Schon Platons Sokrates polemisierte in seiner Verteidigungsrede gegen Dichter, die nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, „eben wie die Wahrsager und Orakelsänger“ [1]). Auch Kant kennt den Unterschied zwischen dem Stil des populären Vortrags und einer streng wissenschaftlichen, d.h. logisch-argumentativen oder dialektischen Darstellung.
„orakelnd“ nennt Popper nun Hegels Darstellung und kennzeichnet Hegellektüre als effizienten Weg, schnellstens ins Irrenhaus zu kommen.[2]) Was Popper an Dunkelheit des Ausdrucks rügt, konnte Hegel von seinen Lesern noch unterstellen, dass er die relevanten Autoren und deren Texte im Sinne hatte. Die Schwierigkeiten des heutigen Lesers, Hegel zu folgen, beruht wohl nicht nur auf seinem begriffsplatonischen Stil zu argumentieren, sondern zu einem großen Teil auch auf der fehlenden Angabe der Fundstellen der Texte, über welche sein eigener Text schreibt (intertextuality [3]). Wenn wir Feuerbach glauben dürfen, war Hegel in seinen Vorlesungen nicht im selben Maße undeutlich.[4])
War Hegel ein Scharlatan? So müsste man dann jeden Professor der Philosophie schelten, der dem Staate gibt, was diesem nach Auffassung der Regierenden zusteht, und jeden prätenziösen Autoren, der auf dem Buchdeckel oder in der Einleitung mehr verspricht, als was er im Hauptteile halten kann. Popper war in der Wahl seiner Titel beinahe auch schon reißerisch zu nennen, was vielleicht nicht allein der Verleger verantwortete.
Hegel selbst hätte wohl mit einem seiner Lieblingsschimpfwörter [5]): „seicht“ [6]) gekontert, womit er eine Weise des Philosophierens anprangerte [7]), die ihren eigenen Wahrheitsanspruch gegen das Linsengericht einer rhetorisch wirkungsvollen Anpassung an das populär Eingängige verscherbelt. Was ist nun besser, Allgemeinverständlichkeit oder philosophische Gründlichkeit? Das Bestreben, klarer zu sprechen, als die Sache es erlaubt, kann sachlich begründete Unklarheiten nur verdecken. Oberflächliche [8]) Philosophie hindert den Fortschritt der Wissenschaften.
Ob jemand verständlich schreibt, ist eine andere Frage, als ob er relevante Probleme aufspürt und sich mit ihnen auseinandersetzt: Verständlichkeit vs. Problemtiefe.
Popper stellt zurecht heraus, dass eine Strategie des Dogmatismus häufig darin besteht, etwas Ungenaues als Genaues zu präsentieren. Statt die in einem Problem angelegten Lösungsperspektiven in ihrem alternativen Charakter deutlich herauszuarbeiten, werden diese verdeckt durch einen leerformelhaften Kompromiss. Ein unbestimmter Begriff bestimmt alles und nichts. Absolut genommen: Sein ist Nichts, und Nichts ist Sein (Hegel 1930b:§87). Die hyperplastische Charakterlosigkeit erlaubt insgeheim unkontrollierte Bedeutungsverschiebungen in jede beliebige Richtung. Das Interpretationsmonopol wird bestärkt, der Adressat durch einen scholastifizierten, scheinbar undurchdringlichen Formelapparat schachmatt gesetzt. Ein derart magischer [9]) Gebrauch einer Theorie ist weitgehend unabhängig von ihrem Inhalt und ihrer logischen Form, sondern berührt den pragmatischen Kontext der Theorieverwendung, insbesondere die angewandte Argumentationsstrategie - falls man überhaupt von Argumenten sprechen kann. Er lässt sich aber nur durch Erweiterung des Umfangs der Text- und Kommunikationsanalysen belegen, nicht doch an herausgegriffenen, vom Kontext isolierten Begriffen oder Aussagen.
