Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Ist Popper ein Positivist?

Diese Streitfrage geriet einstmals zum dernier cri eines Happe­nings, zur Spek­takel­freu­de der Ju­gend ver­an­staltet von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Dahms 1994a:267ff). Der so ge­nannte „Streit“ kann bis heu­te zum Lehrbuchbei­spiel degenerierter Kom­mu­nika­ti­onsbezie­hun­gen zwischen Wissenschaftlern die­nen.

Selbst Albert, ein Philosoph, der ganz woanders herkam, hatte aus der Ferne noch kaum Un­ter­schiede zwischen Popper und dem Wiener Kreis auszumachen ver­mocht. Albert (1996a:32) hat je­denfalls da­mit recht, dass er seine eigene Eman­zipation vom Positivismus auf Popper zu­rückfüh­ren kann. Man kann Albert (1980a: VII) ebenfalls einräumen, dass Popper nicht ein Posi­ti­vist rein­sten Wassers zu nen­nen sei, dass dieser gar den Neoposi­ti­vis­mus des Wiener Kreises an­gegrif­fen habe. Zumindest erwies sich das durch Poppers im­manente Kri­tik demonstrierte Schei­tern des lo­gischen Positivismus wirk­samer als die äu­ßerliche Kri­tik, wel­che von Hork­hei­mer und Adorno so beharrlich wie unergiebig vorge­tra­gen worden war (Dahms 1994a). Doch ge­rade das immanente Vorgehen durfte auch den Ein­druck verstärken, dass Popper einfach da­zu ge­hörte, weil er mit Po­sitivisten die Spra­che der Posi­ti­vi­sten zu reden versuchte - und andere Sprachen entweder minder gut be­herrschte oder es an­schei­nend nicht für nötig hielt.

Die Einsicht, dass Fakten ohne Theorie [1]) nicht existieren, ist Positivisten schon per De­fi­ni­ti­on verschlossen. Erst diese Einsicht - eine reife Frucht Platons sowie des deutschen Ide­alismus [2]), die Popper (1994b:45) über Kant beziehen konnte - hatte seiner Kritik des lo­gi­schen Positi­vis­mus die volle Durchschlagskraft verlie­hen.

Von welcher Position aus hat Popper (1984a) aber genau besehen den Neopo­siti­vismus kri­ti­siert? [3]) In seinem Exposee von 1933 sagt Popper (1994b) selbst, dass sein Buch durch Pro­blem­stel­lung und Me­thode dem modernen Positivismus [4]) na­he stünde und sich ge­ra­de deswe­gen mit die­sem am kri­tischsten ausein­ander­set­ze, indem es den „Grundwiderspruch des Positivis­mus“ [5]) aufzuwei­sen unter­neh­me. Dieser be­stehe dar­in, dass die positivistische Deu­tung dem tat­säch­lichen Ver­fah­ren der Wis­sens­chaft widerspreche. Der strenge Posi­ti­vis­mus deu­tet näm­lich ein Na­turge­setz le­dig­lich als ei­nen zu­sammenfassenden Bericht über einzelne Tat­sa­chen (1994b:48). Wissenschaft erstrebe indessen theo­retische Erklärungen, und die sind ohne Natur­gesetze und Theorien nicht zu haben. Man darf wohl sagen, Pop­per steht in dieser Hinsicht Hegels Position näher als der des Neopositi­vis­mus.[6])

