Das Zitat
Popper greift kurzerhand, Hegel politisch einzuordnen, auf diese bekannte Stelle in der „Rechtsphilosophie" zurück:
"Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewusstsein, wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus, als des natürlichen. Wenn die Reflexion, das Gefühl oder welche Gestalt das subjektive Bewusstsein habe, die Gegenwart für ein Eitles ansieht, über sie hinaus ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eitlen, und weil es Wirklichkeit nur in der Gegenwart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit. Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in dem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, dass nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor, und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewusstsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Äußerlichkeit, durch das Scheinen des Wesens in sie, bilden, dieses unendliche Material und seine Regulierung, ist nicht Gegenstand der Philosophie." (Hegel 1930a:14)
Bestätigt Hegel denn damit aber nichts weiter als die These:
Alles Bestehende beinhaltet notwendigerweise etwas Vernünftiges?
Sonst könnte es nicht existieren. An dem rationalen Kern des gegenwärtig Existierenden muss daher auch jede rationale Politik ansetzen: Hic Rhodus, hic salta! Hegel selbst hat sich gegen das gewöhnliche Missverstehen seiner Sentenz in der Einleitung, § 6 seiner "Enzyklopädie" ausdrücklich verwahrt.[1]) Adolphi (1989a:1) weist auf eine von Henrich 1983 herausgegebene Vorlesungsmitschrift aus den Jahren 1819/20 hin, die belege, dass der betreffende Ausspruch nicht statisch, sondern dynamisch zu begreifen sei: "Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig." Doch diese Argumentation grieft noch viel zu kurz.
Des Pudels Kern liegt in Hegels Unterscheidung zwischen "Realität" und "Wirklichkeit" [2]).
"Die ganze Realität lässt sich vernünftig erkennen und verändern; unter diesen Voraussetzungen enthält sie nichts Unvernünftiges oder Nicht-Ideelles." (Sarlemijn 1971a:23)
In deutlichem Unterschied dazu vertreten Popper wie Hayek [3]), dass alles, weil es existiere, das Vorurteil des Vernünftigen für sich habe und die Änderung des Bestehenden stets mit dem größeren Risiko behaftet und daher in der Regel rational nicht vertretbar sei. Doch können wir uns trösten:
"... unsere offene Gesellschaft ist die beste und reformfreudigste, die es je gegeben hat." (Popper 1992a:XIV)
So wie Luther in seiner Attacke auf das Papsttum nicht sonderlich um Fragen des Staates gekümmert hatte, so Popper in seinem Ausfall gegen die totalitären Feinde der Freiheit für Fragen der Ausgestaltung von Demokratie. Derartige blinde Flecken einer Theorie lassen sich hernach trefflich apologetisch benutzen, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat.
Wer anderen so übereilt Angst vor dem Chaos bescheinigt, der muss erst einmal das Hobbes'sche „problem of order" (Parsons 1937a) [4]) gelöst haben. Denn bei alldem wird von Hayek implizit eine harmonische Gesamtentwicklung des Systems unterstellt. Woher nimmt aber eine solche Apologetik bestehender sozialer und politischer Verhältnisse die Kriterien der Beurteilung? Es dreht sich hier mehr um eine positiv gewertete Bindung an nur residual erfasste „Tradition" denn um eine soziologische Analyse der Rolle derselben.
„In dieser Identität des Ansichseins und des Gesetztseins hat nur das als Recht Verbindlichkeit, was Gesetz ist. Indem das Gesetztsein die Seite des Daseins ausmacht, in der auch das Zufällige des Eigenwillens und anderer Besonderheit eintreten kann, so kann das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist." (Hegel, Rechtsphilosophie:314ff)
Die Rechtfertigung des Positiven im Gegensatz zum Vernünftigen war auch Bestreben der historischen Rechtsschule [5]), mit welcher Marx sich auseinandersetzte. Weniger scheint es um eine rationale Bewertung derselben zu gehen, denn Hayek nennt keine geeignete Kriterien, Traditionen zu beurteilen. Man kann hier sogar eine zirkuläre Argumentation vom Erfolg in der Evolution auf die bessere Angepasstheit des Erfolgreichen oder vom evolutionsmäßig Begünstigten auf das Gültige einen naturalistischen Fehlschluss vermuten (Voigt 1990a:5). Die systematische Unschärfe des Sozialdarwinismus zeigt sich schon darin, dass er 1. die Auslese nicht über das Individuum, sondern über das statistische Kollektiv stattfinden lässt und 2. dem Individuum eher Macht als Leben lieb ist (Nietzsche). Die reine Anbetung dessen, was sich als erfolgreich darstellt, entpuppt sich als das wahre rationale der sog. „Marktrationalität“.
