Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Poppers gespanntes Verhältnis zur Philosophie

„... alle Menschen haben eine Philosophie, ob sie es wissen oder nicht.“ (Popper 1984a:XXV)

Trotz vorstehend zitierter Grundeinsicht - am liebsten paradiert Popper dennoch in dem Kittel des Wissenschaftlers, gerade auch und selbst wenn er philosophiert. So sind denn Positivisten samt und sonders verkappte Phi­losophen, die sich und der Welt gerne vormachen möch­ten, wenn sie dem Rest der Zunft die Wissen­schaf­ten als leuchtendes Vorbild hin­stel­len, sie trieben dabei Wissenschaft und nichts weniger als Philosophie. Doch nicht das, worüber man redet, tut man - nach dem eigenen Tun wird man zu recht benannt.

Nur zu häufig gefällt Poppers Philosophieren sich gerade darin, ex­plizite Philoso­phie ab­sichts­voll zu um­ge­hen. Nun ist Umgehen der geniale survival-Trick zum Auf­fin­den der pas­sen­den öko­logi­schen Nische [1]). Dennoch stellt sich Umgehen nicht selten als Kurz­schluss­hand­lung her­aus. Wir erleben folg­lich nur zu oft, dass Pop­per nicht davor zurück­schreckt, das Kind mit dem Badewasser auszu­schütten. Die­ses zeigt aber nicht ein bloß sub­jektiv be­dingtes Fehl­ver­halten an, sondern wird sy­ste­matisch hervorgerufen durch die Ra­di­kalität des von Popper frei nach Kant ge­wählten lo­gisch-ana­ly­tisch rigorosen Dualis­mus: entwe­der a oder non-a [2])! Dem­ge­genüber scheinen kleinere oder grö­ßere Produk­ti­ons­umwege sowie eine Dualis­men auf­wei­chen­de Herangehensweise mitun­ter doch taugli­cher, den Wert des End­produkts zu steigern.

„Science could not be demarcated by the demarcation of meaningful senten­ces. A broader theory was needed. But how broad? Popper sought to solve this pro­b­lem by keeping his mo­di­fications and additions to that mini­mum necessary to solve his pro­blems.” (Wettersten 1992a:195)

Gegenüber dem deutschen Idealismus, so weit dieser über Kant hinausgegangen war, hat Pop­per zeit­le­bens eine Denkblockade [3]) davongetragen. Dennoch muss er bezüglich der so­zi­al­phi­losophi­schen Problemgeschichte in der Linie Kant-Hegel-Marx-Bernstein verortet werden [4]). Leicht über­se­hen wird dies 1. durch Poppers Selbst­inszenierung und 2. da­durch, dass Pop­per, etwa im Ver­gleich zur politischen Philosophie He­gels und Marxens, sich nur zu einem sach­lich und historisch be­grenz­ten As­pekt desselben Pro­blemkreises äußert.

Poppers prekäres Verhältnis zu philosophischer Erkenntnis sticht unverkennbar her­vor, auch wenn bio­gra­phisch eine Entwicklung verzeichnet werden darf. Er räumt immerhin ein, dass Phi­lo­so­phen manchmal „echte Probleme“ [5]) haben. Da­mit glaubt er vielleicht schon ge­nug ge­tan zu haben, um nicht als Positivist ver­schrien werden zu dürfen. Doch grenzt er „Wissen­schaft“ auf eine solche Weise ab, dass er sein eigenes Philosophieren bzw. das Ge­schäft des Me­thodologen als „unwissen­schaft­lich“ bezeichnen muss.

Es soll jedoch Popper wahrlich nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er seine Probleme aus der phi­lo­sophischen Tradition bzw. aus der Schnittmenge zwischen Philosophie und Psy­cho­logie gewonnen ha­be.[6]) Irgendwoher muss dem nüchter­nen Verstand das „Bedürfnis der Ph­ilosophie“ (He­gel 1962a) ja kommen. Gewiss nicht - aber die antimetaphysische Mas­ke­rade, un­ter welcher er sol­ches aufführt, provoziert den Ruf nach Demaskierung. Steht hinter Poppers (1973a:32f) polemi­scher Attitüde letztlich nur die Befürch­tung, dass die aka­demische Philo­so­phie die Berührung mit der Realität verlöre, wenn sie losgelöst von em­pirischer Wissen­schaft ar­beite. Gleichsam wie eine hinweisende oder operationale Defi­nition für ei­ne em­pi­risch-wis­senschaftliche Terminologie ein Ent­scheidungsverfahren für se­man­tische Streit­fra­gen ge­währ­leiste, so stelle der Bezug auf Prob­leme der empi­ri­schen Wissenschaft den Sinn phi­losophi­schen Redens sicher - dies ist wohl unaus­ge­sprochen der empiristische Ge­danken­gang hinter der Ablehnung eigen­stän­dig philosophi­scher Pro­ble­me. Dass dies kein zwin­gen­des Argument dar­stellt, dürfte auf der Hand liegen.

