Das Verhältnis Hegels zu dem Staat, dessen Staatsphilosoph er tituliert ward, ist in der interessierten Öffentlichkeit sehr ambivalent beurteilt worden, ja widersprüchlich. Denn Hegels Lehre war zwischen alle theologischen, politischen und literarischen Fronten jener Zeit geraten. Zum Teil schon deswegen, weil die regierungsamtliche Politik ziellos hin- und herschwankend richtungslos taktierte.[1]) Dem Vorwurf, Hegel habe sein Philosophieren der Realität des preußischen Staates opportunistisch angepasst, trat die "Posaune"[2]) entgegen. Es hat indessen auch nicht an Kritikern gemangelt, denen Hegels Lehren noch zu liberal vorkamen [3]). Über Schubarth (1975a) machte Engels seine Witze [4]). Das durchgängige Streben Hegels, alle Gegensätze in seinem System zu versöhnen, hat theologisch wie politisch das Gegenteil bewirkt: Er sah sich schließlich zwischen allen denkbaren historisch relevanten Fronten versetzt. Kaum von ihm versöhnt, brachen die Gegensätze bei seinen Schülern umso unvermittelter wieder auf.[5])
Wie üblicherweise Rezensionen Rorschach-Tests gleichkommen, welche inhaltlich mehr über den Rezensenten als über das rezensierte Buch aussagen (Marx 2000b), so ist in hervorragender Weise Hegel „something of a complex projective test, meaning all things to all men and women“ (Merton 1973a:534). Aus naheliegenden Gründen gewannen Hegels tagespolitische Äußerungen zu Beginn seiner „Rechtsphilosophie“ einen überproportionalen Einfluss auf das Urteil über die angebliche politische Tendenz [6]) seines Gesamtwerkes.
Wessen Partei ergriff Popper? Nichts leichter, als sich in diese Reihe der zahllosen Hegel-Kritiker einzureihen, die nicht auf die damals in Deutschland herrschende politische Klasse, sondern es vorzogen, an ihrerstatt auf einen abgelegten Theoretiker loszuprügeln.
Dass Hegel nicht viel später von Haym (1975a) zur Zielscheibe der Kritik gewählt wurde, lässt sich so als eine Art von Objektverschiebung verstehen. Das liberale Literatentum, das sich zu schwach fühlte, die an der Macht befindliche preußische Reaktion direkt anzugreifen, wählt anstatt dessen eine offiziell ausgediente Philosophie, die nicht mehr von Regierungsseite gestützt wurde sowie durch ihre linkshegelianischen Ausläufer sich in bürgerlichen Kreisen genügend diskreditiert sah. Das ist ein nicht nur für das Deutschland des 19. Jahrhunderts typischer Vorgang: Schon aufgrund der Zensur der politischen Journalistik wird die politische Diskussion auf Ersatzschauplätzen [7]) geführt, auf dem Schauplatz der Kunstästhetik oder der Theologie. Heutzutage findet dasselbe Stratagem in einer anderen Anwendung statt: Gewalttaten dienen zum Aufhänger, um in der veröffentlichen Meinung Theoretiker als zumindest potentielle Komplizen bzw. Staatsfeinde vorzuführen. Es bietet sich eine dissonanztheoretische Erklärung an: Im Falle Hegels ist die Enttäuschung der Liberalen größer, da die Erwartungen [8]) an diesen Philosophen stärker in Richtung auf Liberalismus gingen. In politischen Richtungskämpfen einer politisch machtlosen Oppositionsbewegung wird von der intellektuellen Opposition gerne der "eigene" eher praktisch-politisch orientierte Flügel attackiert denn der Gegner, der gerade politisch das Sagen hat.[9])
Wenn aber Popper (1992a, b) diese liberale Kritik [10]) aus ihrem politisch-historischen Kontext herauslöst, geht er zugleich damit ihres immanenten Maßstabs verlustig. Einer "Theorie"-Kritik kann es letztlich nicht bloß vordergründig um die politische Einstellung bestimmter Autoren zu bestimmten Tagesfragen gehen oder um deren parteipolitische Zuordnung.
