"Aber metaphysische Vorstellungen werden ja an zusammenfassende Formulierungen überhaupt gerne angehängt." (Neurath 1931a:20)
Erkenntnis nimmt ihren Ausgang von Problemen. Probleme sind mehr oder minder präzise formuliert. Klarheit und Deutlichkeit ist das Gegenteil von Konfusion oder Verwirrtheit. Im Extremfall liegt das Problem in der Konfusion; d.h. man kann die betreffende Frage einfach nicht genügend klar formulieren. Sieht man bei der Frage dann um einiges klarer, besteht darauf das Problem darin, dass man nicht klar sieht, wie man die eine oder die andere theoretische Antwort auf ein Problem anwenden soll. Schon ziemliche Klarheit ist indessen erreicht, wenn man sieht, dass man zwei oder mehr Theorien (d.h. Antworten) auf dieselbe Frage hat. Eine Grundforderung der kritisch-rationalen Methode lautet:
Mache Deine Fragen und Antwortversuche möglichst klar und deutlich, damit sie möglichst leicht der Kritik durch andere zugänglich sind!
Für Popper ist Essentialismus ein und dieselbe logische Idee, die in vielen philosophischen Systemen wiederkehrt:
"Ich verwende den Namen methodologischer Essentialismus (oder Wesenslehre), um eine von Platon und vielen seiner Nachfolger vertretene Ansicht zu charakterisieren. Nach dieser Ansicht besteht die Aufgabe des reinen Wissens oder der 'Wissenschaft' in der Entdeckung und Beschreibung der wahren Natur der Dinge, das heißt in der Entdeckung und Beschreibung ihrer verborgenen Realität oder Essenz. Für Platon ist die Ansicht charakteristisch, dass sich das Wesen wahrnehmbarer Dinge in anderen und in höherem Grade wirklichen Dingen, in ihren Ahnherren oder Formen auffinden lasse. Viele der späteren methodologischen Essentialisten, zum Beispiel Aristoteles, folgten ihm hierin nicht zur Gänze; aber sie alle stimmten mit ihm insofern überein, dass sie die Entdeckung der verborgenen Natur oder Form oder Essenz zur Aufgabe der reinen Wissenschaft machten. Auch folgten alle methodologischen Essentialisten Platon in der Annahme, dass es möglich sei, diese Essenzen mit Hilfe der intellektuellen Intuition zu erkennen und zu unterscheiden, sowie in der Annahme, dass jede Essenz einen ihr eigentümlichen Namen besitze, den Namen, nach dem die wahrnehmbaren Dinge genannt werden, und dass sie sich in Worten beschreiben lasse. Und sie alle nennen eine Beschreibung der Essenz eines Dinges eine 'Definition'." (Popper 1980a:59f)
Eine starke Behauptung! Gilt denn nicht vielmehr das Umgekehrte: Wenn zwei Philosophen dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe!
Gleich ist, was aushält, dass wir es gleich behandeln; entsprechend ist ungleich, was dies nicht aushält. Die Begründung für diesen Satz liefert Popper (1979a), wenn er darlegt, ein Begriff erhalte seine Bedeutung erst im Zusammenhang einer Theorie.
Es gibt keinen Essentialismus, sondern -ismen (Hägler 1994a:10), und Popper (1992b:11) behauptet zu Unrecht, der aristotelische Essentialismus unterscheide sich nur wenig von dem Platons.
Popper (1964a:77) lehnt „Was ist ...?"-Fragen prinzipiell als essentialistisch ab. Nun lassen sich derlei Fragen jedoch leicht als eine inhaltliche Sprechweise (Hutchison 1964a:277 unter Bezug auf Carnap 1934a) auffassen, die im Gegensatz zu einer formalen Redeweise keinen Unterschied zwischen Sprache und Objektebene von Sprache trifft.