Hegels positiver Konservativismus ist jedoch nicht einfach persönliche Meinung des Autors, nicht nur global schon durch den Idealismus seines Systems voreingestellt, sondern lässt sich auch präzise dort verorten, wo es um das Verhältnis von Denken und Gegenständlichkeit geht. Marx, anders als Popper, verstand dies detailliert herauszuarbeiten:
„Das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein ist in seinem Anderssein als solchem bei sich. (...) Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nur scheinbaren Kritizismus:... Also die Vernunft ist bei sich in der Unvernunft als Unvernunft. (...) Von einer Akkommodation Hegels gegen Religion, Staat etc. kann also keine Rede mehr sein, da diese Lüge die Lüge seines Prinzips ist. (...) Bei Hegel ist die Negation der Negation daher nicht die Bestätigung des wahren Wesens, eben durch die Negation des Scheinwesens, sondern die Bestätigung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens in seiner Verneinung oder die Verneinung dieses Scheinwesens als eines gegenständlichen, außer dem Menschen hausenden und von ihm unabhängigen Wesens und seine Verwandlung in das Subjekt." (Marx ÖPM:580f)
Eine weitere interessante Interpretationshypothese besteht darin, Hegels Positivismus im Sinne eines nietzeanischen amor fati [6]) zu lesen.
[1] ) „Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen..." (Hegel 1930b:37)
[2]) "In dem meisten Texten Hegels steht 'das Reale' für 'das Endliche', 'das Getrennte', das 'räumlich Auseinander- und zeitlich Nacheinanderseiende'. Der Begriff 'Wirklichkeit' dagegen erhält in der Kategorienhierarchie einen besonderen Inhalt, der im Zusammenhang mit 'Möglichkeit' bestimmt wird. 'Das Wirkliche' ist für Hegel primär 'dasjenige, was wirkt'; es impliziert darum zwangnsläufig eine Beziehung zur Kausalität und Notwendigkeit." (Sarlemijn 1971a:25)
[3] ) „Die größte Verschiedenheit in den beiden Ansichten besteht jedoch in ihren Vorstellungen von der Rolle der Überlieferungen und dem Wert all der anderen Ergebnisse der durch die Zeitalter hindurch vor sich gehenden unbewussten Entwicklung. Es wäre wohl nicht ungerechtfertigt zu sagen, dass die rationalistische Einstellung hier fast all den speziellen Ergebnissen der Freiheit entgegentritt, die der Freiheit ihren Wert verleihen. Wer meint, dass alle nützlichen Institutionen bewusst erfunden wurden, und sich nicht vorstellen kann, dass etwas, das menschlichen Zwecken dient, nicht bewusst geplant worden ist, ist fast mit Notwendigkeit ein Feind der Freiheit. Für ihn bedeutet Freiheit Chaos. Für die empiristische evolutionäre Überlieferung andererseits liegt der Wert der Freiheit hauptsächlich in der Gelegenheit für das Entstehen des Ungeplanten und das vorteilhafte Funktionieren einer freien Gesellschaft beruht in hohem Maße auf der Existenz solcher frei entstandenen Einrichtungen. Es gab wahrscheinlich nie einen echten Glauben an die Freiheit und gewiss keinen erfolgreichen Versuch, eine freie Gesellschaft zu schaffen, ohne eine echte Ehrfurcht vor entstandenen Einrichtungen, vor Bräuchen und Gewohnheiten und vor ‘all jenen Sicherungen der Freiheit, die sich aus lang bestehenden Regelungen und alten Gepflogenheiten ergeben.’ So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer eine in hohem Maße traditionsgebundene Gesellschaft sein." (Hayek 1971a:77f)
[4] ) Dieses eine zentrale soziologische Problem, heutzutage gern als das Problem der sozialen Integration reformuliert (Mills 1963a:86), kann vielleicht durch den Ansatz der Artificial Societies der Lösung näher gebracht werden. Siehe Malsch (1997a): "Ein programmatischer Versuch über die Frage, warum die Soziologie sich mit den Sozialmetaphern der Verteilten Künstlichen Intelligenz beschäftigen sollte"
[5] ) „Wenn das Positive gelten soll, weil es positiv ist, so muss ich beweisen, dass das Positive nicht gilt, weil es vernünftig ist, und wie könnte ich dies evidenter als durch den Nachweis, dass das Unvernünftige positiv und das Positive nicht vernünftig ist? Dass das Positive nicht durch die Vernunft, sondern trotz der Vernunft existiert? Wäre die Vernunft der Maßstab des Positiven, so wäre das Positive nicht der Maßstab der Vernunft!" (MEW 1:79)
[6]) „Nothing that is may be subtracted, nothing is dispensable.“ – “My formula for the greatness of a human being is amor fati: that one would not have anything different – not forward, not backward, not in all eternity.” (Nietzsche, Ecce homo, zit. bei Kaufmann 1958a:348).
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