Es wäre schwer, sich zu entscheiden, sollte man vor die Alternative zwischen einer möglichst großen Zielgruppe von Adressaten oder einem Maximum an kommunizierbarem Inhalt gestellt sein. Philosophischer Tiefsinn oder populäre Sprache haben gerade zu Zeiten der Zensur innerhalb der Geschichte der deutschen philosophischen Literatur eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, gerade auch was das Verhältnis Philosoph zu Publikum und zur Tagespolitik anbetraf.
[1]) Platon (Des Sokrates Verteidigung:17)
[2]) Darauf antwortet Marx: „Wenn aber einzelne Individuen die moderne Philosophie nicht verdauen und an philosophischer Indigestion sterben, so beweist das nicht mehr gegen die Philosophie, als es gegen die Mechanik beweist, wenn hie und da ein Dampfkessel einzelne Passagiere in die Luft sprengt." (MEW 1:100)
[3]) In der intertextuality zeigt sich die Geschichte des Geistes als geschichtet (verlinkt und dem Sinne nach ineinander verwoben).
[4]) "Wie oft ist daher nicht über seine Sprache gesprochen und wer gegen sein System nichts zu sagen wusste, bekrittelte mindestens seinen Vortrag." (Rosenkranz 1977a:16) Oder fasziniert etwa Hegel wie heute etwa Parsons (so Mills 1963a:65) oder Luhmann nur durch die schiere Unmöglichkeit, die jeweiligen Texte überhaupt zu verstehen?! Schwerverständlichkeit mag faszinieren und/oder zu Prestigedenken Anlass geben. Ein anderes Statussymbol kann in der Wissenschaft auch absichtsvolle Ignoranz sein: Bestimmte Probleme und Autoren sind nicht „in“; es lohne sich nicht, sie zu diskutieren, weil sie „wissenschaftlich“ widerlegt seien. Wer sie zu zitieren wagt, outet sich als wissenschaftlicher Außenseiter. Wissenschaftliche Methode entpuppt sich sodann als die Fähigkeit, zum betreffenden Zeitpunkt, etwa in der Prüfungssituation, die richtigen Autoritäten „wissenschaftlicher Kritik“ zu zitieren, etwa Popper.
[5]) Wettersten (1992a:241) behandelt, abweichend von seiner sonst sehr korrekten und objektiven Art, Lakatos in einer abwertenden, gar denunziatorischen Weise ('communist politician', 'neo-Hegelian', 'reactionary'), wofür jedoch überhaupt kein triftiger Grund zu erkennen ist. Wirkt auch innerhalb der philosophy of science die mob psychology (Lakatos 1970a)? Handelt es sich hierbei um die Nachwehen der Diadochenkämpfe um 'die wahre Lehre' Poppers?! "I do not know on whom to pin this unneeded harshness, on science, on philosophy, or on the philosophy of science. Whoever they are, if I only knew how to tickle their fancy and make them smile!" (Agassi 1993a:10) Dass Lakatos Ideen von Agassi geborgt habe oder die Kritikimmunität des hard core von Forschungsprogrammen behaupte, scheint mir derlei persönliche Animositäten keineswegs sachlich ausreichend rechtfertigen zu können. So konstatiert Andersson (1988a) recht nüchtern: "Die Tatsache, dass einige zentrale Teile einer Theorie oder eines Forschungsprogramms nicht in Frage gestellt werden, muss nicht, wie Lakatos es versucht, damit erklärt werden, dass sie durch eine methodologische Entscheidung unfalsifizierbar gemacht worden sind, sondern kann als ein undogmatischer Versuch gesehen werden, Probleme durch geringfügige theoretische Modifikationen der peripheren Teile der Theorie oder des Forschungsprogramms zu lösen." Dass persönliche Vorfälle den Hintergrund für derartige Beurteilungen abgeben, lässt sich aufgrund eines Hinweises bei Agassi (1993a:156) vermuten, wo Lakatos in der Rolle des akademischen Intriganten auftritt. Deutlich erscheint dabei nur eines: Anscheinend lässt sich ein Popperianer (selbst noch in der 2. Generation!) immer noch am leichtesten an den