Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Methodologischer Essentialismus

"Aber metaphysische Vorstellungen werden ja an zusammenfassende Formulie­rungen überhaupt gerne angehängt." (Neurath 1931a:20)

Erkenntnis nimmt ihren Ausgang von Problemen. Probleme sind mehr oder min­der präzise for­muliert. Klarheit und Deutlichkeit ist das Gegenteil von Konfusion oder Verwirrtheit. Im Ex­trem­fall liegt das Problem in der Konfusion; d.h. man kann die betreffende Frage einfach nicht genügend klar formulieren. Sieht man bei der Frage dann um einiges klarer, besteht dar­auf das Problem darin, dass man nicht klar sieht, wie man die eine oder die andere theo­re­ti­sche Antwort auf ein Problem anwenden soll. Schon ziemliche Klarheit ist indessen erreicht, wenn man sieht, dass man zwei oder mehr Theorien (d.h. Antworten) auf dieselbe Frage hat. Ei­ne Grundforderung der kritisch-rationalen Methode lautet:

Mache Deine Fragen und Antwortversuche möglichst klar und deutlich, damit sie möglichst leicht der Kritik durch andere zugänglich sind!

Für Popper ist Essentialismus ein und dieselbe logische Idee, die in vielen philo­so­phischen Systemen wiederkehrt:

"Ich verwende den Namen methodologischer Essentialismus (oder Wesens­leh­re), um eine von Platon und vielen seiner Nachfolger vertretene Ansicht zu cha­rak­te­risieren. Nach dieser Ansicht besteht die Aufgabe des reinen Wissens oder der 'Wissenschaft' in der Entdeckung und Beschrei­bung der wahren Natur der Din­ge, das heißt in der Entdeckung und Beschreibung ihrer verborgenen Re­a­lität oder Essenz. Für Platon ist die Ansicht charakteristisch, dass sich das We­sen wahrnehmbarer Dinge in anderen und in höherem Grade wirklichen Din­gen, in ihren Ahnherren oder Formen auffinden lasse. Viele der späteren me­tho­dologi­schen Essentialisten, zum Beispiel Aristoteles, folgten ihm hierin nicht zur Gän­ze; aber sie alle stimmten mit ihm insofern überein, dass sie die Ent­de­ckung der verborgenen Natur oder Form oder Essenz zur Aufgabe der reinen Wis­sen­schaft machten. Auch folgten alle methodologischen Essentialisten Pla­ton in der Annahme, dass es möglich sei, diese Essenzen mit Hilfe der intellek­tu­el­len Intu­i­tion zu erkennen und zu un­terscheiden, sowie in der Annahme, dass jede Es­senz einen ihr eigentümlichen Namen besitze, den Namen, nach dem die wahr­nehmbaren Dinge genannt werden, und dass sie sich in Worten be­schreiben las­se. Und sie alle nennen eine Beschreibung der Essenz eines Dinges eine 'Defini­tion'." (Popper 1980a:59f)

Eine starke Behauptung! Gilt denn nicht vielmehr das Umgekehrte: Wenn zwei Philosophen dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe!

Gleich ist, was aushält, dass wir es gleich behandeln; entsprechend ist ungleich, was dies nicht aushält. Die Begründung für diesen Satz liefert Popper (1979a), wenn er darlegt, ein Be­griff erhalte seine Bedeutung erst im Zusammenhang einer Theorie.

Es gibt keinen Essentialismus, sondern -ismen (Hägler 1994a:10), und Popper (1992b:11) be­hauptet zu Unrecht, der aristotelische Essentialismus unterscheide sich nur wenig von dem Pla­tons.

Popper (1964a:77) lehnt Was ist ...?"-Fragen prinzipiell als essentialistisch ab. Nun lassen sich derlei Fragen jedoch leicht als eine inhaltliche Sprechweise (Hutchison 1964a:277 unter Be­zug auf Carnap 1934a) auffassen, die im Gegensatz zu einer formalen Redeweise keinen Unter­schied zwi­schen Sprache und Objektebene von Sprache trifft.

