Die positivistische Ideologie-Kritik (Topitsch 1966a:54) geht indes so weit, aus der Nichtbeachtung des von ihr als absolut gültigen Sein-Sollen-Dualismus den Vorwurf der Erschleichung abzuleiten. Der Verstoß gegen die positivistische Erkenntnislogik und den ihr eigenen Schematismus wird so dem Individuum zum politischen und gar psychologischen Vorwurf. Der moralische Rigorismus dient schließlich so zum Ausgangspunkt der Zuschreibung einer persönlichen Insuffizienz, was mehr an eine Aufforderung zu Psychotherapie oder Gehirnwäsche als an kritisch-rationales Argumentieren denken lässt.
Die Voraussetzung, dass Werturteile nicht rational überprüft werden könnten, ist allerdings keineswegs richtig. Auch Normen und Wertungen können im Sinne des Fallibilismus kritisch miteinander verglichen werden. Weber hat hier aber wohl weniger die Kritikimmunität letzter Wertvoraussetzungen behaupten wollen als vielmehr, dass sie nicht weiter begründet bzw. abgeleitet werden können. Erst in Verbindung mit der Rechtfertigungsstrategie wird daraus die von Albert (1976a:92) bei Weber unterstellte Behauptung der Kritikimmunität bzw. ein irrationaler Dezisionismus (vgl. dazu Schelting 1934a; Müller-Armack 1964a).
Dieser Problemlösung ist der kantische Dualismus von Sein und Sollen vorausgesetzt, den auch Popper grundsätzlich unterschreibt. Nach Topitsch (1966a) darf man Hume als Vorläufer für diese Scheidung ansehen. Albert (1954a:16, Anm.4) führt zu dessen Begründung die Arbeiten von Kaufmann (1925a:624), Nelson (1917a: 31,43), Jörgensen (1937a) und Weisser (1923a) an und benutzt sie zur Analyse der heillosen „Konfundierung der normativen und der explikativen Fragestellung“ innerhalb des traditionellen ökonomischen Denkens (17). Topitsch (1967c) entdeckt wie Popper (1992b:10) in seiner Hegel-Kritik eine Verschmelzung von Sein und Sollen innerhalb der von Aristoteles stammenden Entelechie bzw. der teleologischen Begriffslogik. Ebenfalls lässt Lask erkennen: Es ist schon bei Platon eine Ungeschiedenheit von Sein und Sollen [1]) im Begriff festzustellen. Ja, Platons Begriffshypostasierung [2]) scheint Lask einzig und allein in der Ineinssetzung von der Sphäre des Geltenden mit derjenigen des Übersinnlichen zu bestehen.
Die Scheidung von Sein und Sollen tritt philosophiegeschichtlich erst sehr spät auf und stellt damit eine große Neuerung dar. Auf jeden Fall eröffnete sich damit eine philosophische Option, deren Entscheidung keineswegs für selbstverständlich gehalten werden darf, wie es uns heute wohl leicht so vorkommen mag, sondern die in ihren kategorialen Konsequenzen reflektiert werden muss, wie es Lask (1911a) dann ja auch unternommen hat. Der Glaube an die Möglichkeit von Wertfreiheit wird ermöglicht durch die natürliche Wahrnehmung, Sollen und Sein seien zwei disparate, prinzipiell unvereinbare Sphären:
„Die Betrachtung unter bestimmten Wertgesichtspunkten ändert - das ist das Entscheidende - nichts an den empirischen Tatsachen und ihren Zusammenhängen.“ (Topitsch 1966a:148)
Der logische Positivismus und die daran anschließende Ideologie-Kritik ist damit der Versuch, die Trennung von Beschreiben und Bewerten auch im Bereich des zielgerichteten Handelns durchzuführen. Diese Trennung ist genauso grammatikalisch vorstrukturiert wie der Wertplatonismus durch die adjektivische Form von Wertprädikaten und damit sprachliche Unerkennbarkeit von Bewertung und Beschreibung in denselben. Topitsch sieht dabei nicht, dass er hierbei sein erkenntnislogisches Postulat zu einer wertneutralen Wahrnehmung von Tatsachen ontologisiert - da der menschliche Wahrnehmungsprozess ja selbst nicht wertfrei stattfindet, kann die Trennung von Sein und Sollen nur erkenntnistheoretisch begründet und durchgesetzt werden. Für Topitsch ist dieser Dualismus jedoch logisch zwingend und so selbstverständlich, dass er dieses Prinzip überall nur als solches durchzusetzen sucht; hingegen dessen angeblichen Vorzug gegenüber Alternativen nicht einmal nachzuweisen erforderlich hält - vermutlich weil anders zu denken oder die Dinge zu sehen er erfolgreich verlernt hat.
