Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Sind Werturteile ideologisch?

Die positivistische Ideologie-Kritik (Topitsch 1966a:54) geht indes so weit, aus der Nicht­be­ach­tung des von ihr als absolut gültigen Sein-Sollen-Dualismus den Vorwurf der Erschleichung ab­zu­leiten. Der Verstoß gegen die positivistische Erkenntnislogik und den ihr eigenen Sche­ma­tis­mus wird so dem Individuum zum politischen und gar psychologischen Vorwurf. Der mo­ralische Rigorismus dient schließlich so zum Ausgangspunkt der Zuschreibung einer persönlichen In­suf­fizienz, was mehr an eine Aufforderung zu Psychotherapie oder Ge­hirn­wä­sche als an kritisch-ra­ti­onales Argumentieren denken lässt.

Die Voraussetzung, dass Werturteile nicht rational überprüft werden könnten, ist allerdings kei­nes­wegs richtig. Auch Normen und Wertungen können im Sinne des Fallibilismus kritisch mit­ein­ander verglichen werden. Weber hat hier aber wohl weniger die Kritikimmunität letzter Wert­vor­aus­set­zun­gen behaupten wollen als vielmehr, dass sie nicht weiter begründet bzw. ab­ge­leitet wer­den können. Erst in Verbindung mit der Rechtfertigungsstrategie wird daraus die von Albert (1976a:92) bei We­ber unterstellte Behauptung der Kritikimmunität bzw. ein irrati­ona­ler Dezisio­nis­mus (vgl. dazu Schelting 1934a; Müller-Armack 1964a).

Dieser Problemlösung ist der kantische Du­alismus von Sein und Sollen vorausgesetzt, den auch Popper grundsätzlich unterschreibt. Nach Topitsch (1966a) darf man Hume als Vorläufer für die­se Scheidung an­se­hen. Albert (1954a:16, Anm.4) führt zu dessen Be­gründung die Arbeiten von Kauf­mann (1925a:624), Nelson (1917a: 31,43), Jörgensen (1937a) und Weisser (1923a) an und be­nutzt sie zur Analyse der heil­losen „Konfundierung der normativen und der explikativen Frage­stel­lung“ innerhalb des tra­di­ti­onellen ökono­mischen Denkens (17). Topitsch (1967c) entdeckt wie Popper (1992b:10) in sei­ner Hegel-Kritik eine Verschmelzung von Sein und Sollen in­nerhalb der von Aristoteles stam­menden Entelechie bzw. der teleologischen Begriffslogik. Ebenfalls lässt Lask erkennen: Es ist schon bei Platon eine Ungeschiedenheit von Sein und Sollen [1]) im Be­griff festzustellen. Ja, Platons Be­griffs­hy­po­stasierung [2]) scheint Lask einzig und al­lein in der Ineins­set­zung von der Sphä­re des Geltenden mit derjenigen des Übersinnli­chen zu be­ste­hen.

Die Scheidung von Sein und Sollen tritt philosophiegeschichtlich erst sehr spät auf und stellt da­mit eine große Neuerung dar. Auf jeden Fall eröffnete sich damit eine phi­lo­so­phi­sche Option, deren Entscheidung kei­nes­wegs für selbstverständlich gehalten werden darf, wie es uns heute wohl leicht so vor­kommen mag, sondern die in ihren kategorialen Konsequenzen re­flektiert wer­den muss, wie es Lask (1911a) dann ja auch unternommen hat. Der Glaube an die Möglichkeit von Wertfreiheit wird er­möglicht durch die natür­li­che Wahrnehmung, Sollen und Sein seien zwei disparate, prinzipiell un­vereinbare Sphären:

„Die Betrachtung unter bestimmten Wertgesichtspunkten ändert - das ist das Ent­scheidende - nichts an den empirischen Tatsachen und ihren Zusam­men­hän­gen.“ (Topitsch 1966a:148)

Der logische Positivismus und die daran anschließende Ideologie-Kritik ist damit der Ver­such, die Trennung von Beschreiben und Bewerten auch im Bereich des zielgerichteten Han­delns durch­zu­füh­ren. Diese Trennung ist genauso grammatikalisch vorstrukturiert wie der Wert­plato­nis­mus durch die adjektivische Form von Wertprädikaten und damit sprachliche Un­er­kennbarkeit von Bewertung und Beschreibung in denselben. Topitsch sieht dabei nicht, dass er hierbei sein er­kenntnislogisches Pos­tu­lat zu einer wertneutralen Wahrnehmung von Tat­sachen ontologisiert - da der menschliche Wahr­neh­mungs­prozess ja selbst nicht wertfrei statt­findet, kann die Trennung von Sein und Sollen nur er­kennt­nis­theoretisch begründet und durch­gesetzt werden. Für Topitsch ist dieser Dualismus jedoch logisch zwingend und so selbst­verständlich, dass er dieses Prinzip überall nur als solches durchzuset­zen sucht; hinge­gen dessen angeblichen Vorzug gegenüber Al­ternativen nicht einmal nachzuweisen er­for­der­lich hält - vermutlich weil anders zu denken oder die Dinge zu sehen er erfolgreich verlernt hat.

