Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Positivismus und Metaphysik - alternative Methodo­lo­gien

In ähnlicher Weise hatte schon Fichte einen vergleichbaren Unterschied fest­ge­stellt zwischen Den­kern und Nichtdenkern [1]), welcher typologisch dem zwischen Analytikern und lokalen Kon­servativen, den ge­borenen Vertretern einer kurzsich­ti­gen, bornierten Kirchturmpolitik, ver­wandt ist. In unseren Tagen hat sich derglei­chen naturwüchsige Verdinglichung des bor­niert lo­ka­len Ge­sichtskreises zur Ideo­lo­gie des technischen Fortschritts und des Globalismus mo­der­ni­siert - die bewusst­los positivistische Überschätzung anscheinend auf der Hand lie­gen­der Erfah­rung zu einem Fundament der Weltanschauung ist offenkundig.

Nicht der geringste Reiz des Positivismus ist schon immer seine Denkökonomie. Sie er­spart Umwege. Jeder kommt gleich zur Sache, da ja diese ihm nur zu hand­greiflich vor Augen liegt. Es braucht nicht reflektiert zu werden, unter welchen Vor­aussetzungen des Denkens und mit welchen Gründen andere dahin oder sonst wo gekommen sein mögen. Philosophische Prämis­sen ver­schwinden aber nicht schon dadurch, dass man von ihnen nicht spricht [2]):

„... any discussion of the laws of nature with no reference to metaphysics is a plain waste of time.” (Agassi 1993a:13)

Damit verfügt das positivistische Prinzip über einen ebenbürtigen Gegenspieler in der Ten­denz zur spekulativen Konstruktion und Proliferation [3]) theoretischer Sy­steme. Wenn der Geist auf „Abenteuer des Gedankens“ (Hegel 1930b:4) auszieht, so ist aber immer noch das redliche Streben nach gehalt­vol­lem Inhalt von einem sich hinter barocken Gedankengängen und Ver­schrobenheit des Ausdrucks ver­ber­genden Betrug am Publikum zu unterscheiden.

“When social theorists affirm the existence of certain eternal limits in the soci­al universe, they are crea­ting real limits, but only on their own intellectual creati­vity.” (Gouldner 1971a:417)

Noch Lassalle [4]) feierte die Deutschen:

„Dem metaphysischen Volke die metaphysische Aufgabe!“

Wenn die Deutschen das metaphysische Volk gewesen waren, kann man nicht sagen, dass sie dadurch gescheiter worden wären. Begründet (nach dem Vorbild des Aristoteles) wurde diese deutsche Tra­di­ti­on vor allem durch Kant mit seinem großartigen Projekt einer wissen­schaft­li­chen Metaphysik, die auf einer Tafel von Ka­tegorien [5]) fußt, die elementar, von Erfahrung rein, ver­stan­des­mä­ßig und voll­ständig sein soll­te (Heinrichs 1986a:2f). Das heißt: Wissen­schaft­li­che Philoso­phie kann nicht anders denn sy­stematisch verfasst sein.[6])



