäre die Vernunft der Maßstab des Positiven, so wäre das Positive nicht der Maßstab der Vernunft!" (MEW 1:79)

[6]) „Nothing that is may be subtracted, nothing is dispensable.“ – “My formula for the great­ness of a human be­ing is amor fati: that one would not have anything different – not forward, not backward, not in all eternity.” (Nietz­sche, Ecce homo, zit. bei Kaufmann 1958a:348).

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