Selbst Albert, ein Philosoph, der ganz woanders herkam, hatte aus der Ferne noch kaum Unterschiede zwischen Popper und dem Wiener Kreis auszumachen vermocht. Albert (1996a:32) hat jedenfalls damit recht, dass er seine eigene Emanzipation vom Positivismus auf Popper zurückführen kann. Man kann Albert (1980a: VII) ebenfalls einräumen, dass Popper nicht ein Positivist reinsten Wassers zu nennen sei, dass dieser gar den Neopositivismus des Wiener Kreises angegriffen habe. Zumindest erwies sich das durch Poppers immanente Kritik demonstrierte Scheitern des logischen Positivismus wirksamer als die äußerliche Kritik, welche von Horkheimer und Adorno so beharrlich wie unergiebig vorgetragen worden war (Dahms 1994a). Doch gerade das immanente Vorgehen durfte auch den Eindruck verstärken, dass Popper einfach dazu gehörte, weil er mit Positivisten die Sprache der Positivisten zu reden versuchte - und andere Sprachen entweder minder gut beherrschte oder es anscheinend nicht für nötig hielt.
Die Einsicht, dass Fakten ohne Theorie [1]) nicht existieren, ist Positivisten schon per Definition verschlossen. Erst diese Einsicht - eine reife Frucht Platons sowie des deutschen Idealismus [2]), die Popper (1994b:45) über Kant beziehen konnte - hatte seiner Kritik des logischen Positivismus die volle Durchschlagskraft verliehen.
Von welcher Position aus hat Popper (1984a) aber genau besehen den Neopositivismus kritisiert? [3]) In seinem Exposee von 1933 sagt Popper (1994b) selbst, dass sein Buch durch Problemstellung und Methode dem modernen Positivismus [4]) nahe stünde und sich gerade deswegen mit diesem am kritischsten auseinandersetze, indem es den „Grundwiderspruch des Positivismus“ [5]) aufzuweisen unternehme. Dieser bestehe darin, dass die positivistische Deutung dem tatsächlichen Verfahren der Wissenschaft widerspreche. Der strenge Positivismus deutet nämlich ein Naturgesetz lediglich als einen zusammenfassenden Bericht über einzelne Tatsachen (1994b:48). Wissenschaft erstrebe indessen theoretische Erklärungen, und die sind ohne Naturgesetze und Theorien nicht zu haben. Man darf wohl sagen, Popper steht in dieser Hinsicht Hegels Position näher als der des Neopositivismus.[6])
Die Differenzen innerhalb des Paradigmas, woran man sich orientiert, werden gerne größer dargestellt, als sie tatsächlich sind. Innerhalb gegnerischer Paradigmata [7]) werden sie hingegen vergleichsweise nivelliert oder verschwinden gar völlig aus dem Blickfeld. Eben somit kleben aber Poppers „Logik der Forschung“ (1984a) immer noch etliche positivistische - d.h. antimetaphysische - Eierschalen [8]) an den Ohren; wie denn so oft innerhalb einer Problemtradition, wenn bestimmte Annahmen kritisiert werden, unweigerlich dagegen andere Annahmen als Hitergrundwissen ungeprüft stehen bleiben und solchermaßen unbewusst mitübernommen werden.[9]) Lakatos (1970a: 106) erörtert derlei Fragen, Popper nachfolgend, unter der Rubrik „background knowledge“. Hintergrundwissen ist 1. unvermeidlich; 2. jedoch ist die Voraussetzung seiner Wahrheit im jeweiligen Diskussionszusammenhang im Grunde nichts weiter als Konvention. Denn es ist generell unserer eigenen Entscheidung anheimgestellt, was und wieviel an Tradition wir jeweils als wahre Voraussetzungen einsetzen möchten und was nicht. Besonders problematisch wird dergleichen Hintergrundwissen allerdings, falls es implizit zur Begründung von Thesen herangezogen wird, zu denen es offensichtlich inkompatibel ist, hätte man es nur sorgfältig expliziert.
In den meisten Fällen wird das Urteil Dritter um einiges objektiver auszufallen als die eigene Selbstdarstellung.[10]) Popper steht in der Problemtradition des Wiener Kreises sowie in derjenigen der Erkenntnistheorie und Psychologie der Würzburger Schule (Wettersten 1992a). „Wissenschaft“ ist nicht als Mitgliedschaft in einer bestimmten Schule von Gelehrten zu begreifen, die bloß Rätsel aus dem Vorrat eines bestimmten Paradigmas löst, sondern als eine Ortsbestimmung innerhalb der Traditionslinie einer dialektisch fortlaufenden Kritik eines bestimmten Ausgangsproblems. Nicht wozu man sich bekennt, sondern woran man sich kritisch beteiligt, muss man unter den methodologischen Gesichtspunkten des Fallibilismus zugeordnet werden. So erfolgt Poppers Einordnung in die „Wiener Tradition“ (in der Linie Platon – Frege – Russell - Neopositivismus) wissenschaftshistorisch wohl begründet. Der Kritische Rationalismus ist so betrachtet die liberalste positivistische Methodologie, die wir besitzen (Feyerabend 1976a:239).
