Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Realdefinition und Theoriebildung

Dass die Frage der Begriffslogik aber unmittelbar die Methode empirischer Theoriebildung be­trifft - was auch Rickerts Überzeugung entspricht -, zeigt etwa Irle (1963a:83) in seiner Aus­ein­anderset­zung mit der eine Zeit lang innerhalb der Theorie der Organisation ver­bre­i­teten Di­chotomie „formell vs. informell". Die Metaphysik der Substanz verstellte in diesem Beispiel, wie Irle sagt, den Blick darauf, dass es sich bei den formellen und den informellen Be­zie­hungen der Mitglieder einer formalen Organisation nicht um getrennte Dinge handelt, son­dern um zwei unterschiedliche Aspekte an derselben Sache, näm­lich den Prozessen sozialen Handelns in­ner­halb dieser Organisation.

Schon in unserer natürlichen Sprache steckt eine Tendenz zur Substantialisierung oder, gram­ma­tikalisch gesprochen, zur „Substantivitis" [1]). Diese Verhexung des Denkens durch Haupt­wör­ter macht es oftmals unmöglich, dass wir Prozesse angemessen begreifen können. In einem ge­wis­sen Sinne kann man Hegels Dialektik als einen Versuch ansehen, das Denken in Substan­tiven durch das Negieren der grammatischen Form durch das spekulative Denken so zu strapa­zie­ren, dass aus ihm ein Tätigkeitswort werde.

Eine ähnliche Problematik der Ontologie der Substanz (bzw. Partikel) liegt dem Welle-Kor­pus­kel-Problem der Quantentheorie zugrunde, gegenüber dem die gewohnte Ontologie der Ma­kro­physik versagt (Hennemann 1961a), nach welcher es keinen Sinn macht, von einer Bewe­gung zu sprechen ohne etwas, das sich da bewegt. Man kann, wie Lenin (1947a) es tendenziell ver­sucht hat, die erkenntnistheoretische Position des kritischen Realismus behaupten, indem sie von sperrigen ontologischen Annahmen befreit wird. Topitschs (1960b) Leerformel-Vorwurf ge­gen Lenins Identifikation von „Materie" und „objektiver Realität" befasst sich jedoch über­haupt nicht mit dieser seiner erkenntnistheoretischen Problemstellung, sondern stellt nur vor die Alternative: eine hergebrachte Ontologie exhaurieren / eliminieren. Topitsch wen­det sich damit aber nicht gegen einen bestimmten Fehler Lenins, sondern gegen Erkennt­nis­theorie schlecht­hin. Wenn er die Unwissenschaftlichkeit des Marxismus-Leni­nis­mus bewei­sen wollte, hat er damit letzterem nur die Ehre erwiesen, diesen mitsamt Kant und jeder Er­kennt­nistheorie als Bla-bla abzutun. Man kann auch zuviel beweisen. Und wer im philosophi­schen Glashaus sitzt, sollte doppelt vorsichtig sein bei Rohrkrepierern.

Die Soziologie der Organisation hat sich weiterentwickelt, indem sie vom geschlossenen zweck­rationalen Bürokratie-Modell Webers überging zu einem offenen System, das sich mit der Bewältigung von Unsicherheit mittels einer begrenzten Rationalität auseinandersetzt. Da­durch gerät das gewohnte Bild der Organisationshierarchie in eine neue Perspektive; es stellt sich das sog. "paradox of administration".

Die Metaphysik täuscht durch ihre Begriffslogik reale Un­terschiede vor, die unter einer ande­ren, meist differenzierteren oder dynamisierten, the­o­re­tischen Perspektive betrachtet, nicht vor­han­den sind oder zumindest anders aussehen. Dies ist jedoch kein Argument gegen Metaphy­sik, sondern gegen schlechte; es hebt nur die Rolle der Kategorien­systeme und der jeweiligen Begriffslogik hervor. Denn Metaphysik zeichnet immer ein Bild, wie die Welt zusammenhängt; eine gute Metaphysik liefert Hinweise auf die Art und den Typus der wirkli­chen Mechanismen, welche die realen Prozesse steuern.

