Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Orakeln

Schon Platons So­krates polemisierte in seiner Ver­teidi­gungs­rede gegen Dich­ter, die nicht durch Weis­heit dich­ten, sondern durch eine Naturgabe und in der Be­gei­ste­rung, eben wie die Wahr­sa­ger und Ora­kel­sänger[1]). Auch Kant kennt den Un­terschied zwi­schen dem Stil des populären Vor­trags und einer streng wissen­schaft­li­chen, d.h. lo­gisch-argu­mentativen oder dialektischen Dar­stellung.

„orakelnd“ nennt Popper nun He­gels Darstellung und kennzeichnet Hegellektüre als ef­fi­zi­en­ten Weg, schnell­stens ins Ir­ren­haus zu kommen.[2]) Was Popper an Dun­­kelheit des Aus­drucks rügt, konn­te He­gel von seinen Le­sern noch unterstellen, dass er die relevanten Au­to­ren und de­ren Tex­te im Sinne hatte. Die Schwie­rig­kei­ten des heutigen Lesers, Hegel zu fol­gen, be­ruht wohl nicht nur auf seinem be­griffs­platonischen Stil zu argumentieren, sondern zu ei­nem gro­ßen Teil auch auf der feh­len­den Angabe der Fundstellen der Texte, über welche sein ei­gener Text schreibt (inter­textuality [3]). Wenn wir Feu­erbach glauben dürfen, war Hegel in sei­nen Vor­le­sun­gen nicht im selben Maße un­deut­lich.[4])

War Hegel ein Scharlatan? So müsste man dann jeden Professor der Philosophie schelten, der dem Staate gibt, was diesem nach Auffas­sung der Regierenden zu­steht, und je­den prätenziösen Autoren, der auf dem Buchdeckel oder in der Ein­leitung mehr verspricht, als was er im Haupt­tei­le halten kann. Popper war in der Wahl seiner Titel beinahe auch schon rei­ßerisch zu nennen, was vielleicht nicht allein der Verleger verantwortete.

Hegel selbst hätte wohl mit einem seiner Lieblingsschimpfwörter [5]): „seicht“ [6]) gekontert, wo­mit er eine Weise des Philosophierens anprangerte [7]), die ihren eigenen Wahrheitsanspruch ge­gen das Lin­sen­gericht einer rhetorisch wirkungs­vol­len Anpassung an das populär Ein­gän­gi­ge ver­scher­belt. Was ist nun besser, All­ge­meinverständlichkeit oder philosophische Gründ­lich­keit? Das Be­streben, klarer zu sprechen, als die Sache es erlaubt, kann sachlich be­grün­de­te Un­klar­heiten nur ver­decken. Ober­flächliche [8]) Philosophie hindert den Fortschritt der Wissen­schaf­ten.

Ob jemand verständlich schreibt, ist eine andere Frage, als ob er relevante Pro­bleme aufspürt und sich mit ihnen auseinandersetzt: Verständlich­keit vs. Problem­tiefe.

Popper stellt zurecht heraus, dass eine Strategie des Dogmatismus häufig darin besteht, etwas Un­ge­nau­es als Genaues zu präsentieren. Statt die in einem Pro­blem angelegten Lösungsper­spek­ti­ven in ihrem al­ter­na­tiven Charakter deutlich her­auszuarbeiten, werden diese verdeckt durch einen leer­for­mel­haf­ten Kom­pro­miss. Ein unbestimmter Begriff bestimmt alles und nichts. Absolut ge­nommen: Sein ist Nichts, und Nichts ist Sein (Hegel 1930b:§87). Die hyper­pla­stische Charak­ter­lo­sig­keit erlaubt ins­ge­heim un­kon­trol­lierte Bedeutungsverschiebungen in je­de beliebige Richtung. Das Interpretati­ons­mo­no­pol wird be­stärkt, der Adressat durch einen scho­lastifizierten, scheinbar undurchdringlichen For­mel­apparat schach­matt ge­setzt. Ein derart ma­gischer [9]) Gebrauch einer Theorie ist weitgehend un­ab­hängig von ihrem In­halt und ihrer lo­gi­schen Form, sondern berührt den pragmatischen Kontext der Theorieverwendung, ins­be­son­dere die angewandte Argumenta­ti­ons­stra­tegie - falls man überhaupt von Argumenten spre­chen kann. Er lässt sich aber nur durch Erwei­te­rung des Umfangs der Text- und Kom­mu­ni­ka­tions­analysen be­le­gen, nicht doch an her­aus­gegriffenen, vom Kontext isolierten Begriffen oder Aus­sa­gen.

