„No description whatsover of any logically possible human behaviour can be given which would turn out to be incompatible with the psychoanalytic theories of Freud, or of Adler, or of Jung.” (Popper 1973a:38, Anm.5)
Marxismus und Psychoanalyse seien Pseudo-Wissenschaften, weil sie nicht kritisiert werden könnten. Denn sie könnten nicht empirisch widerlegt werden. Popper macht es sich mit diesem Pauschalargument zu leicht. Dass eine Pseudo-Wissenschaft nicht kritisiert werden kann, dies ist im popperschen Sprachgebrauch eine analytische Wahrheit. Wie hat Popper aber nachgewiesen, dass dieser Begriff auf den Marxismus tatsächlich zutrifft?
Die Bestimmung der Systematologie, dass Philosophie am effektivsten durch Philosophie kritisiert wird, macht ohne weiteres begreiflich, warum Popper nicht die marxsche Theorie oder den Marxismus in toto empirisch widerlegen kann - was Popper und zu unrecht als eindeutiges Indiz dafür werten, dass eine Immunisierungsstrategie stattfinde. Anscheinend ist Lauer [1]) so wenig wie Popper der Gedanken gekommen, dass die marxsche Theorie ein gegliedertes Ganzes von Philosophie und empirischer Theorie darstellen könnte. Sie scheinen sich vorschnell mit ihrem Vorurteil zufrieden zu geben, wie eine wissenschaftliche Theorie auszusehen habe, und im Übrigen die historische Gestalt des Marxismus wenig methodologisch reflektiert zu haben. Marxismus umfasst empirische Theorien, darüber hinaus aber eine Philosophie sowie mindestens eine Metatheorie sowie einen Strauß an Forschungsprogrammen. Wenn man auf die Kontroverse zwischen Parsons und Merton rekurrieren möchte: Die marxsche Theorie enthält bzw. impliziert sowohl eine „general theory“ wie auch eine Anzahl von „middle-range-theories“. Ein solch komplexes theoretisches Gebilde kann nicht schlichtweg in toto empirisch falsifiziert werden.
„Logisch betrachtet wird durch eine Falsifikation nur eine bestimmte Fassung einer Theorie falsifiziert.“ (Andersson 1988a:150)
Das System der Axiome einer bestimmten Theorie ist abgeschlossen. Wird ein neues Axiom hinzugefügt, entsteht sofort wieder eine neue Theorie, die erneut zur Prüfung ansteht (Popper 1994b: 379). Diese anti-konventionalistische Popper-Regel abverlangt dem Kritiker jedoch, zu präzisieren, mit welcher Fassung der jeweiligen Theorie er seinen Falsifikationsversuch vornimmt. Wenn man recht überlegt, beweist Poppers Argumentieren höchstens eines: den dogmatischen Charakter der Popper-These von der Kritikimmunität des Marxismus. Denn welche Möglichkeit gibt es, letztere zu widerlegen?
Es muss nicht gleich ein Verstoß gegen Poppers Methodologie darstellen, wenn Marxisten trotz Falsifikationen am marxschen Erkenntnis- und Forschungsprogramm festhalten. Woher weiß Popper nun aber, dass Marxisten immunisieren? Letzere Behauptung bildet wohlgemerkt nicht mehr ein logisches oder theoretisches Argument, sondern stellt in allererster Linie eine empirische Hypothese bzw. eine historische Tatsachenbehauptung. In vielen Fällen mag diese Hypothese eine zutreffende historische Tatsachenbehauptung darstellen - in nicht wenigen Fällen dürften jedoch auch genügend Gegenbeispiele sich finden lassen, welche sie als nomologische Aussage zu Fall bringen dürften.
Poppers Methodologie betrifft grundsätzlich die unterschiedliche Methode, nicht unterschiedliche Aussagearten. Schon daher können in diesem Sinne marxsche Aussagen prinzipiell nicht pseudo-wissenschaftlich sein. Es kann sowohl wissenschaftlich wie pseudo-wissenschaftlich mit ihnen verfahren werden.