Auf die metaphysische Kategorie der Substanz ging auch Zeleny (1970a:43) zurück, als er Mar­xens Methode im „Kapital" analysierte. Welche Auffassung der marxschen Begriffslogik kann man hieraus ableiten?

„Der ‘Begriff’ ist nach Marx die gedankliche Reproduktion der inneren Gliede­rung, der inneren Struktur eines Gegenstandes, und zwar dieser inneren Struk­tur in ihrer Entwicklung, in ihrer Entstehung, in Existenz und Untergang ... ‘Begriff’ be­deutet die rationelle Erfassung, die gedankliche Reproduktion, die ge­dankliche Aneignung, die gedankliche Widerspiegelung des Gegenstandes in seinem struktu­rell-genetischen Wesen, d.h. in seiner strukturell-genetischen Ge­setzmäßigkeit." (Zeleny 1970a:62)

In gewisser Weise beinhaltet Marxens Konzeption der materialistischen Dialektik eine un­gleich radikalere Essentialismus-Kritik als diejenige Poppers, weil sie bereits vor dem Spre­chen, bei der Aktivität des Organismus bzw. beim handelnden Menschen ansetzt. Jeder lern- und ak­ti­onsfähige Organismus schafft sich im Austausch mit seiner Umwelt günstigere Lebens­be­din­gungen, er ver­gegenständlicht sich. Die Vergegenständlichung schlägt sich sowohl in der Än­de­rung der Umwelt auch im Organismus selber nieder. Und jede Vergegenständlichung ist auch eine Verselbständi­gung gegenüber dem Subjekt, d.h. sie kann der Möglichkeit nach aus dem Kontrollbereich des Subjekts geraten.

Genau dieses trifft auch auf Sprache zu. Begriffe sind Vereinseitigungen, die das Subjekt zu sei­nen besonderen Zwecken vornimmt. In der sprachlichen Kommunikation wie im Denken des Einzelnen sind diese Vereinseitigungen zweckentsprechende Instrumente, die aber über ihre Zweckerfüllung hinaus ihre Eigendynamik entfalten. So steckt in jedem Sprechen und Denken eine natürliche Tendenz zur Verdingli­chung, zum Platonismus. Denn jedes Handeln, jede Kom­muni­kation muss sich zu einer relativ festen Form fixieren. Diese Form entspricht aber keinem flüssigen Geschehen mehr. Diese Problematik wird potenziert durch Traditionen schaffende in­tersubjektive Kommunikation und rechtliche Fixierung von Verfügungsrechten, die sowohl das Handeln wie auch den möglichen Aktionsradius des Handeln weiter einschränken. Unter be­stimmten gesell­schaftlichen Umständen wird aus Vergegenständlichung Ent­frem­dung. Im Kon­text der Entfremdung werden Ursprung und Aktionsradius des Subjekts für Leistungen der Ver­gegens­tändlichung nicht mehr einsehbar.



[1]) Hegel allerdings beuteilt die Substantivitis als eine besondere Eignung des Deutschen zur Spe­kula­tion: " Viel wichtiger ist es, dass in einer Sprache die Denkbestimmungen zu Substantiven und Verben herausgestellt und so zur gegenständlichen Form gestempelt sind; die deutsche Spra­che hat darin viele Vorzüge vor den anderen modernen Sprachen; sogar sind manche ihrer Wörter von der weiteren Eigenheit, verschiedene Bedeutungen nicht nur, sondern entgegengesetzte zu ha­ben, so dass darin selbst ein spekulativer Geist der Sprache nicht zu verkennen ist;...)" (Hegel: Wis­senschaft der Logik:13) Richtig ist jedenfalls, dass das Amtsdeutsch schon manchen Bürger zum Spekulieren veranlasst hat. Ist dies aber wirklich eine Besonderheit des Deutschen?

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