Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

08.10.2005

Ist der Marxismus kritikimmun?

„Es hatte mich sehr gestört, dass die Marxisten (deren zentraler Anspruch war, So­zialwissenschaftler zu sein) und die Psychoanalytiker aller Schulen imstande waren, je­des erdenkliche Ereignis als eine Veri­fi­ka­tion ihrer Theorien zu inter­pre­tieren.“ (Popper 1979a:53)

„No description whatsover of any logically possible human behaviour can be gi­ven which would turn out to be incompatible with the psychoanalytic theories of Freud, or of Adler, or of Jung.” (Popper 1973a:38, Anm.5)

Marxismus und Psychoanalyse seien Pseudo-Wissenschaften, weil sie nicht kritisiert werden könnten. Denn sie könnten nicht empirisch widerlegt werden. Popper macht es sich mit diesem Pau­schalargument zu leicht. Dass eine Pseudo-Wissenschaft nicht kritisiert werden kann, dies ist im popper­schen Sprachgebrauch eine analytische Wahrheit. Wie hat Popper aber nachgewiesen, dass dieser Begriff auf den Marxismus tat­säch­lich zu­trifft?

Die Bestimmung der Systematologie, dass Philosophie am effektivsten durch Philosophie kri­ti­siert wird, macht ohne weiteres begreiflich, warum Popper nicht die marxsche Theorie oder den Marxis­mus in toto em­pirisch widerlegen kann - was Popper und zu unrecht als eindeutiges Indiz dafür werten, dass ei­ne Immunisierungsstrategie stattfinde. Anscheinend ist Lau­er [1]) so wenig wie Pop­per der Gedan­ken ge­kommen, dass die marxsche Theorie ein ge­glie­dertes Ganzes von Phi­loso­phie und empirischer The­orie dar­stellen könnte. Sie scheinen sich vor­schnell mit ihrem Vor­urteil zufrieden zu geben, wie eine wissenschaft­li­che The­orie auszuse­hen habe, und im Übri­gen die historische Gestalt des Marxismus wenig methodologisch re­flek­tiert zu haben. Marxis­mus umfasst empirische Theorien, dar­über hinaus aber eine Philosophie so­wie min­destens eine Me­tatheorie sowie einen Strauß an For­schungsprogrammen. Wenn man auf die Kon­tro­ver­se zwi­schen Parsons und Merton rekurrieren möch­te: Die marxsche Theorie ent­hält bzw. impliziert so­wohl eine „general theory“ wie auch eine An­zahl von „middle-range-the­ories“. Ein solch komple­xes the­o­retisches Gebilde kann nicht schlicht­weg in toto empirisch fal­sifiziert werden.

„Logisch betrachtet wird durch eine Falsifikation nur eine bestimmte Fassung ei­ner Theorie falsifiziert.“ (Andersson 1988a:150)

Das System der Axiome einer bestimmten Theorie ist abgeschlossen. Wird ein neues Axiom hin­zu­ge­fügt, entsteht sofort wieder eine neue Theorie, die erneut zur Prüfung ansteht (Popper 1994b: 379). Die­se anti-konventionalistische Popper-Regel abverlangt dem Kritiker jedoch, zu prä­zisieren, mit welcher Fassung der jeweiligen Theorie er seinen Falsifikationsversuch vor­nimmt. Wenn man recht überlegt, be­weist Poppers Argumentieren höchstens eines: den dog­ma­ti­schen Charakter der Popper-These von der Kr­i­tik­im­mu­ni­tät des Marxismus. Denn welche Mög­lich­keit gibt es, letztere zu wider­legen?

Es muss nicht gleich ein Verstoß gegen Poppers Methodologie darstellen, wenn Marxisten trotz Fal­sifi­ka­tionen am marxschen Erkenntnis- und Forschungsprogramm festhalten. Woher weiß Pop­per nun aber, dass Marxisten immunisieren? Letzere Behauptung bildet wohlgemerkt nicht mehr ein logisches oder theoretisches Argument, sondern stellt in allererster Linie eine empi­ri­sche Hypothese bzw. eine historische Tatsachenbehauptung. In vielen Fällen mag diese Hypothe­se eine zutreffende historische Tatsachenbehauptung darstellen - in nicht wenigen Fällen dürften jedoch auch genügend Gegenbeispiele sich finden lassen, welche sie als nomologische Aussage zu Fall bringen dürften.

Poppers Methodologie betrifft grund­sätz­lich die unter­schiedliche Methode, nicht unterschiedli­che Aussagearten. Schon daher kön­nen in diesem Sin­ne marx­sche Aussagen prinzipiell nicht pseu­do-wissenschaftlich sein. Es kann sowohl wis­sen­schaftlich wie pseudo-wissenschaftlich mit ihnen verfahren werden.

Noch darf Popper hoffen, mit dem Nachweis einer einzelnen Kontradiktion viel gegen das Ge­bäu­de insgesamt auszurichten.

„Modifikationen theoretischer Systeme sind deshalb nicht Beispiele der Kritik­im­mu­nisierung, sondern zeigen im Gegenteil, dass Falsifikationen ernst genommen wer­den.“ (Andersson 1988a:148)

Nun kann man sicherlich der unterschiedlichsten Auffassung darüber sein, worin der „harte Kern“ der marxschen Theorie oder das Fundament des marxistischen Gebäudes bestehe.