Eine prägnante Kennzeichnung des „Wesens" des Essentialismus gibt Hägler:

„Der Essentialismus ist eine philosophische Lehre, die gewöhnlich Aristoteles zugeschrieben wird. Sie besagt, grob und unaristotelisch gesprochen, dass es notwendige und kontingente Eigen­schaften von Dingen gibt, und zwar unab­hän­gig davon, wie wir die Dinge konzipieren oder beschreiben." (Hägler 1994a:10)

Mit dieser Kennzeichnung stimmen Jarvie u. Shearmur (1996a:447) überein, erweitern sie je­doch noch durch den Bezug zum Universalienstreit und zeigen dadurch, dass weder für sie noch für Popper die Frage des Essentialismus soweit hinreichend geklärt ist, dass sie eine gründ­liche Kritik darauf gründender Metaphy­sik, geschweige denn die von Methodologien zu liefern in der Lage wären:

„Essentialism is what Popper calls the quest for the hidden qualities of thing, the essences that make them what they are. The label is greatly superior to the old scholastic name of realism. Its contrast, nominalism, a name Popper ac­cepts, is the position he espouses. Words are convenient instruments deployed in the search not for essences of things or universals but for the regularities we call scientific laws. It is laws and not essences that explain. The idea that histo­rical enitities such as peoples, nations, cultures, or eras have controlling or sha­ping essences is what Popper means by historicism." (Jarvie, Shearmur 1996a:447)

Die poppersche Konfusion in dieser Kernfrage ist auch Bühler (1998a:173f) nicht entgangen. Er bemerkt, dass der übliche Essentialismus-Begriff (siehe Hägler oben!) nichts unmittelbar mit dem zu tun hat, was Popper als essentialistisch" [1]) an­greift: die Lehre von der Existenz letz­ter Erklärungs­gründe. Auch die zweite Be­deu­tungsvariante von Essentialismus, welche Be­zie­hung Popper (1994b:248,Anm.1*) her­stellt, nämlich die Identifikation mit dem Universalienre­a­lis­mus [2]), ist 1. mit der Lehre von der Existenz letzter Erklärungsgründe nicht notwendig ver­knüpft und 2. scheint Popper diesem mehr oder minder offen selber anzuhängen.

Auch Musgrave (1998a:96) räumt indirekt ein, dass Popper den aristotelischen Es­sentialismus mit dem Glauben an letzte Erklärungen identifiziert und in dieser Wei­se einiges zusammen­wirft, was nicht unbedingt als insgesamt identisch ange­sehen werden darf.

Doch selbst der Glaube an letzte Erklärungen ist von fallibilistischer Seite nicht un­bedingt so hart abzuurteilen. Schließlich kann es der fallibilistischen Kritik nicht so sehr darum gehen, was jemand als letzte Erklärung persönlich zufrieden stellt, sondern um den Inhalt dieser Er­klä­rungen selbst. Um diesen Inhalt an sich zu beur­teilen, ist es von nebensächlicher Bedeutung, ob und von wem er für unüberbiet­bar gehalten wird. Von methodologischer Bedeutung ist höch­stens der Ge­sichts­punkt, dass er innerhalb des jeweiligen Systems zur Begründung des Übrigen eine Art axiomatischen Vorrang genießt.



[1]) „Diese Lehre, dass die Naturgesetze in keinem Sinn kontingent sind, halte ich für eine be­sonders scharfe Ausprägung jener Philosophie, die ich an anderer Stelle als ‘Essentialismus’ be­zeich­net und kritisiert habe. Denn aus der Lehre von der absoluten Nichtkontingenz der Naturgesetze folgt die Lehre von der Existenz letzter Erklärungsgründe, d. h. die Behauptung, dass es erklärende Theorien gibt, die ihrerseits einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig sind." (Popper 1984a:385)

[2]) "Der Rationalismus lehrt (entsprechend der Evidenzlehre), dass die Vernunft das Allgemeine erkennt, indem sie intuitiv erfaßt, erschaut. Das Allgemeine ist ein erkennbarer Gegenstand, ist min­destens so gegenständlich wie das Individuelle, das Zufällige. Den Universalien kommt an­schau­liche Existenz zu. Die Zeitlosigkeit der Universalien wird als Ewigkeit gedeutet, die Zeit­lich­keit der Individualien als Vergänglichkeit. So erhalten die Allgemeinbegriffe eine höhere Wirk­lich­keit (Platon); sie werden das 'eigentlich' Wirkliche, die Essenz, das Wesen; ihre Erkenntnis: We­sensschau (universalia sunt realia, Realismus)." (Popper 1994b:247f)

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