Einen möglichen Weg der Objektivierung von Wertstandpunkten hat der Neukantianismus ge­wie­sen, welchem auch Weber im Großen und Ganzen gefolgt ist. Lask skizziert die Lö­sung des Wert­problems durch den Neukantianismus folgendermaßen:

„Um aber die Vernunft aus dem aus dem unmittelbar Gegebenen herauszu­he­ben, muss man schon mit einem Maßstab an die Dinge herantreten. In der gegen Wer­te gleichgültigen Wirk­lichkeit erzeugt man den Gegenstand der Betrachtung durch den Gesichtspunkt der Be­trachtung. Was Inhalt der Wertbe­trach­tung sein soll, kann des­halb nie aus der erklärenden Wissenschaft desselben Wirklich­keits­gebietes ent­nom­men ... werden. (...) Die Ver­nunft­be­tätigung der Gattung näm­lich, d. h. der Inbegriff des aus ihr als absolut wertvoll Herausge­ho­be­nen ist ‘Ku­ltur’, die Kultur in ihrer Entwicklung Geschichte. Auch die Grenzen dessen, was Kultur und Geschichte ist, wollen erst gezogen werden, und ziehen kann sie wie­derum nur, wer mit irgendei­nem einheitlichen Gesichtspunkt an das Gewirr des an Menschen ir­gend­wie sich vollziehenden Geschehens herantritt.“ (Lask 1914a:3f)

Nach neukantianischer Auffassung geht es bei „Objektivität“ der Geschichtsbetrachtung um zwei­erlei: 1. um die korrekte Form der Wirklichkeitserfassung, 2. um die Intersubjektivität der­sel­ben. Zu wel­cher Feststellung gelangt man jedoch, wenn man Poppers Vorgehen an die­sen Maß­stäben misst? Al­bert (1972c:132) rechnet Rickerts Wertphilosophie dem Wert­pla­tonis­mus zu, was wohl aber erst näher begründet werden müsste. Es lässt sich nun allerdings nicht übersehen, dass die Neukantianer eben doch Kantianer sind, insofern sie Objektivität als sub­jekt­seitigen Wert auffassen, nicht als Überein­stim­mung mit der Realität. Letzteres hinwieder krei­det Döring (1996a:16) Popper als be­denkliches Minus an, was ich hingegen lieber als ein Plus bewertet sehen möchte. Aber immerhin wird Objektivi­tät bzw. Intersubjektivität der Wer­tung im Neukanti­a­nis­mus zumindest in die syste­matische Reflexion einbezogen, während Popper die Frage einfach als unwissenschaftlich und als rational nicht traktierbares privates Glau­bensbekenntnis hinauswirft: wie­derum ein positivistisches Relikt bei Popper, zu­dem ei­nes des Rechtfertigungsdenkens.

„Kein Wesen kann also in seinen Gefühlen, Vorstellungen, Gedanken seine Na­tur verleugnen. Was es auch setzt - es setzt immer sich selbst. Jedes Wesen hat seinen Gott, sein höchstes Wesen in sich selbst.“ (Feuerbach 1976a:26)



[1]) „Wobei freilich zu bedenken ist, dass dem Typus aller vergangenen Metaphysik gemäß die gel­tende Form zu­gleich zur überseienden gestaltenden Potenz verlebendigt und damit verselb­stän­digt wird; dadurch weicht der meta­physische Formbegriff von unserm Begriff der bloßen unselb­ständigen Hingeltungsform doch wesentlich ab..." (Lask 1911a:49, Anm.1)

[2]) „Das Logische, die Gültigkeit der Wahrheit, was den Sinn des theoretischen Gebiets aus­macht, wird mit Ver­nunft und Sinn der Welt, mit dem göttlichen Prinzip, mit dem wahren Sein, wo­von das sinnliche nur ein niederer Ab­glanz ist, in eins gesetzt. Das allein ist der wahre Sinn des ‘Hy­po­stasierens’ der Ideen zu einer von der Er­schei­nungs­welt unterschiedenen übersinnlichen Realität. Der Fehler des Hypostasierens besteht in der Zu­sam­men­werfung des Geltend-Unsinnlichen und des Metaphysisch-Übersinnlichen. Es ist darum ebenso Lotzes Inter­pre­tation der Platonischen Ideenwelt wie auf der andern Seite der nichtssagende Vorwurf der Verdinglichung ab­zu­lehnen. So gewiss man Lot­zes Deutung zugeben muss, dass dem Plato das, was ‘gilt’, vorgeschwebt hat, ja so­gar für den gan­zen Entwurf der Ideenlehre bestimmend geworden ist, so zwei­fel­los ist es andererseits, dass er nicht bei einem bloß Geltenden Halt gemacht, nicht den Gedanken des Gel­ten­den gesondert festgehalten hat, viel­mehr die ganze Gegenständlichkeits­art des Metaphysischen damit zu­sam­menfließen ließ. So ge­wiss aber Pla­to somit über die geltende Begrifflich­keit zum Überseienden fort­ge­gangen ist, so ver­fehlt ist es wiederum, zu ver­kennen, dass die ‘Realität’, zu der von ihm die Ideen ‘hypo­sta­siert’ wor­den sind, eben nichts mit der Realität des Sinnlichseienden zu tun hat." (Lask 1911a:10)

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