Eine prägnante Kennzeichnung des „Wesens" des Essentialismus gibt Hägler:
„Der Essentialismus ist eine philosophische Lehre, die gewöhnlich Aristoteles zugeschrieben wird. Sie besagt, grob und unaristotelisch gesprochen, dass es notwendige und kontingente Eigenschaften von Dingen gibt, und zwar unabhängig davon, wie wir die Dinge konzipieren oder beschreiben." (Hägler 1994a:10)
Mit dieser Kennzeichnung stimmen Jarvie u. Shearmur (1996a:447) überein, erweitern sie jedoch noch durch den Bezug zum Universalienstreit und zeigen dadurch, dass weder für sie noch für Popper die Frage des Essentialismus soweit hinreichend geklärt ist, dass sie eine gründliche Kritik darauf gründender Metaphysik, geschweige denn die von Methodologien zu liefern in der Lage wären:
„Essentialism is what Popper calls the quest for the hidden qualities of thing, the essences that make them what they are. The label is greatly superior to the old scholastic name of realism. Its contrast, nominalism, a name Popper accepts, is the position he espouses. Words are convenient instruments deployed in the search not for essences of things or universals but for the regularities we call scientific laws. It is laws and not essences that explain. The idea that historical enitities such as peoples, nations, cultures, or eras have controlling or shaping essences is what Popper means by historicism." (Jarvie, Shearmur 1996a:447)
Die poppersche Konfusion in dieser Kernfrage ist auch Bühler (1998a:173f) nicht entgangen. Er bemerkt, dass der übliche Essentialismus-Begriff (siehe Hägler oben!) nichts unmittelbar mit dem zu tun hat, was Popper als „essentialistisch" [1]) angreift: die Lehre von der Existenz letzter Erklärungsgründe. Auch die zweite Bedeutungsvariante von Essentialismus, welche Beziehung Popper (1994b:248,Anm.1*) herstellt, nämlich die Identifikation mit dem Universalienrealismus [2]), ist 1. mit der Lehre von der Existenz letzter Erklärungsgründe nicht notwendig verknüpft und 2. scheint Popper diesem mehr oder minder offen selber anzuhängen.
Auch Musgrave (1998a:96) räumt indirekt ein, dass Popper den aristotelischen Essentialismus mit dem Glauben an letzte Erklärungen identifiziert und in dieser Weise einiges zusammenwirft, was nicht unbedingt als insgesamt identisch angesehen werden darf.
Doch selbst der Glaube an letzte Erklärungen ist von fallibilistischer Seite nicht unbedingt so hart abzuurteilen. Schließlich kann es der fallibilistischen Kritik nicht so sehr darum gehen, was jemand als letzte Erklärung persönlich zufrieden stellt, sondern um den Inhalt dieser Erklärungen selbst. Um diesen Inhalt an sich zu beurteilen, ist es von nebensächlicher Bedeutung, ob und von wem er für unüberbietbar gehalten wird. Von methodologischer Bedeutung ist höchstens der Gesichtspunkt, dass er innerhalb des jeweiligen Systems zur Begründung des Übrigen eine Art axiomatischen Vorrang genießt.
[1]) „Diese Lehre, dass die Naturgesetze in keinem Sinn kontingent sind, halte ich für eine besonders scharfe Ausprägung jener Philosophie, die ich an anderer Stelle als ‘Essentialismus’ bezeichnet und kritisiert habe. Denn aus der Lehre von der absoluten Nichtkontingenz der Naturgesetze folgt die Lehre von der Existenz letzter Erklärungsgründe, d. h. die Behauptung, dass es erklärende Theorien gibt, die ihrerseits einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig sind." (Popper 1984a:385)
[2]) "Der Rationalismus lehrt (entsprechend der Evidenzlehre), dass die Vernunft das Allgemeine erkennt, indem sie intuitiv erfaßt, erschaut. Das Allgemeine ist ein erkennbarer Gegenstand, ist mindestens so gegenständlich wie das Individuelle, das Zufällige. Den Universalien kommt anschauliche Existenz zu. Die Zeitlosigkeit der Universalien wird als Ewigkeit gedeutet, die Zeitlichkeit der Individualien als Vergänglichkeit. So erhalten die Allgemeinbegriffe eine höhere Wirklichkeit (Platon); sie werden das 'eigentlich' Wirkliche, die Essenz, das Wesen; ihre Erkenntnis: Wesensschau (universalia sunt realia, Realismus)." (Popper 1994b:247f)
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