In Beantwortung der Frage „Was ist orthodoxer Marxismus?“ sieht Lukács diesen be­kannt­lich in der Methode [2]) verankert. Damit hat Lukács seine letzte Rückzugslinie angege­ben. Der theo­re­tische Gehalt des Marxismus steckt aber nicht nur in der Methode, sondern haupt­säch­lich in ei­ni­gen sozialphilosophischen Prinzipien und Kategorien, über deren genaue Re­kon­struk­ti­on man in­des verschiedenster Auffassung (z.B. Elster 1982a) sein kann.

Burawoy (1990a) fasst den Marxismus als ein Forschungsprogramm im Sinne von Lakatos auf, wo­bei er die von Marx im Vorwort zu „Ein Beitrag zur Kritik der Politischen Ökonomie“ gege­be­nen essenti­als als hard core ansieht. Aber selbst diese Identifizierung des harten Kerns beruht letzt­lich auf einer Ent­schei­dung, die ihre Fruchtbarkeit und Bewährungsfähigkeit erst unter Be­weis stellen muss. Was hat Burawoy aber gewonnen, wenn er Marxismus als ein Forschungs­pro­gramm im Sinne von Laka­tos interpretiert? Wie An­dersson (1988a:68) betont, ist es un­mög­lich, im Voraus das heuristische Po­ten­tial von Forschungspro­gram­men abzuschätzen und vor­lie­gende Al­ternativen entsprechend zu eva­luieren. So weist zum Beispiel auch die einstein­sche Relativi­täts­theorie [3]) trotz vielfacher tech­ni­scher Be­währt­heit Implikationen auf, die bis­lang nicht ex­pe­ri­mentell überprüft sind.

Eines dürfte damit aber klar geworden sein: Die scheinbare Unkritisierbarkeit der marxschen The­o­rie ist nichts weiter als ein Artefakt der Mängel der Unmethode Popperscher Kritik­versu­che, die im Fal­le Marx nicht einmal in der Lage gewesen zu sein schienen, die Standards der ei­genen Me­tho­do­lo­gie richtig und effizient anzuwenden.

Die ergiebigste Art der Kritik eines Aussagenkomplexes besteht jeweils in der Konfrontation mit the­o­retischen Gebilden desselben Abstraktionsniveaus. Zumindest würde eine absolut si­che­re Wi­der­le­gung einer Philosophie als Widerpart eine absolut sichere Gegenphilosophie vor­aus­set­zen. Da aber Popper den Fallibilismus vertritt, können wir ausschließen, dass er sol­ches im Schil­de führte.

Wie Lakatos herausstellt, liege Poppers besondere Leistung in der Ersetzung der Recht­ferti­gungs­strategie durch „conjectures and refutations“; d.h. man soll seine Thesen nicht zu be­grün­den su­chen, sondern zu widerlegen. Darauf gründe gerade die berechtigte Kritik [4]) an Psy­choana­lyse und Marxismus.

Fallibilismus verlangt jedoch prinzipiell, anstatt das vorgebliche Datum der Pseudo­-Wissen­schaft­lich­keit eines Aussagensystems lediglich zu versichern oder vorauszusetzen, dieses Da­tum am er­reich­baren Kenntnisstand empirisch zu überprüfen. Dieses Erfordernis kam Popper [5]) reich­lich spät, aber im­merhin doch noch in den Sinn:

„Apart perhaps from some Marxists, most professional philosophers seem to ha­ve lost touch with reality. And as for the Marxists - ‘The Marxists have merely in­ter­pre­ted Marxism in various ways; the point, however, is to change it.” (Popper 1973a:32)



[1]) „What tends to make the whole thing suspect, precisely as ‘science’, is that it is difficult to con­ceive of what - for Marx or for a Marxist - could even hypothetically count as evidence against the theory. If we know antece­dent­ly that any evidence which can be discovered will count as evi­den­ce for and not against a theory, are we tal­king about a scientific theory at all?" (Lauer 1974a:393)

[2]) „... nach unserer Meinung wird die Frage, ob jemand Marxist sei oder nicht, keineswegs durch seine Über­zeu­gung von der Wahrheit einzelner Thesen, sondern durch ganz etwas anderes entschie­den. Dies andere ist: die Me­tho­de." (Lukàcs 1968a:61)

[3]) "Die abstrakt anmutende Theorie hat durchaus praktischen Nutzen. So funktioniert das Satel­li­ten­naviga­ti­ons­sy­stem GPS nur deshalb, weil relativistische Effekte berücksichtigt werden. Trotz al­ler Erfolge konnten einige Vorher­sa­gen der Theorie Einsteins noch nicht experimentell überprüft wer­den." Rainer Scharf, Gravi­tations­phy­sik im Aufwind. Struktur von Raum und Zeit. Quantenversion der Re­la­tivitäts­theorie. Erforschung des Kosmos, FAZ 08.03.2000.

[4]) „... intellectual honesty consists rather in specifying precisely the conditions under which one is willing to give up one’s position. Committed Marxists and Freudians refuse to specify such con­di­ti­ons: this is the hallmark of their in­tel­lectual dishonesty. Belief may be a regrettably unavoidable bio­logical weakness to be kept under the control of criti­cism: but commitment is for Popper an outright crime." (Lakatos 1970a:92)

[5]) Popper schreibt diese mehr als leichte Veränderung der bekannten Marx-These Rolf Hoch­huth zu. In An­be­tracht dessen, dass Popper weniger Marx, vielmehr eine Art Poppermarx widerlegt hat, trete ich ins­be­sondere für einen Poppermarx-Revisionismus ein.

Keine Kommentare:

Blog-Archiv