[1]) "Der Nichtdenker, der doch gesunde Sinne und Gedächtnis hat, fasst den vor seinen Augen lie­genden wirk­lichen Zustand der Dinge auf, und merkt sich ihn. Er bedarf nichts weiter, da er ja nur in der wirklichen Welt zu le­ben und seine Geschäfte zu treiben hat, und zu einem Nachdenken gleichsam auf Vorrat, und dessen er nicht un­mittelbar zur Stelle bedürfte, sich gar nicht gereizt fühlt. Er geht mit seinen Gedanken über diesen wirklichen Zu­stand nie hinaus, und erdenkt nie ei­nen andern; aber durch diese Gewohnheit, nur diesen zu denken, entsteht ihm allmählich, und oh­ne dass er sich dessen eigentlich bewusst wird, die Voraussetzung, dass nur dieser sei, und nur die­ser sein könne. Die Begriffe und Sitten seines Volkes und seines Zeitalters scheinen ihm die ein­zig mög­li­chen Begriffe und Sitten aller Völker und aller Zeitalter. Dieser verwundert sich gewiss nicht, dass alles nun ge­rade so sei, wie es ist, weil es nach ihm gar nicht anders sein kann; er erhebt gewiss nicht die Frage, wie es so ge­worden, da es nach ihm ja von Anbeginn so gewesen. Nötigt sich ihm ja eine Beschreibung anderer Völker und anderer Zeitalter auf, oder wohl gar ein philo­so­phischer Ent­wurf, wie es nirgends gewesen, aber allenthalben hät­te sein sollen, so trägt er immer die Bilder seiner Welt, von denen er sich nicht losreißen kann, hinein, sieht al­les durch sie hin­durch, und fasst nie den ganzen Sinn dessen, was ihm vorgetragen wird. Seine unheilbare Krank­heit ist die, das zu­fäl­lige für notwendig zu halten. Wer sich hingegen gewöhnt hat, nicht nur das wirk­lich vorhandene durch den Gedanken nachzubilden, son­dern auch das mögliche durch den­sel­ben frei in sich zu er­schaffen, findet sehr oft ganz andere Verbindungen und Ver­hält­nisse der Din­ge, als die gegebenen ebenso möglich wie diese, ja wohl noch weit möglicher, na­türlicher, ver­nunft­mässiger; er findet die gegebenen Verhältnisse nicht nur zufällig, sondern zuweilen gar wun­derlich. Er also er­hebt die Fra­ge: wie und auf welche Weise ist doch alles so geworden wie es ist, da es ja auf die ver­schieden­sten Arten anders sein konnte? Diese Frage beantwortet ihm die Geschichte der Vorzeit; wie denn alle gründ­li­che Geschichte nichts anderes sein kann und soll, als eine genetische Be­antwortung der Kau­salfrage: auf welche Weise ist denn der gegenwärtige Zustand der Dinge ent­standen, und aus wel­chen Grün­den hat die Welt sich ge­ra­de so gebildet, wie wir sie vor uns fin­den?" (Fichte, Han­dels­staat:95.) Fichtes Unterscheidung von Denkern und Nichtdenkern er­in­nert an diejenige der US-So­zi­ologie zwischen locals und cosmopolitans. "Darum ist die Luft so voll von Le­benstheorien und Weltanschauungen, und dar­um wirken sie hierzulande so an­ma­ßend, weil sie am Ende fast stets der Sanktion irgendeiner ganz nichtssagenden Privatsituation gelten." (Benjamin 1955a:33)

[2]) "Historians and scientists can avoid philosophy books, but less easily the philosophical as­sumptions in science textbooks, and not at all their own assumptions." (Blackmore 1983a:19)

[3]) "Proliferation means that there is no need to suppress even the most outlandish product of the human brain. Everyone may follow his inclinations and science, conceived as a critical enter­pri­se, will profit from such an ac­ti­vitity. Tenacity: this means that one is encouraged not just to follow one's inclinations, but to de­velop them fur­ther, to raise them, with the help of criticism (which in­volves a comparison with the existing alternatives) to a hig­her level of articulation and thereby to raise their defence to a higher level of con­sciousness." (Feyerabend 1970a:210)

[4]) Ferdinand Lassalle, Festrede: Die Philosophie Fichtes, S. 24; zit. nach Lask (1914a:268)

[5]) "Dieses ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Ver­stand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist; indem er durch sie allein etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d.i. ein Objekt derselben den­ken kann. Diese Einteilung ist syste­ma­tisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen (welches eben so viel ist, als das Vermögen zu denken), erzeugt, und nicht rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternom­me­nen Aufsuchung rei­ner Begriffe ent­stan­den, von deren Vollzähligkeit man niemals gewiss sein kann, da sie nur durch Induktion ge­schlos­sen wird, ohne zu gedenken, dass man noch auf die letztere Art niemals ein­sieht, warum denn ge­ra­de die­se und nicht andre Begriffe dem reinen Verstande beiwohnen. Es war ein ei­nes scharf­sin­ni­gen Mannes wür­di­ger Anschlag des Aristoteles, diese Grundbegriffe aufzusuchen. Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Ka­te­go­ri­en (Prädikamente) nannte. In der Fol­ge glaubte er noch ihrer fünfe aufgefunden zu ha­ben, die er unter dem Na­men der Postprädikamente hinzufügte. Al­lein seine Tafel blieb noch im­mer man­gelhaft. Außerdem finden sich auch einige Modi der reinen Sinnlichkeit darunter (quan­do, ubi, situs, im gleichen prius, simul), auch ein em­pirischer (motus), die in dieses Stammregister des Ver­stan­des gar nicht gehören, oder es sind auch die ab­ge­leiteten Begriffe mit unter die Urbegriffe ge­zählt (actio, passio), und an einigen der letztern fehlt es gänz­lich." (Kant KdV:150ff.)

[6]) „Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein ...“ (Hegel 1930b:47)

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