So verschlägt es nicht, wenn Popper etwa, wie Al­bert dies im folgenden formu­lier­te, Philo­so­phie eher für nicht sinnlos, sondern als ab und an heuristisch frucht­bar ein­schätzt:

„Die Wissenschaft schreitet weder durch Ableitung sicherer Wahrheiten aus evi­den­ten Intuitionen mit Hil­fe deduktiver Verfahren, noch durch Ableitung sol­cher Er­kennt­nisse aus evidenten Wahrnehmungen un­ter Verwendung in­duk­ti­ver Ver­fah­ren fort, sondern durch Spekulation und rationale Argu­men­ta­ti­on, durch Kon­struk­tion und Kritik, und in beiden Hinsichten können meta­phy­sische Kon­zep­ti­o­nen Bedeu­tung gewinnen: durch Lieferung kontra-intui­ti­ver und kon­tra-indukti­ver Ideen, um unsere Denk- und Wahr­nehmungs­ge­wohn­heiten zu bre­chen und alter­native Er­klä­rungsmöglichkeiten für die realen Zu­sam­menhän­ge zu skizzieren, von denen aus ei­ne kritische Beleuchtung bis­he­riger Über­zeu­gungen mög­lich ist.“ (Albert 1980a:47)

Dem Neoliberalen (Hayek) nutzt die Religion. Einem deutschen Genießer aber nüt­zet zur Abend­stund ein Glas Moselwein. Gibt es aber auch nur irgendetwas, was nicht irgendwann, ir­gend­wo irgendjemand als heuri­stisch brauchbar erfunden hat?! Ja, nach dieser Argumen­ta­tion ist gar nicht mehr einzusehen, was Popper und Albert überhaupt gegen G.W.F.’s Dia­lektik ein­zu­wen­den hatten. Gerade Wi­der­sprüche sind äußerst produktiv, meinte das nicht einstens auch ein ver­schmitz­ter (Beyer 1967a:72) Schwabe in Berlin [7])? Ist nicht jedes Wis­sen hervo­r­gegan­gen aus einer Tradition des Unwissens, jede Wahr­heit ein Produkt der Un­wahrheit? Kann nicht auch eine Theo­rie dem nützen, der sie zwar nicht verstanden hat, je­doch fest daran glaubt? Sind nicht Glauben und Wissen so untrennbar mitein­ander ver­bun­den, dass Placebos von Medika­men­ten zu unter­schei­den nicht nur aus­sichts­los, son­dern so­gar sinnlos er­schei­nen muss?

Es geht Popper wie Albert um die Frage, wie wir Wahrheit erlangen können. Kann es da aus­rei­chen, Philosophieren mit dem (heuristischen) Nutzen zu recht­fer­tigen? Wenn Albert (1969a:193) von einer „Ein­bruchstelle“ der Philosophie in die Wis­senschaft spricht, so verrät diese Redewendung aus der Schim­melreiter [8])-Per­spektive eine po­siti­vi­stische Reminiszenz an die vorgebliche Eigen­stän­dig­keit em­pirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn Wissenschaft keine geschlossene An­stalt ist, muss die Grenze zur Philosophie nach beiden Seiten os­moti­sche Eigen­schaften auf­wei­sen. An die­ser Grenze darf es keine gate-keeper geben, auch wenn diese sich mit dem Lo­go „kritisch-rational“ schmücken sollten. Wenn Demokratie und Wissenschaft Wäch­ter benö­ti­gen, dann im Sin­ne eines internen Kritik­me­cha­nismus, wie Agassi ihn viel­leicht zu opti­mi­stisch in den under­ground leaders [9]) be­schworen hat.

Anti-Metaphysik ist bei Lichte besehen nichts anderes als Dogmatismus in der Philosophie.[10]) Denn mit der Leugnung von Philosophie wird auch der Pluralismus an Alternativ-Philosophien ig­no­riert. Es regiert daher in diesem Falle stets unan­ge­fochten die eigen­tüm­li­che implizite Phi­lo­so­phie des jeweiligen Anti-Metaphysikers. Ein kritischer Vergleich wird durch das Dekla­rie­ren der Sinnlosigkeit der De­batte eo ipso aus derselben ausgegrenzt. Das kritische Po­tential in­des­sen des Positivismus liegt in der Zurückführung auf ganz bestimm­te Arten von Prüfinstan­zen (empiri­sche Datenbasis, formale Lo­gik und common sense), und zwar „gegen den Strich“ der je­weiligen Vertreter theore­tischer Spekulation. Dies kommt vor al­lem dann zum Tra­gen, wenn sich letztere die Hose mit der Zange anziehen, wie z. B. der Ide­alist, dem das „Ding an sich“ zum unlösbaren Problem wird, oder beispiels­wei­se Parsons, dessen Inte­gra­tionsmodell von Ge­sellschaft keine Konflikte mehr zu­lässt (Mills 1963a:84ff). Statt­dessen er­laubt sich der Po­si­ti­vist, um­standslos zur Sache zu kommen. Lei­der übersieht er in seiner Fak­ten­verliebtheit dar­über oft, dass sein eigentliches Ge­schäft ge­nau darin zu be­stehen hat, die­sel­ben Fakten the­ore­tisch zu erklären. Während der eine über lauter Spekulati­on nicht mehr auf den Boden der Fak­ten zurückfindet, gelingt es dem ande­ren nicht oder wagt er es nicht, sich in den Himmel des universellen Denkens auf­zu­schwingen.