Es wäre schwer, sich zu entscheiden, sollte man vor die Alternative zwischen ei­ner möglichst großen Ziel­gruppe von Adressaten oder einem Maximum an kommu­ni­zierbarem Inhalt ge­stellt sein. Philo­so­phi­scher Tiefsinn oder populäre Sprache ha­ben gerade zu Zeiten der Zensur inner­halb der Geschichte der deutschen philoso­phi­schen Literatur eine nicht zu unterschät­zen­de Rol­le ge­spielt, gerade auch was das Verhältnis Philosoph zu Publikum und zur Tagespoli­tik anbe­traf.



[1]) Platon (Des Sokrates Verteidigung:17)

[2]) Darauf antwortet Marx: „Wenn aber einzelne Individuen die moderne Philosophie nicht ver­dauen und an phi­lo­sophischer Indigestion sterben, so beweist das nicht mehr gegen die Philo­so­phie, als es gegen die Mechanik be­weist, wenn hie und da ein Dampfkessel einzelne Passagiere in die Luft sprengt." (MEW 1:100)

[3]) In der intertextuality zeigt sich die Geschichte des Geistes als geschichtet (verlinkt und dem Sinne nach inein­ander verwoben).

[4]) "Wie oft ist daher nicht über seine Sprache gesprochen und wer gegen sein System nichts zu sagen wusste, bekrittelte mindestens seinen Vortrag." (Rosenkranz 1977a:16) Oder fasziniert etwa Hegel wie heute etwa Par­sons (so Mills 1963a:65) oder Luhmann nur durch die schiere Un­mög­lich­keit, die jeweiligen Texte über­haupt zu verstehen?! Schwerverständ­lich­keit mag faszi­nie­ren und/oder zu Prestigedenken Anlass geben. Ein anderes Statussymbol kann in der Wis­senschaft auch absichtsvolle Ignoranz sein: Bestimmte Probleme und Autoren sind nicht „in“; es lohne sich nicht, sie zu diskutieren, weil sie „wissenschaft­lich“ widerlegt seien. Wer sie zu zitieren wagt, outet sich als wissenschaftlicher Außenseiter. Wissenschaftliche Methode entpuppt sich so­dann als die Fähigkeit, zum betreffenden Zeitpunkt, etwa in der Prü­fungs­situation, die richtigen Au­toritäten „wissenschaftlicher Kritik“ zu zitieren, etwa Popper.

[5]) Wettersten (1992a:241) behandelt, abweichend von seiner sonst sehr korrekten und objekti­ven Art, Laka­tos in einer abwertenden, gar denunziatorischen Weise ('communist politician', 'neo-He­gelian', 'reac­tionary'), wofür jedoch über­haupt kein triftiger Grund zu erkennen ist. Wirkt auch in­nerhalb der philosophy of science die mob psychology (Lakatos 1970a)? Handelt es sich hierbei um die Nachwehen der Diadochenkämp­fe um 'die wahre Lehre' Poppers?! "I do not know on whom to pin this unneeded harshness, on science, on philosophy, or on the philosophy of science. Whoever they are, if I only knew how to tickle their fancy and make them smile!" (Agassi 1993a:10) Dass La­katos Ideen von Agassi geborgt habe oder die Kritikimmunität des hard core von For­schungs­pro­grammen behaupte, scheint mir derlei persönliche Animo­si­täten keineswegs sachlich aus­rei­chend rechtfertigen zu können. So konstatiert Andersson (1988a) recht nüch­tern: "Die Tat­sa­che, dass ei­nige zentrale Teile einer Theorie oder eines Forschungs­pro­gramms nicht in Frage gestellt wer­den, muss nicht, wie Lakatos es versucht, damit erklärt werden, dass sie durch ei­ne methodo­lo­gi­sche Ent­schei­dung unfalsifizierbar gemacht worden sind, sondern kann als ein un­dog­matischer Ver­such gesehen werden, Pro­ble­me durch geringfügige theoretische Modifikationen der peri­phe­ren Teile der Theorie oder des For­schungs­programms zu lösen." Dass persönliche Vor­fälle den Hin­tergrund für derartige Beur­teilungen ab­ge­ben, lässt sich aufgrund eines Hin­wei­ses bei Agassi (1993a:156) ver­muten, wo Lakatos in der Rolle des aka­de­mischen Intriganten auftritt. Deut­lich er­scheint dabei nur eines: Anscheinend lässt sich ein Popperianer (selbst noch in der 2. Gene­ra­tion!) im­mer noch am leichtesten an den Schimpfwörtern iden­tifizieren, welche er gebraucht. Hierzu die­se anthropo­logische Betrachtung: "Phänomenologisch von Wichtigkeit ist, dass bei den letztge­nann­ten Ge­le­gen­hei­ten, also dem Segnen, Verflu­chen usw., der Wortgestaltung nach eigener Fin­dung wesentlich grö­ße­rer Spielraum ge­las­sen scheint, als bei den Anlässen, wo ein Schaden ver­hin­dert oder beho­ben werden soll. Hier bedient man sich bei­nahe immer fester, er­lern­ter Formeln. Beim Segnen und Fluchen mit ihren un­ge­zwungenen Formulierungen kommt es jedoch, dem Aus­übenden selber be­wusst, auf die Tiefe des jeweiligen Affektes an. 'Es muss wirklich ernst ge­meint sein', so lau­teten die ent­sprechenden Erklärungen, 'sonst wirkt es nicht.'" (Zucker 1948a:26)

