Nicht der geringste Reiz des Positivismus ist schon immer seine Denkökonomie. Sie erspart Umwege. Jeder kommt gleich zur Sache, da ja diese ihm nur zu handgreiflich vor Augen liegt. Es braucht nicht reflektiert zu werden, unter welchen Voraussetzungen des Denkens und mit welchen Gründen andere dahin oder sonst wo gekommen sein mögen. Philosophische Prämissen verschwinden aber nicht schon dadurch, dass man von ihnen nicht spricht [2]):
„... any discussion of the laws of nature with no reference to metaphysics is a plain waste of time.” (Agassi 1993a:13)
Damit verfügt das positivistische Prinzip über einen ebenbürtigen Gegenspieler in der Tendenz zur spekulativen Konstruktion und Proliferation [3]) theoretischer Systeme. Wenn der Geist auf „Abenteuer des Gedankens“ (Hegel 1930b:4) auszieht, so ist aber immer noch das redliche Streben nach gehaltvollem Inhalt von einem sich hinter barocken Gedankengängen und Verschrobenheit des Ausdrucks verbergenden Betrug am Publikum zu unterscheiden.
“When social theorists affirm the existence of certain eternal limits in the social universe, they are creating real limits, but only on their own intellectual creativity.” (Gouldner 1971a:417)
Noch Lassalle [4]) feierte die Deutschen:
„Dem metaphysischen Volke die metaphysische Aufgabe!“
Wenn die Deutschen das metaphysische Volk gewesen waren, kann man nicht sagen, dass sie dadurch gescheiter worden wären. Begründet (nach dem Vorbild des Aristoteles) wurde diese deutsche Tradition vor allem durch Kant mit seinem großartigen Projekt einer wissenschaftlichen Metaphysik, die auf einer Tafel von Kategorien [5]) fußt, die elementar, von Erfahrung rein, verstandesmäßig und vollständig sein sollte (Heinrichs 1986a:2f). Das heißt: Wissenschaftliche Philosophie kann nicht anders denn systematisch verfasst sein.[6])
[1]) "Der Nichtdenker, der doch gesunde Sinne und Gedächtnis hat, fasst den vor seinen Augen liegenden wirklichen Zustand der Dinge auf, und merkt sich ihn. Er bedarf nichts weiter, da er ja nur in der wirklichen Welt zu leben und seine Geschäfte zu treiben hat, und zu einem Nachdenken gleichsam auf Vorrat, und dessen er nicht unmittelbar zur Stelle bedürfte, sich gar nicht gereizt fühlt. Er geht mit seinen Gedanken über diesen wirklichen Zustand nie hinaus, und erdenkt nie einen andern; aber durch diese Gewohnheit, nur diesen zu denken, entsteht ihm allmählich, und ohne dass er sich dessen eigentlich bewusst wird, die Voraussetzung, dass nur dieser sei, und nur dieser sein könne. Die Begriffe und Sitten seines Volkes und seines Zeitalters scheinen ihm die einzig möglichen Begriffe und Sitten aller Völker und aller Zeitalter. Dieser verwundert sich gewiss nicht, dass alles nun gerade so sei, wie es ist, weil es nach ihm gar nicht anders sein kann; er erhebt gewiss nicht die Frage, wie es so geworden, da es nach ihm ja von Anbeginn so gewesen. Nötigt sich ihm ja eine Beschreibung anderer Völker und anderer Zeitalter auf, oder wohl gar ein philosophischer Entwurf, wie es nirgends gewesen, aber allenthalben hätte sein sollen, so trägt er immer die Bilder seiner Welt, von denen er sich nicht losreißen kann, hinein, sieht alles durch sie hindurch, und fasst nie den ganzen Sinn dessen, was ihm vorgetragen wird. Seine unheilbare Krankheit ist die, das zufällige für notwendig zu halten. Wer sich hingegen gewöhnt hat, nicht nur das wirklich vorhandene durch den Gedanken nachzubilden, sondern auch das mögliche durch denselben frei in sich zu erschaffen, findet sehr oft ganz andere Verbindungen und Verhältnisse der Dinge, als die gegebenen ebenso möglich wie diese, ja wohl noch weit möglicher, natürlicher, vernunftmässiger; er findet die gegebenen Verhältnisse nicht nur zufällig, sondern zuweilen gar wunderlich. Er also erhebt die Frage: wie und auf welche Weise ist doch alles so geworden wie es ist, da es ja auf die verschiedensten Arten anders sein konnte? Diese Frage beantwortet ihm die Geschichte der Vorzeit; wie denn alle gründliche Geschichte nichts anderes sein kann und soll, als eine genetische Beantwortung der Kausalfrage: auf welche Weise ist denn der gegenwärtige Zustand der Dinge entstanden, und aus welchen Gründen hat die Welt sich gerade so gebildet, wie wir sie vor uns finden?" (Fichte, Handelsstaat:95.) Fichtes Unterscheidung von Denkern und Nichtdenkern erinnert an diejenige der US-Soziologie zwischen locals und cosmopolitans. "Darum ist die Luft so voll von Lebenstheorien und Weltanschauungen, und darum wirken sie hierzulande so anmaßend, weil sie am Ende fast stets der Sanktion irgendeiner ganz nichtssagenden Privatsituation gelten." (Benjamin 1955a:33)
[2]) "Historians and scientists can avoid philosophy books, but less easily the philosophical assumptions in science textbooks, and not at all their own assumptions." (Blackmore 1983a:19)
[3]) "Proliferation means that there is no need to suppress even the most outlandish product of the human brain. Everyone may follow his inclinations and science, conceived as a critical enterprise, will profit from such an activitity. Tenacity: this means that one is encouraged not just to follow one's inclinations, but to develop them further, to raise them, with the help of criticism (which involves a comparison with the existing alternatives) to a higher level of articulation and thereby to raise their defence to a higher level of consciousness." (Feyerabend 1970a:210)
[4]) Ferdinand Lassalle, Festrede: Die Philosophie Fichtes, S. 24; zit. nach Lask (1914a:268)
[5]) "Dieses ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist; indem er durch sie allein etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d.i. ein Objekt derselben denken kann. Diese Einteilung ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen (welches eben so viel ist, als das Vermögen zu denken), erzeugt, und nicht rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe entstanden, von deren Vollzähligkeit man niemals gewiss sein kann, da sie nur durch Induktion geschlossen wird, ohne zu gedenken, dass man noch auf die letztere Art niemals einsieht, warum denn gerade diese und nicht andre Begriffe dem reinen Verstande beiwohnen. Es war ein eines scharfsinnigen Mannes würdiger Anschlag des Aristoteles, diese Grundbegriffe aufzusuchen. Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Kategorien (Prädikamente) nannte. In der Folge glaubte er noch ihrer fünfe aufgefunden zu haben, die er unter dem Namen der Postprädikamente hinzufügte. Allein seine Tafel blieb noch immer mangelhaft. Außerdem finden sich auch einige Modi der reinen Sinnlichkeit darunter (quando, ubi, situs, im gleichen prius, simul), auch ein empirischer (motus), die in dieses Stammregister des Verstandes gar nicht gehören, oder es sind auch die abgeleiteten Begriffe mit unter die Urbegriffe gezählt (actio, passio), und an einigen der letztern fehlt es gänzlich." (Kant KdV:150ff.)
[6]) „Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein ...“ (Hegel 1930b:47)
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