Es sind indessen verschiedene Problemtraditionen historisch rekonstruierbar, und zwar immer im Ausgang von den Problemen, mit welchen Popper sich jeweils auseinandergesetzt hat: 1) Positivismus des Wiener Kreises, 2) die Psychologie im Ausgang von Kant über Külpe hin zur Würzburger Schule, 3) der Empirismus und Induktivismus, ausgehend von Bacon und Hume. Denn zu jedem Problemkreis, zu welchem Popper seine Kritik beigetragen hat, darf und muss er mit Fug und Recht in die entsprechende wissenschaftlichen Tradition eingeordnet werden.
[1]) So wirft Lakatos (1970a:176, Anm.1) den Sozialpsychologen vor, statistische Techniken als Theorie-Ersatz misszuverstehen und zu missbrauchen.
[2]) vgl. Rickert (1929a:VIIff), welcher gegen Fries ausdrücklich auf Kant sowie auf Goethes Farbenlehre verweist. "Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten." (Ulrich Clewing, Erwartungsgeschichte. "Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen": Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich wird heute 85 Jahre alt, TAZ Nr. 4277, S. 13 vom 30.03.1994)
[3]) „Wenn man liest, dass P. über den Konventionalismus und den Positivismus, ja sogar auch über den Empirismus meist scharf ablehnend spricht, während z.B. Kant nicht so ablehnend behandelt wird und sogar die Metaphysik noch ziemlich gut wegkommt, so könnte man bei flüchtigem Lesen vielleicht glauben, P. sei, wenn nicht gar Metaphysiker, so doch wohl Apriorist und Anti-Empirist. Seine sachlichen Darlegungen zeigen dagegen, dass er Empirist und Gegner des Apriorismus ist. Seine Auffassung kann auch als konventionalistisch und positivistisch bezeichnet werden, wenn man diese Wörter in einem weiten Sinne versteht, wie wir es im Wiener Kreis zuweilen tun, um sie dann auf uns selbst anzuwenden. Den Auffassungen des Wiener Kreises steht P. ganz besonders nahe. In seiner Darstellung erscheinen die Differenzen viel größer als sie tatsächlich sind.“ (Carnap 1935a:293); vgl. dazu auch Keuth (1998b), Kraft (1950a).
[4]) Russell, Schlick, Frank, Carnap, Reichenbach. Wittgensteins "Tractatus Logico-Philosophicus" wird gemeinhin als die Bibel des logischen Positivismus betrachtet. "Popper never belonged to the Vienna Circle, never took part in its meetings, and yet cannot be thought of as outside it." (Kraft 1974a:185)
[5]) "Als radikal empiristisch kann man den strenge Positivismus deshalb bezeichnen, weil er nicht nur die empiristische Grundthese programmatisch voll anerkennt, sondern sogar noch weiter geht: Er lehrt nicht nur, dass allein Erfahrung über die Wahrheit und Falschheit eines Satzes entscheidet, sondern er behauptet (die charakteristische Behauptung jeder Form des Positivismus) dass alle Wissenschaftlich zulässigen (alle 'legitimen') Sätze, jede empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis sich restlos auf Erfahrungen (auf Wahrnehmungserlebnisse) zurückführen lassen muss." (Popper 1994b:44)
[6]) siehe 8.7.1
[7]) "Die oberflächliche Ansicht der philosophischen Streitigkeiten lässt nur die Differenzen der Systeme erblicken, aber schon die alte Regel »contra negantes principia non est disputandum« gibt zu erkennen, dass, wenn philosophische Systeme miteinander streiten - ein anderes ist es freilich, wenn Philosophie mit UnPhilosophie streitet -, Einigkeit in den Prinzipien vorhanden ist, welche, über allen Erfolg und Schicksal erhaben, sich nicht aus dem, worüber gestritten wird, erkennen lassen und dem Gaffen entgehen, welches immer das Gegenteil von dem erblickt, was vor seinen Augen vorgeht." (Hegel, Aufsätze:59) Zur Abhängigkeit der Wahrnehmungsskalierung einer wahrnehmenden Person von ihren Werthaltungen siehe Secord, Backman (1964a)
[8]) "Wir können dieses uferlose Diskutieren zwischen metaphysischen Gegnern, die Möglichkeit, gegen jede These dauernd eine Antithese zu konstruieren und gegen diese wieder eine Replik, geradezu als Kennzeichen des metaphysischen Charakters einer Behauptung ansehen: Das Auftreten einer solchen Antinomie ist für uns kein Motiv, die Antinomie aufzulösen (wie noch Kant versuchte), sondern ein Motiv, die ganze Fragestellung als metaphysisch zurückzuweisen ..." (Popper 1994b:387)
[9]) „Wie die erste Kritik jeder Wissenschaft notwendig in Voraussetzungen der Wissenschaft, die sie bekämpft, befangen ist, ..." (Marx, Engels, Die heilige Familie, MEW 2:5) -.
[10]) Den Nagel auf den Kopf trifft Wettersten: „... just as positivists may have trouble understanding Popper because of the degree to which he has rejected positivism, followers of Popper tend to neglect the lasting influence of positivism on his own thought and how slow the process out of this perspective was.” (1992a:176, Anm.15)
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