Die Differenzen innerhalb des Paradigmas, woran man sich orientiert, werden ger­ne grö­ßer dar­ge­stellt, als sie tatsächlich sind. Innerhalb gegnerischer Para­dig­ma­ta [7]) wer­den sie hin­ge­gen ver­gleichs­weise nivelliert oder verschwinden gar völ­lig aus dem Blickfeld. Eben somit kle­ben aber Poppers „Lo­gik der Forschung“ (1984a) immer noch et­li­che positi­visti­sche - d.h. antimeta­physische - Ei­er­scha­len [8]) an den Ohren; wie denn so oft innerhalb einer Pro­blemtradition, wenn bestimm­te An­nahmen kritisiert werden, unweiger­lich dagegen ande­re An­nahmen als Hi­ter­grundwissen unge­prüft stehen bleiben und sol­chermaßen unbewusst mit­übernom­men wer­den.[9]) Lakatos (1970a: 106) erörtert der­lei Fra­gen, Popper nach­folgend, un­ter der Rubrik „back­ground know­ledge“. Hinter­grund­wissen ist 1. unvermeidlich; 2. je­doch ist die Voraussetzung sei­ner Wahr­heit im jeweiligen Dis­kus­si­onszusam­men­hang im Grunde nichts wei­ter als Konventi­on. Denn es ist generell un­serer eige­nen Ent­schei­dung an­heim­gestellt, was und wieviel an Tra­diti­on wir je­weils als wahre Vor­aus­setzungen ein­setzen möchten und was nicht. Besonders pro­ble­ma­tisch wird dergleichen Hinter­grundwissen aller­dings, falls es implizit zur Be­grün­dung von The­sen her­ange­zo­gen wird, zu denen es offen­sicht­lich inkom­patibel ist, hätte man es nur sorg­fäl­tig expliziert.

In den meisten Fällen wird das Urteil Dritter um einiges objektiver aus­zu­fal­len als die ei­gene Selbst­dar­stellung.[10]) Popper steht in der Problemtradition des Wie­ner Kreises sowie in der­jeni­gen der Erkenntnistheorie und Psychologie der Würzburger Schu­le (Wet­tersten 1992a). „Wissen­schaft“ ist nicht als Mitgliedschaft in einer be­stimm­ten Schule von Ge­lehrten zu begreifen, die bloß Rätsel aus dem Vorrat eines bestimmten Paradigmas löst, son­dern als eine Ortsbestim­mung innerhalb der Tra­di­tions­linie einer dialek­tisch fort­laufenden Kritik ei­nes bestimmten Aus­gangs­pro­blems. Nicht wozu man sich bekennt, son­dern woran man sich kritisch beteiligt, muss man unter den metho­dologischen Gesichts­punkten des Fal­li­bilismus zuge­ordnet werden. So erfolgt Poppers Ein­ordnung in die „Wie­ner Tradition“ (in der Li­nie Platon – Frege – Rus­sell - Neo­positi­vismus) wissen­schafts­hi­sto­risch wohl be­grün­det. Der Kritische Rationalismus ist so betrachtet die libe­ral­ste positivi­sti­sche Methodologie, die wir besitzen (Feyerabend 1976a:239).

Es sind indessen verschiedene Problemtraditionen historisch rekonstruierbar, und zwar im­mer im Aus­gang von den Problemen, mit welchen Popper sich jeweils aus­einander­ge­setzt hat: 1) Po­si­tivismus des Wiener Kreises, 2) die Psychologie im Ausgang von Kant über Külpe hin zur Würzburger Schule, 3) der Empirismus und Induktivismus, ausgehend von Bacon und Hume. Denn zu jedem Problem­kreis, zu welchem Popper seine Kritik bei­ge­tragen hat, darf und muss er mit Fug und Recht in die ent­sprechende wissenschaftlichen Tradition ein­geordnet werden.



[1]) So wirft Lakatos (1970a:176, Anm.1) den Sozialpsychologen vor, statistische Techniken als The­orie-Er­satz miss­zu­verstehen und zu missbrauchen.

[2]) vgl. Rickert (1929a:VIIff), welcher gegen Fries ausdrücklich auf Kant sowie auf Goethes Far­ben­lehre ver­weist. "Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten." (Ulrich Clewing, Erwar­tungsge­schich­te. "Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu brin­gen": Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich wird heute 85 Jahre alt, TAZ Nr. 4277, S. 13 vom 30.03.1994)