[6]) Dass alle wissenschaftliche Erkenntnis an der Oberfläche zu haben ist, hat Neurath (1931a: 12f) zum Pro­gramm erhoben: "Für den, welcher die Wissenschaftliche Auffassung vertritt, gibt es nur Aussagen als Mittel der Vor­aussagen, alle Aussagen liegen in einer einzigen Ebene, sind mit­ein­ander verknüpfbar wie al­le Teile einer Werk­stätte ... Es gibt keine 'Tiefe' für den Physi­ka­lismus, alles ist 'Oberfläche'." Ich neige dazu, die Prolife­ration dieses Pejorativs auf die gegen die dogma­ti­schen Aufklärer wie Nicolai („Auf­kläricht") gerichtete Polemik Fichtes u. a. zurückzu­füh­ren. Man sprach von einen „Exor­zis­mus der Auf­klärung“ (Löwith 1958a:249). Ein bewährtes Schimpfwort schafft sich rasch neue Freunde wie neue An­wen­dungen. Dazu muss es noch nicht ein­mal vom Spre­cher ver­standen werden, wie all die Kinder zeigen, die ihre Errun­gen­schaft aus dem Kindergarten mit nach Hause bringen. Popper, ob­gleich er gerne schimpft, hat kein Wi­der­le­gungs­ver­fah­ren für Beschimp­fungen angegeben. Mei­ner Ansicht nach ist für Be­schimp­fungen die Konsequenztheorie der Wahr­heit an­ge­sagt. Falls ein Beschimpfter nicht vor Wut rot an­läuft, ist die Beschimpfung widerlegt.

[7]) "Die zu unserer Zeit gang und gäben Deklamationen und Anmaßungen gegen die Philoso­phie bieten das son­der­bare Schauspiel dar, dass sie durch jene Seichtigkeit, zu der diese Wissen­schaft degradiert worden ist, einer­seits ihr Recht haben, und andererseits selbst in diesem Elemente wurzeln, gegen das sie undankbar ge­richtet sind. Denn indem jenes sich so nen­nen­de Philosophie­ren die Erkenntnis der Wahrheit für einen tö­richten Ver­such erklärt hat, hat es, wie der Despotis­mus der Kaiser Roms Adel und Sklaven, Tugend und Laster, Ehre und Un­ehre, Kenntnis und Un­wissenheit gleichgemacht hat, alle Gedanken und alle Stoffe ni­vel­liert, - so dass die Begriffe des Wah­ren, die Ge­setze des Sittlichen auch weiter nichts sind als Meinungen und subjektive Überzeu­gungen, und die verbre­cherisch­sten Grundsätze als Überzeugungen mit jenen Gesetzen in gleiche Würde gestellt sind, und dass eben so jede noch so kahle und partikuläre Objekte und noch so stro­her­ne Materien in gleiche Wür­de gestellt sind mit dem, was das In­ter­esse aller denkenden Men­schen und die Bän­der der sittlichen Welt aus­macht." (Hegel 1930a:12f)

[8]) „But such mechanism or translucid box theories will not even be tried unless the philoso­phi­es which dis­ap­prove of them are abandoned: scientific research does not grow in depth if it must pay heed to a super­fici­alist phi­losophy." (Bunge 1968a:129)

[9]) "Ja, man kann sogar sagen, dass der Zauber durchschnittlich um so beliebter ist, je unver­ständ­licher die ge­ge­be­nen Vor­schriften für den Handelnden sind. An Stelle der auszuschaltenden Kritik tritt gewöhnlich die irgend­wie verschaffte Gewähr, dass der Zauber alt sei, bzw. dass andere damit schon Erfolge hatten." (Zucker 1948a:13)

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