Einen möglichen Weg der Objektivierung von Wertstandpunkten hat der Neukantianismus gewiesen, welchem auch Weber im Großen und Ganzen gefolgt ist. Lask skizziert die Lösung des Wertproblems durch den Neukantianismus folgendermaßen:
„Um aber die Vernunft aus dem aus dem unmittelbar Gegebenen herauszuheben, muss man schon mit einem Maßstab an die Dinge herantreten. In der gegen Werte gleichgültigen Wirklichkeit erzeugt man den Gegenstand der Betrachtung durch den Gesichtspunkt der Betrachtung. Was Inhalt der Wertbetrachtung sein soll, kann deshalb nie aus der erklärenden Wissenschaft desselben Wirklichkeitsgebietes entnommen ... werden. (...) Die Vernunftbetätigung der Gattung nämlich, d. h. der Inbegriff des aus ihr als absolut wertvoll Herausgehobenen ist ‘Kultur’, die Kultur in ihrer Entwicklung Geschichte. Auch die Grenzen dessen, was Kultur und Geschichte ist, wollen erst gezogen werden, und ziehen kann sie wiederum nur, wer mit irgendeinem einheitlichen Gesichtspunkt an das Gewirr des an Menschen irgendwie sich vollziehenden Geschehens herantritt.“ (Lask 1914a:3f)
Nach neukantianischer Auffassung geht es bei „Objektivität“ der Geschichtsbetrachtung um zweierlei: 1. um die korrekte Form der Wirklichkeitserfassung, 2. um die Intersubjektivität derselben. Zu welcher Feststellung gelangt man jedoch, wenn man Poppers Vorgehen an diesen Maßstäben misst? Albert (1972c:132) rechnet Rickerts Wertphilosophie dem Wertplatonismus zu, was wohl aber erst näher begründet werden müsste. Es lässt sich nun allerdings nicht übersehen, dass die Neukantianer eben doch Kantianer sind, insofern sie Objektivität als subjektseitigen Wert auffassen, nicht als Übereinstimmung mit der Realität. Letzteres hinwieder kreidet Döring (1996a:16) Popper als bedenkliches Minus an, was ich hingegen lieber als ein Plus bewertet sehen möchte. Aber immerhin wird Objektivität bzw. Intersubjektivität der Wertung im Neukantianismus zumindest in die systematische Reflexion einbezogen, während Popper die Frage einfach als unwissenschaftlich und als rational nicht traktierbares privates Glaubensbekenntnis hinauswirft: wiederum ein positivistisches Relikt bei Popper, zudem eines des Rechtfertigungsdenkens.
„Kein Wesen kann also in seinen Gefühlen, Vorstellungen, Gedanken seine Natur verleugnen. Was es auch setzt - es setzt immer sich selbst. Jedes Wesen hat seinen Gott, sein höchstes Wesen in sich selbst.“ (Feuerbach 1976a:26)
[1]) „Wobei freilich zu bedenken ist, dass dem Typus aller vergangenen Metaphysik gemäß die geltende Form zugleich zur überseienden gestaltenden Potenz verlebendigt und damit verselbständigt wird; dadurch weicht der metaphysische Formbegriff von unserm Begriff der bloßen unselbständigen Hingeltungsform doch wesentlich ab..." (Lask 1911a:49, Anm.1)
[2]) „Das Logische, die Gültigkeit der Wahrheit, was den Sinn des theoretischen Gebiets ausmacht, wird mit Vernunft und Sinn der Welt, mit dem göttlichen Prinzip, mit dem wahren Sein, wovon das sinnliche nur ein niederer Abglanz ist, in eins gesetzt. Das allein ist der wahre Sinn des ‘Hypostasierens’ der Ideen zu einer von der Erscheinungswelt unterschiedenen übersinnlichen Realität. Der Fehler des Hypostasierens besteht in der Zusammenwerfung des Geltend-Unsinnlichen und des Metaphysisch-Übersinnlichen. Es ist darum ebenso Lotzes Interpretation der Platonischen Ideenwelt wie auf der andern Seite der nichtssagende Vorwurf der Verdinglichung abzulehnen. So gewiss man Lotzes Deutung zugeben muss, dass dem Plato das, was ‘gilt’, vorgeschwebt hat, ja sogar für den ganzen Entwurf der Ideenlehre bestimmend geworden ist, so zweifellos ist es andererseits, dass er nicht bei einem bloß Geltenden Halt gemacht, nicht den Gedanken des Geltenden gesondert festgehalten hat, vielmehr die ganze Gegenständlichkeitsart des Metaphysischen damit zusammenfließen ließ. So gewiss aber Plato somit über die geltende Begrifflichkeit zum Überseienden fortgegangen ist, so verfehlt ist es wiederum, zu verkennen, dass die ‘Realität’, zu der von ihm die Ideen ‘hypostasiert’ worden sind, eben nichts mit der Realität des Sinnlichseienden zu tun hat." (Lask 1911a:10)
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