„Auch in Betreff Hegel ist es bloße Ignoranz seiner Schüler, wenn sie diese oder jene Bestimmung seines Systems aus Akkommodation u. dgl., mit einem Wort, moralisch erklären. (...) Dass ein Philosoph diese oder jene scheinbare Inkonsequenz aus dieser oder jener Akkommodation begeht, ist denkbar; er selbst mag dieses in seinem Bewusstsein haben. Allein was er nicht in seinem Bewusstsein hat, dass die Möglichkeit dieser scheinbaren Akkommodation in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Prinzips selber ihre innerste Wurzel hat. Hätte also wirklich ein Philosoph sich akkommodiert: so haben seine Schüler aus seinem innern wesentlichen Bewusstsein das zu erklären, was für ihn selbst die Form eines exoterischen Bewusstseins hatte. Auf diese Weise ist, was als Fortschritt des Gewissens erscheint, zugleich ein Fortschritt des Wissens. Es wird nicht das partikulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewusstseinsform konstruiert, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben und damit zugleich darüber hinaus gegangen.“ (Marx ADD:327)
[1] ) Wie noch Marx bei der Verteidigung der von ihm redigierten „Rheinischen Zeitung" feststellen konnte: „Zunächst soll in der 'Rheinischen Zeitung' die 'unverkennbare Absicht' vorgeherrscht haben, 'die Verfassung des Staats in ihrer Basis anzugreifen'. Bekanntlich herrscht aber unverkennbar eine große Meinungsverschiedenheit über die preußische Verfassung und ihre Basis vor. Einige leugnen, dass die Basis eine Verfassung, andre, dass die Verfassung eine Basis habe. Eine andere Ansicht haben Stein, Hardenberg, Schön, eine andere Rochow, Arnim, Eichhorn. Hegel glaubte zu seinen Lebzeiten in seiner Rechtsphilosophie die Basis der preußischen Verfassung niedergelegt zu haben, und die Regierung und das deutsche Publikum glaubten es mit ihm. Die Regierung bewies dies unter anderm durch das offizielle Verbreiten seiner Schriften; das Publikum aber, indem es ihm vorwarf, preußischer Staatsphilosoph zu sein, wie im alten Leipziger Konversationslexikon zu lesen steht. Was damals Hegel glaubte, glaubt heutzutage Stahl. Hegel las im Jahre 1831 auf speziellen Befehl der Regierung Rechtsphilosophie. Im Jahre 1830 erklärte die 'Staats-Zeitung' Preußen für eine Monarchie, umgeben mit republikanischen Institutionen. Sie erklärt es heute für eine Monarchie, umgeben mit christlichen Institutionen." (Marx, RG:421)
[2] ) Bruno Bauer, Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum, Leipzig 1841 (Neudruck: Aalen 1969); siehe dazu McLellan (1969a). - „Dies Buch ist schon darum für die Stellung Hegels so wichtig, weil es zeigt, wie oft in Hegel der unabhängige, kühne Denker über den tausend Einflüssen unterworfenen Professor gesiegt hat. Es ist eine Ehrenrettung der Persönlichkeit des Mannes, dem man zumutete, nicht nur da, wo er genial war, über seine Zeit hinauszugehen, sondern auch da, wo er es nicht war. Hier ist der Beweis, dass er auch dies getan hat." (Engels 1973a:177)
[3]) "Dies Stadium der hegelschen Schule, der Kirche als häretisch, dem Staat als revolutionär verdächtig zu sein, bildet nur die Kehrseite zu jener früheren Periode, in welcher sie dafür galt, sophistisch für das Interesse des Staats, und zwar speziell des preußischen, eine aus den Gemütern schon verschwundene scholastische Orthodoxie wieder zu erneuern und die politischen Zustände als absolut vernünftig zu rechtfertigen. Das Jahr 1838 ist nur der Gegenpol zum Jahr 1828, denn gleich darauf, seit 1830, begann die Polemik gegen die hegelsche Philosophie als einer Garantie für den status quo. Die Schule muss es daher als ein Glück ansehen, durch das Extrem des Extrems von der Beschuldigung des Systems als eines servilen einerseits, als eines ultraistisch-liberalen anderseits, emanzipiert zu sein." (Rosenkranz 1963a:XIf).
[4] ) "Denn das ist klar, Gutenberg erfand den Druck nicht, um einem Börne - das war ja ein Demagoge - oder Hegel - der ist ja vorn servil, wie Heine, und hinten revolutionär, wie Schubarth bewiesen hat - oder irgendeinem andern Bürgerlichen seine verworrenen Gedanken in die Welt verbreiten zu helfen, sondern einzig und allein, um die Stiftung der Adelszeitung möglich zu machen. - Wohl ihr, sie ist hinüber!" Engels (1973c) in seinem „Requiem für die deutsche Adelszeitung"
[5] ) „Seit ihren Wirkungsanfängen ist Hegels Rechtsphilosophie mit dem Bannspruch des 'Reaktionären' belegt. Der Vorwurf der Akkommodation an historisch gegebene Umstände und das Vorurteil der Staatsvergottung, im 19. Jahrhundert von bürgerlich-liberaler Seite vertreten und unter dem Eindruck der faschistischen Tyrannis in unserer Zeit wiederholt, führen im Zusammenspiel mit der akademisch-konservativen Einhegung der deutschen Philosophie durch den Bismarck'schen Nationalstaat zu einer Kette von Missverständnissen und politischen Fehldeutungen, die mehr als ein Jahrhundert lang eine produktive Auseinandersetzung mit ihrem Gedanken verhindern." (Riedel 1975b:11) Siehe auch Weil (1970a).