Die dem Positivismus immanente Arroganz, jedwede Tradition erst einmal zu ent­werten bzw. mit dem Verdacht zu belegen, nichts weiter als entarteter höherer metaphysischer Un­sinn zu sein, läuft de facto darauf hinaus, Tradition nur noch un­gewusst zu ertragen..

„... the impact of our philosophies upon our actions and our lives is often de­va­sta­ting. This makes it ne­ces­sary to improve our philosophies by criticism.” (Popper 1973a:33)

Das Problem ist jedoch, dass in solchen Fragen durch ein auch nur minimales Zu­geständ­nis die Prob­lem­si­tu­ation überhaupt sich schlagartig qualitativ ändert. Hier gilt die Null-Pro­mille-Gren­ze: Wenn ich auch nur eine metaphysische These zulas­se, lasse ich Metaphysik über­haupt zu. In die­sem Falle stellt sich dann die be­rech­tigte Frage, warum ich bei einem Mi­ni­mum ste­hen bleiben soll, oder ob es nicht sinnvoll im Sin­ne einer Zielsetzung maxi­ma­ler Kri­ti­sierbar­keit ist, Metaphysik in Form von Systemen nicht nur zu­zu­las­sen, sondern zu för­dern. Me­ta­phy­sik ist dann sogar aus sys­tematischen Gründen gefordert! Wir brau­chen Philosophie, um die Pro­bleme zu lösen, die wir ohne sie überhaupt nicht hät­ten.



[1]) "So it is with all ecological niches. They are potentialities and may be studied as such in an ob­jective way, up to a point independently of the question of whether these potentialities will ever be actualized by any living orga­nism." (Popper 1973a:117)

[2]) "Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem an­dern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Ge­genstände der Un­ter­su­chung. Er denkt in lauter un­ver­mittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn exi­stiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebenso wenig zu­gleich es selbst und ein and­res sein. Positiv und negativ schlie­ßen ein­an­der absolut aus; Ursache und Wir­kung stehen ebenso in starrem Gegensatz zuein­an­der." (Engels, Anti-Dühring:31)

[3]) Er unterzog sich in dieser Hinsicht einer "hygiène cérébrale"- Ausdruck von Comte (Negt 1964a: 25).

[4]) Dies macht Günther (1984a) deutlich.

[5] ) Popper (1984b:102) liefert eine Problemauflistung: Abgrenzung, Induktion, Realismus, Ob­jek­tivität, Dar­wins Selektionstheorie, Welt 3 und Leib-Seele-Problem, etc.

[6] ) „It was not Popper’s new solution to an old problem which caused the decisive break with the dominant tradition in the philosophy of science but the reformulation of the problems. This re­formulation was, incidentally, based on an analysis of the then current philosophical views and not just on an analysis of scien­ce: Popper’s own philosophy does not meet its stan­dard of finding its pro­blems exclusively outside of philosophy; it is a reaction to the interacti­on between philoso­phy and science.” (Wettersten 1992a:209)

[7]) "Dass Ich in Berlin bin, diese meine unmittelbare Gegenwart, ist vermittelt durch die ge­mach­te Reise hier­her, u. s. f." (Hegel 1930b:95)

[8]) Frei nach der gleichnamigen Novelle von Theodor Storm, die von einem dämonisch- preu­ßisch pflicht­be­wussten Deichgrafen handelt, der das Volk gegen dessen eigenen Willen und Ein­sicht vor den Fluten der Nordsee zu retten suchte.

[9]) „guardians who are motivated by the love of freedom; they must be serious and sincere and honest. (...) The Cabalist tradition calls them the thirty-six righteous; they are anonymous and they keep the world going round." (Agassi 1993a:232)

[10]) "Hier gilt es nicht darum, die Idee der Philosophie emporzuheben, sondern die Winkelzüge aufzu­de­cken, welche die Subjektivität, um der Philosophie zu entgehen, anwendet, sowie die Schwä­che, für welche ei­ne Be­schränkt­heit ein sicherer Halt ist, teils für sich, teils in Rücksicht auf die Idee der Philosophie, die mit einer Subjektivität vergesellschaftet wird, anschaulich zu machen; denn wahre Energie jener Idee und Subjektivität sind unverträg­lich." (Hegel, Aufsätze:9)

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