Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Karriere des Staatsphilosophen

"Es ist immer schlimm, wenn die Ansicht aufkommt, eine Regierung begünsti­ge ein philosophi­sches System, oder sei ihm feindlich gesinnt. Beidemal ent­steht dadurch auf die Länge unfehlbar Heuchelei. Die Akkommodation an die Vor­aus­setzung bleibt nicht aus und wirkt umso korrumpie­render, je unbestimm­ter sie sein muss." (Rosenkranz 1963a:XIf)

Das Verhältnis Hegels zu dem Staat, dessen Staatsphilosoph er tituliert ward, ist in der in­ter­essierten Öffentlichkeit sehr am­bi­valent beurteilt worden, ja wider­sprüch­lich. Denn He­gels Leh­re war zwischen alle theologischen, politischen und li­te­rarischen Fronten jener Zeit geraten. Zum Teil schon deswegen, weil die re­gie­rungsamtliche Politik ziellos hin- und herschwankend rich­tungs­los tak­tie­rte.[1]) Dem Vor­wurf, Hegel habe sein Philo­so­phieren der Realität des preußischen Staa­tes opportunistisch ange­passt, trat die "Posaune"[2]) entgegen. Es hat indessen auch nicht an Kritikern gemangelt, denen He­gels Leh­ren noch zu liberal vorka­men [3]). Über Schu­barth (1975a) mach­te Engels sei­ne Witze [4]). Das durchgängige Stre­ben Hegels, alle Gegensätze in seinem System zu versöh­nen, hat theolo­gisch wie politisch das Gegenteil bewirkt: Er sah sich schließlich zwischen allen denk­ba­ren historisch relevanten Fronten versetzt. Kaum von ihm versöhnt, brachen die Ge­gen­sät­ze bei seinen Schü­lern umso unvermittelter wieder auf.[5])

Wie üblicherweise Rezensionen Rorschach-Tests gleichkommen, welche inhalt­lich mehr über den Re­zensenten als über das rezensierte Buch aussagen (Marx 2000b), so ist in hervorragender Weise Hegel „something of a com­plex projective test, mea­ning all things to all men and women“ (Merton 1973a:534). Aus na­helie­gen­den Grün­den ge­wannen Hegels tagespolitische Äu­ßerungen zu Be­ginn seiner „Rechts­phi­lo­sophie“ einen überproportionalen Ein­fluss auf das Urteil über die an­geb­liche po­li­tische Ten­denz [6]) seines Gesamtwer­kes.

Wessen Partei er­griff Popper? Nichts leichter, als sich in diese Reihe der zahllo­sen Hegel-Kri­tiker einzureihen, die nicht auf die da­mals in Deutschland herrschen­de politische Klasse, son­dern es vorzogen, an ihrerstatt auf einen abge­leg­ten The­o­retiker loszuprügeln.

Dass Hegel nicht viel später von Haym (1975a) zur Ziel­schei­be der Kritik ge­wählt wurde, lässt sich so als eine Art von Objektverschiebung verste­hen. Das liberale Literatentum, das sich zu schwach fühl­te, die an der Macht befindliche preußi­sche Reak­tion direkt an­zu­greifen, wählt anstatt des­sen eine offiziell ausgediente Philo­so­phie, die nicht mehr von Regie­rungs­seite gestützt wurde sowie durch ihre links­hegelianischen Ausläufer sich in bür­gerlichen Kreisen ge­nügend diskre­di­tiert sah. Das ist ein nicht nur für das Deutschland des 19. Jahr­hun­derts typischer Vorgang: Schon auf­grund der Zensur der politischen Journalistik wird die poli­tische Diskus­si­on auf Ersatz­schau­plät­zen [7]) geführt, auf dem Schauplatz der Kunstästhetik oder der The­ologie. Heutzutage fin­det dasselbe Stratagem in einer anderen An­wen­dung statt: Gewalttaten die­nen zum Aufhänger, um in der veröffentlichen Mei­nung Theoretiker als zuminde­st potentielle Komplizen bzw. Staats­feinde vor­zu­führen. Es bietet sich eine dis­so­nanz­theoretische Erklä­rung an: Im Falle Hegels ist die Enttäuschung der Liberalen grö­ßer, da die Erwartungen [8]) an die­sen Philo­so­phen stärker in Richtung auf Libe­ralismus gingen. In po­litischen Richtungskämpfen einer politisch machtlosen Oppo­si­tionsbewegung wird von der in­tellek­tu­ellen Op­po­sition gerne der "eigene" eher praktisch-politisch orientierte Flügel attackiert denn der Gegner, der ge­rade politisch das Sagen hat.[9])