Schimpfwörtern identifizieren, welche er gebraucht. Hierzu diese anthropologische Betrachtung: "Phänomenologisch von Wichtigkeit ist, dass bei den letztgenannten Gelegenheiten, also dem Segnen, Verfluchen usw., der Wortgestaltung nach eigener Findung wesentlich größerer Spielraum gelassen scheint, als bei den Anlässen, wo ein Schaden verhindert oder behoben werden soll. Hier bedient man sich beinahe immer fester, erlernter Formeln. Beim Segnen und Fluchen mit ihren ungezwungenen Formulierungen kommt es jedoch, dem Ausübenden selber bewusst, auf die Tiefe des jeweiligen Affektes an. 'Es muss wirklich ernst gemeint sein', so lauteten die entsprechenden Erklärungen, 'sonst wirkt es nicht.'" (Zucker 1948a:26)
[6]) Dass alle wissenschaftliche Erkenntnis an der Oberfläche zu haben ist, hat Neurath (1931a: 12f) zum Programm erhoben: "Für den, welcher die Wissenschaftliche Auffassung vertritt, gibt es nur Aussagen als Mittel der Voraussagen, alle Aussagen liegen in einer einzigen Ebene, sind miteinander verknüpfbar wie alle Teile einer Werkstätte ... Es gibt keine 'Tiefe' für den Physikalismus, alles ist 'Oberfläche'." Ich neige dazu, die Proliferation dieses Pejorativs auf die gegen die dogmatischen Aufklärer wie Nicolai („Aufkläricht") gerichtete Polemik Fichtes u. a. zurückzuführen. Man sprach von einen „Exorzismus der Aufklärung“ (Löwith 1958a:249). Ein bewährtes Schimpfwort schafft sich rasch neue Freunde wie neue Anwendungen. Dazu muss es noch nicht einmal vom Sprecher verstanden werden, wie all die Kinder zeigen, die ihre Errungenschaft aus dem Kindergarten mit nach Hause bringen. Popper, obgleich er gerne schimpft, hat kein Widerlegungsverfahren für Beschimpfungen angegeben. Meiner Ansicht nach ist für Beschimpfungen die Konsequenztheorie der Wahrheit angesagt. Falls ein Beschimpfter nicht vor Wut rot anläuft, ist die Beschimpfung widerlegt.
[7]) "Die zu unserer Zeit gang und gäben Deklamationen und Anmaßungen gegen die Philosophie bieten das sonderbare Schauspiel dar, dass sie durch jene Seichtigkeit, zu der diese Wissenschaft degradiert worden ist, einerseits ihr Recht haben, und andererseits selbst in diesem Elemente wurzeln, gegen das sie undankbar gerichtet sind. Denn indem jenes sich so nennende Philosophieren die Erkenntnis der Wahrheit für einen törichten Versuch erklärt hat, hat es, wie der Despotismus der Kaiser Roms Adel und Sklaven, Tugend und Laster, Ehre und Unehre, Kenntnis und Unwissenheit gleichgemacht hat, alle Gedanken und alle Stoffe nivelliert, - so dass die Begriffe des Wahren, die Gesetze des Sittlichen auch weiter nichts sind als Meinungen und subjektive Überzeugungen, und die verbrecherischsten Grundsätze als Überzeugungen mit jenen Gesetzen in gleiche Würde gestellt sind, und dass eben so jede noch so kahle und partikuläre Objekte und noch so stroherne Materien in gleiche Würde gestellt sind mit dem, was das Interesse aller denkenden Menschen und die Bänder der sittlichen Welt ausmacht." (Hegel 1930a:12f)
[8]) „But such mechanism or translucid box theories will not even be tried unless the philosophies which disapprove of them are abandoned: scientific research does not grow in depth if it must pay heed to a superficialist philosophy." (Bunge 1968a:129)
[9]) "Ja, man kann sogar sagen, dass der Zauber durchschnittlich um so beliebter ist, je unverständlicher die gegebenen Vorschriften für den Handelnden sind. An Stelle der auszuschaltenden Kritik tritt gewöhnlich die irgendwie verschaffte Gewähr, dass der Zauber alt sei, bzw. dass andere damit schon Erfolge hatten." (Zucker 1948a:13)
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