[6]) "Denn Hegel hatte nicht nur eine Reihe von Anmerkungen, er hatte auch eine neue Vorrede geschrieben, die seinen Abscheu vor dem scheinrevolutionären Eskapismus der Burschenschaften mit derben Worten ausdrückt und dabei die Schuld an der politischen Fehlentwicklung einseitig den Wortführern der Opposition (Fries) ankreidet. Mit ihr provoziert der Verfasser das Schicksal seines Buches, die vernichtenden Urteile des zeitgenössischen Lesepublikums und die daran anschließende Verurteilung der Rechtsphilosophie in der liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts." (Riedel 1975b:18) - „Die Schranken, in die Hegel selbst den gewaltigen, jugendlich aufbrausenden Konsequenzenstrom seiner Lehre eindämmte, waren teils von seiner Zeit, teils von seiner Persönlichkeit bedingt. Das System war in seinen Grundzügen vor 1810 fertig, die Weltanschauung Hegels mit 1820 abgeschlossen. Seine politische Ansicht, seine im Hinblick auf England entwickelte Staatslehre tragen unverkennbar das Gepräge der Restaurationszeit, wie ihm denn auch die Julirevolution in ihrer welthistorischen Notwendigkeit nicht klar wurde. So fiel er selbst seinem eigenen Ausspruch anheim, dass jede Philosophie nur der Gedankeninhalt ihrer Zeit ist. Andrerseits wurden zwar seine persönlichen Meinungen durch das System geläutert, aber nicht ohne auf die Konsequenzen desselben zu influieren. So wäre die Religions- und Rechtsphilosophie unbedingt ganz anders ausgefallen, wenn er mehr von den positiven Elementen, die nach der Bildung der Zeit in ihm lagen, abstrahiert und dafür aus dem reinen Gedanken entwickelt hätte. Hierauf lassen sich alle Inkonsequenzen, alle Widersprüche in Hegel reduzieren. Alles, was in der Religionsphilosophie zu orthodox, im Staatsrecht zu pseudohistorisch erscheint, ist unter diesen Gesichtspunkt zu fassen. Die Prinzipien sind immer unabhängig und freisinnig, die Folgerungen - das leugnet kein Mensch - hier und da verhalten, ja illiberal. Hier nun trat nun ein Teil seiner Schüler auf, hielt sich an die Prinzipien und verwarf die Konsequenzen, wenn sie sich nicht rechtfertigen konnten." (Engels 1973a:176)
[7]) Es drängen sich jedoch Vergleiche zu aktuellen Vorgängen im bundesrepublikanischen akademischen Umfeld auf: Positivismus-Debatte und Radikalen-Erlass, Finalismus-Debatte und Tendenzwende o.ä. ‘symbolic uses of politics’ auf. Analog die issue formation im Wahlkampf zwecks künstlicher Profilierung und Positionierung von Parteinen oder Politikern.
[8]) so wie Popper die Neopositivisten schärfer als Kant kritisiert hat und ein Marxist von Popper wohl eher als von Hayek enttäuscht sein wird - eine interessante Erscheinung für die Anwendung der Bezugsgruppentheorie in der Geistesgeschichte wie auch für die politische Spektrologie; vgl. Unkelbach (1964a).
[9]) So stellt Matthias Urbach fest: "Die Castor-Gegner protesieren gegen die Grünen - dabei müßten sie gegen den Kanzler marschieren. So kaschieren die Demonstranten nur ihre eigene Erfolglosigkeit." ("Karneval in Gorleben", taz 27.3.2001) Weitere Beispiele: Marcuses Angriffe auf die Organisationen der Arbeiterbewegungen, die KPD-Strategie gegenüber der SPD in den 30er Jahren.
[10]) die ihre historische Glaubwürdigkeit eher aus ihrem Charakter einer liberalen Selbstkritik im Hinblick auf die politische Resignation des Bürgertums und dessen freiwilligen Unterordnung unter den Obrigkeitsstaat bezieht: „der mangelnde Sinn für Gesellschaftlichkeit im deutschen Bürgertum", (Plessner 1955a:342). Kennzeichnend hierfür ist insbesondere Max Webers Kritik an Bismarck (Baumgarten 1964a). Der Nationalliberale kritisiert an Bismarck gerade, dass dessen politischer Stil das liberale Bürgertum daran hinderte, im Parlament zu dem Selbstbewusstsein einer politisch herrschenden Klasse zu gelangen.
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