Wenn aber Popper (1992a, b) die­se liberale Kritik [10]) aus ihrem politisch-histo­rischen Kontext herauslöst, geht er zu­gleich damit ihres im­ma­nen­ten Maßstabs verlustig. Einer "Theorie"-Kritik kann es letztlich nicht bloß vordergründig um die po­litische Ein­stellung bestimmter Au­toren zu be­stimmten Tagesfragen gehen oder um deren parteipo­litische Zuordnung.

„Auch in Betreff Hegel ist es bloße Ignoranz seiner Schüler, wenn sie diese oder jene Bestim­mung sei­nes Sy­stems aus Akkommodation u. dgl., mit einem Wort, moralisch erklären. (...) Dass ein Phi­lo­soph die­se oder jene schein­bare In­konse­quenz aus dieser oder jener Ak­kom­modation begeht, ist denk­bar; er selbst mag dieses in sei­nem Bewusstsein haben. Allein was er nicht in sei­nem Be­wusst­sein hat, dass die Mög­lichkeit dieser scheinbaren Akkommodation in ei­ner Un­zu­länglichkeit oder un­zulänglichen Fas­sung seines Prinzips selber ihre innerste Wur­zel hat. Hätte also wirklich ein Phi­lo­soph sich ak­kom­mo­diert: so ha­ben sei­ne Schüler aus seinem innern we­sent­lichen Bewusstsein das zu er­klä­ren, was für ihn selbst die Form eines exoterischen Be­wusst­seins hatte. Auf diese Weise ist, was als Fortschritt des Ge­wis­sens er­scheint, zugleich ein Fort­schritt des Wis­sens. Es wird nicht das par­tiku­lare Gewissen des Phi­lo­sophen ver­dächtigt, son­dern seine wesentliche Bewusstseinsform kon­struiert, in eine be­stimmte Ge­stalt und Bedeutung erhoben und damit zugleich darüber hinaus ge­gangen.“ (Marx ADD:327)



[1] ) Wie noch Marx bei der Ver­tei­digung der von ihm redi­gier­ten „Rheinischen Zeitung" feststellen konnte: „Zunächst soll in der 'Rheinischen Zeitung' die 'unverkennbare Absicht' vorgeherrscht haben, 'die Verfas­sung des Staats in ihrer Basis anzugreifen'. Bekanntlich herrscht aber unverkennbar eine große Mei­nungsverschie­den­heit über die preußische Verfassung und ihre Basis vor. Einige leugnen, dass die Basis eine Verfassung, andre, dass die Verfassung eine Basis habe. Eine andere Ansicht haben Stein, Hardenberg, Schön, eine andere Rochow, Ar­nim, Eichhorn. Hegel glaubte zu seinen Leb­zei­ten in seiner Rechtsphilosophie die Basis der preußischen Ver­fas­sung niedergelegt zu haben, und die Regierung und das deutsche Publikum glaubten es mit ihm. Die Re­gie­rung bewies dies unter an­derm durch das offizielle Verbreiten seiner Schriften; das Publikum aber, indem es ihm vor­warf, preu­ßischer Staatsphilosoph zu sein, wie im alten Leipziger Konversationslexikon zu lesen steht. Was da­mals Hegel glaub­te, glaubt heutzutage Stahl. Hegel las im Jahre 1831 auf speziellen Befehl der Regierung Rechtsphilosophie. Im Jah­re 1830 erklärte die 'Staats-Zeitung' Preußen für eine Mo­nar­chie, umgeben mit re­pu­bli­kanischen Institutionen. Sie erklärt es heute für eine Monarchie, um­geben mit christlichen Institutionen." (Marx, RG:421)