[3]) „Wenn man liest, dass P. über den Konventionalismus und den Positivismus, ja sogar auch über den Em­pi­ris­mus meist scharf ablehnend spricht, während z.B. Kant nicht so ablehnend be­han­delt wird und so­gar die Me­ta­physik noch ziemlich gut wegkommt, so könnte man bei flüchti­gem Lesen vielleicht glauben, P. sei, wenn nicht gar Metaphysiker, so doch wohl Apriorist und An­ti-Empirist. Seine sachlichen Darle­gun­gen zei­gen dagegen, dass er Empirist und Gegner des Aprio­rismus ist. Seine Auffassung kann auch als kon­ven­tio­na­li­stisch und positivistisch bezeichnet wer­den, wenn man diese Wörter in einem weiten Sinne ver­steht, wie wir es im Wiener Kreis zuweilen tun, um sie dann auf uns selbst anzuwenden. Den Auffassungen des Wiener Krei­ses steht P. ganz besonders nahe. In seiner Darstellung erscheinen die Differenzen viel grö­ßer als sie tat­säch­lich sind.“ (Carnap 1935a:293); vgl. dazu auch Keuth (1998b), Kraft (1950a).

[4]) Russell, Schlick, Frank, Carnap, Reichenbach. Wittgensteins "Tractatus Logico-Philosophicus" wird gemeinhin als die Bibel des logischen Positivismus betrachtet. "Popper never belonged to the Vien­na Circle, never took part in its meetings, and yet cannot be thought of as out­side it." (Kraft 1974a:185)

[5]) "Als radikal empiristisch kann man den strenge Positivismus deshalb bezeichnen, weil er nicht nur die em­pi­ri­sti­sche Grundthese programmatisch voll anerkennt, sondern sogar noch weiter geht: Er lehrt nicht nur, dass allein Er­fahrung über die Wahrheit und Falschheit eines Satzes ent­schei­det, sondern er behauptet (die cha­rakteristi­sche Be­haup­tung jeder Form des Positivismus) dass al­le Wissenschaftlich zulässigen (alle 'legiti­men') Sätze, jede em­pirisch-wissenschaftliche Er­kennt­nis sich restlos auf Erfahrungen (auf Wahrneh­mungs­erlebnisse) zurück­füh­ren lassen muss." (Pop­per 1994b:44)

[6]) siehe 8.7.1

[7]) "Die oberflächliche Ansicht der phi­losophischen Streitigkeiten lässt nur die Differenzen der Systeme erblicken, aber schon die alte Regel »contra negantes principia non est disputandum« gibt zu er­kennen, dass, wenn philo­so­phi­sche Sy­ste­me miteinander streiten - ein anderes ist es freilich, wenn Philo­so­phie mit Un­Philosophie streitet -, Einig­keit in den Prinzipien vorhanden ist, welche, über allen Er­folg und Schicksal erhaben, sich nicht aus dem, worüber ge­stritten wird, erkennen las­sen und dem Gaffen entgehen, welches immer das Gegenteil von dem er­blickt, was vor seinen Au­gen vorgeht." (Hegel, Aufsätze:59) Zur Abhängigkeit der Wahrnehmungsskalierung einer wahr­neh­men­den Person von ihren Werthaltungen siehe Secord, Back­man (1964a)

[8]) "Wir können dieses uferlose Diskutieren zwischen metaphysischen Gegnern, die Möglich­keit, gegen jede The­se dauernd eine Antithese zu konstruieren und gegen diese wieder eine Replik, ge­ra­dezu als Kennzeichen des me­ta­physischen Charak­ters einer Behauptung ansehen: Das Auftre­ten ei­ner solchen Antinomie ist für uns kein Mo­tiv, die Antinomie aufzulösen (wie noch Kant ver­such­te), sondern ein Motiv, die ganze Fragestellung als me­ta­physisch zurück­zuweisen ..." (Popper 1994b:387)

[9]) „Wie die erste Kritik jeder Wissenschaft notwendig in Voraussetzungen der Wissenschaft, die sie be­kämpft, be­fangen ist, ..." (Marx, Engels, Die heilige Familie, MEW 2:5) -.

[10]) Den Nagel auf den Kopf trifft Wettersten: „... just as positivists may have trouble un­der­standing Popper because of the degree to which he has re­jected positivism, followers of Popper tend to neglect the lasting influence of positivism on his own thought and how slow the process out of this perspec­tive was.” (1992a:176, Anm.15)

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