[2] ) Bruno Bauer, Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen. Ein Ulti­ma­tum, Leipzig 1841 (Neudruck: Aalen 1969); siehe dazu McLellan (1969a). - „Dies Buch ist schon darum für die Stel­lung Hegels so wichtig, weil es zeigt, wie oft in Hegel der unabhängige, küh­ne Den­ker über den tausend Einflüssen unterworfenen Professor gesiegt hat. Es ist eine Eh­renrettung der Per­sönlich­keit des Mannes, dem man zumutete, nicht nur da, wo er genial war, über seine Zeit hinauszu­gehen, son­dern auch da, wo er es nicht war. Hier ist der Be­weis, dass er auch dies getan hat." (Engels 1973a:177)

[3]) "Dies Stadium der hegelschen Schule, der Kirche als häretisch, dem Staat als revolutionär ver­dächtig zu sein, bildet nur die Kehrseite zu jener früheren Periode, in welcher sie dafür galt, so­phistisch für das Interesse des Staats, und zwar speziell des preußischen, eine aus den Gemütern schon verschwundene scholastische Orthodoxie wieder zu erneuern und die politischen Zustände als absolut vernünftig zu rechtfertigen. Das Jahr 1838 ist nur der Gegenpol zum Jahr 1828, denn gleich darauf, seit 1830, begann die Polemik gegen die hegelsche Philosophie als einer Garantie für den status quo. Die Schule muss es daher als ein Glück ansehen, durch das Extrem des Extrems von der Beschuldigung des Systems als eines servilen einerseits, als eines ultraistisch-liberalen an­der­seits, emanzipiert zu sein." (Rosenkranz 1963a:XIf).

[4] ) "Denn das ist klar, Gutenberg erfand den Druck nicht, um einem Börne - das war ja ein De­magoge - oder Hegel - der ist ja vorn servil, wie Heine, und hinten revolutionär, wie Schubarth bewiesen hat - oder irgendeinem an­dern Bürgerlichen seine verworrenen Gedanken in die Welt ver­breiten zu helfen, sondern einzig und allein, um die Stiftung der Adelszeitung möglich zu ma­chen. - Wohl ihr, sie ist hinüber!" Engels (1973c) in seinem „Requiem für die deutsche Adels­zei­tung"

[5] ) „Seit ihren Wirkungsanfängen ist Hegels Rechtsphilosophie mit dem Bannspruch des 'Re­ak­tio­nären' belegt. Der Vorwurf der Akkommodation an historisch gegebene Umstände und das Vor­urteil der Staatsvergottung, im 19. Jahrhundert von bürgerlich-liberaler Seite vertreten und un­ter dem Eindruck der faschistischen Tyrannis in un­serer Zeit wiederholt, führen im Zusammen­spiel mit der akademisch-konservativen Einhegung der deutschen Philosophie durch den Bis­marck'­schen Nationalstaat zu einer Kette von Missverständnissen und politischen Fehl­deu­tungen, die mehr als ein Jahrhundert lang eine produktive Auseinandersetzung mit ihrem Gedanken ver­hin­dern." (Riedel 1975b:11) Siehe auch Weil (1970a).

[6]) "Denn Hegel hatte nicht nur eine Reihe von Anmerkungen, er hatte auch eine neue Vorre­de geschrieben, die seinen Abscheu vor dem scheinrevolutionären Eskapismus der Burschen­schaf­ten mit derben Worten aus­drückt und dabei die Schuld an der politischen Fehlentwicklung einseitig den Wortführern der Opposition (Fries) an­krei­det. Mit ihr provoziert der Verfasser das Schicksal sei­nes Buches, die vernichtenden Urteile des zeit­ge­nös­si­schen Lesepublikums und die daran an­schlie­ßende Verurteilung der Rechtsphilosophie in der liberalen Be­we­gung des 19. Jahrhun­derts." (Riedel 1975b:18) - „Die Schranken, in die Hegel selbst den gewaltigen, jugendlich aufbrausen­den Kon­sequenzenstrom seiner Lehre eindämmte, waren teils von seiner Zeit, teils von seiner Persön­lich­keit bedingt. Das System war in seinen Grundzügen vor 1810 fer­tig, die Weltanschauung He­gels mit 1820 abgeschlossen. Seine po­litische Ansicht, seine im Hinblick auf England entwickelte Staats­lehre tragen un­verkennbar das Ge­präge der Restaurationszeit, wie ihm denn auch die Juli­re­vo­lu­tion in ihrer welt­historischen Notwendigkeit nicht klar wurde. So fiel er selbst sei­nem eigenen Aus­spruch anheim, dass jede Philosophie nur der Gedan­ken­in­halt ihrer Zeit ist. And­rerseits wur­den zwar seine persönlichen Meinungen durch das System geläutert, aber nicht ohne auf die Kon­se­quenzen desselben zu in­fluieren. So wäre die Reli­gi­ons- und Rechtsphilosophie unbedingt ganz an­ders ausgefallen, wenn er mehr von den positiven Elementen, die nach der Bildung der Zeit in ihm lagen, ab­strahiert und dafür aus dem reinen Gedanken entwi­ckelt hätte. Hierauf lassen sich alle In­konsequenzen, alle Widersprüche in He­gel reduzieren. Alles, was in der Reli­gionsphilosophie zu or­tho­dox, im Staats­recht zu pseudohistorisch erscheint, ist unter diesen Gesichtspunkt zu fassen. Die Prinzipien sind immer unabhängig und freisinnig, die Folgerungen - das leug­net kein Mensch - hier und da verhalten, ja il­liberal. Hier nun trat nun ein Teil seiner Schüler auf, hielt sich an die Prin­zipien und verwarf die Kon­se­quen­zen, wenn sie sich nicht rechtfertigen konnten." (En­gels 1973a:176)

[7]) Es drängen sich jedoch Vergleiche zu aktuellen Vorgängen im bundesrepublikanischen aka­de­mischen Umfeld auf: Positivismus-Debatte und Radikalen-Erlass, Finalismus-Debatte und Ten­denz­wende o.ä. ‘symbolic uses of politics’ auf. Analog die issue formation im Wahlkampf zwecks künst­li­cher Profilierung und Positionierung von Parteinen oder Politikern.

[8]) so wie Popper die Neopositivisten schärfer als Kant kritisiert hat und ein Marxist von Pop­per wohl eher als von Hayek enttäuscht sein wird - eine interessante Erscheinung für die Anwen­dung der Bezugsgrup­pen­the­orie in der Geistesgeschichte wie auch für die politische Spektrologie; vgl. Unkelbach (1964a).

[9]) So stellt Matthias Urbach fest: "Die Castor-Gegner protesieren gegen die Grü­nen - dabei müß­ten sie gegen den Kanzler marschieren. So kaschieren die Demonstranten nur ihre eigene Er­folglosigkeit." ("Karneval in Gorleben", taz 27.3.2001) Weitere Beispiele: Marcuses Angriffe auf die Or­ganisationen der Arbeiterbewegungen, die KPD-Strategie gegenüber der SPD in den 30er Jah­ren.

[10]) die ihre historische Glaubwürdigkeit eher aus ihrem Charakter einer liberalen Selbstkritik im Hinblick auf die politische Resignation des Bürgertums und dessen freiwilligen Unterordnung un­ter den Obrig­keits­staat bezieht: „der mangelnde Sinn für Gesellschaftlichkeit im deutschen Bürgertum", (Pless­ner 1955a:342). Kennzeichnend hierfür ist ins­besondere Max Webers Kritik an Bismarck (Baum­gar­ten 1964a). Der National­li­be­ra­le kritisiert an Bismarck gerade, dass dessen politischer Stil das libera­le Bürgertum daran hinderte, im Par­la­ment zu dem Selbstbewusstsein ei­ner politisch herr­schenden Klasse zu gelangen.

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