Noch darf Popper hoffen, mit dem Nachweis einer einzelnen Kontradiktion viel gegen das Gebäude insgesamt auszurichten.
„Modifikationen theoretischer Systeme sind deshalb nicht Beispiele der Kritikimmunisierung, sondern zeigen im Gegenteil, dass Falsifikationen ernst genommen werden.“ (Andersson 1988a:148)
Nun kann man sicherlich der unterschiedlichsten Auffassung darüber sein, worin der „harte Kern“ der marxschen Theorie oder das Fundament des marxistischen Gebäudes bestehe.
In Beantwortung der Frage „Was ist orthodoxer Marxismus?“ sieht Lukács diesen bekanntlich in der Methode [2]) verankert. Damit hat Lukács seine letzte Rückzugslinie angegeben. Der theoretische Gehalt des Marxismus steckt aber nicht nur in der Methode, sondern hauptsächlich in einigen sozialphilosophischen Prinzipien und Kategorien, über deren genaue Rekonstruktion man indes verschiedenster Auffassung (z.B. Elster 1982a) sein kann.
Burawoy (1990a) fasst den Marxismus als ein Forschungsprogramm im Sinne von Lakatos auf, wobei er die von Marx im Vorwort zu „Ein Beitrag zur Kritik der Politischen Ökonomie“ gegebenen essentials als hard core ansieht. Aber selbst diese Identifizierung des harten Kerns beruht letztlich auf einer Entscheidung, die ihre Fruchtbarkeit und Bewährungsfähigkeit erst unter Beweis stellen muss. Was hat Burawoy aber gewonnen, wenn er Marxismus als ein Forschungsprogramm im Sinne von Lakatos interpretiert? Wie Andersson (1988a:68) betont, ist es unmöglich, im Voraus das heuristische Potential von Forschungsprogrammen abzuschätzen und vorliegende Alternativen entsprechend zu evaluieren. So weist zum Beispiel auch die einsteinsche Relativitätstheorie [3]) trotz vielfacher technischer Bewährtheit Implikationen auf, die bislang nicht experimentell überprüft sind.
Eines dürfte damit aber klar geworden sein: Die scheinbare Unkritisierbarkeit der marxschen Theorie ist nichts weiter als ein Artefakt der Mängel der Unmethode Popperscher Kritikversuche, die im Falle Marx nicht einmal in der Lage gewesen zu sein schienen, die Standards der eigenen Methodologie richtig und effizient anzuwenden.
Die ergiebigste Art der Kritik eines Aussagenkomplexes besteht jeweils in der Konfrontation mit theoretischen Gebilden desselben Abstraktionsniveaus. Zumindest würde eine absolut sichere Widerlegung einer Philosophie als Widerpart eine absolut sichere Gegenphilosophie voraussetzen. Da aber Popper den Fallibilismus vertritt, können wir ausschließen, dass er solches im Schilde führte.
Wie Lakatos herausstellt, liege Poppers besondere Leistung in der Ersetzung der Rechtfertigungsstrategie durch „conjectures and refutations“; d.h. man soll seine Thesen nicht zu begründen suchen, sondern zu widerlegen. Darauf gründe gerade die berechtigte Kritik [4]) an Psychoanalyse und Marxismus.
Fallibilismus verlangt jedoch prinzipiell, anstatt das vorgebliche Datum der Pseudo-Wissenschaftlichkeit eines Aussagensystems lediglich zu versichern oder vorauszusetzen, dieses Datum am erreichbaren Kenntnisstand empirisch zu überprüfen. Dieses Erfordernis kam Popper [5]) reichlich spät, aber immerhin doch noch in den Sinn:
„Apart perhaps from some Marxists, most professional philosophers seem to have lost touch with reality. And as for the Marxists - ‘The Marxists have merely interpreted Marxism in various ways; the point, however, is to change it.” (Popper 1973a:32)
[1]) „What tends to make the whole thing suspect, precisely as ‘science’, is that it is difficult to conceive of what - for Marx or for a Marxist - could even hypothetically count as evidence against the theory. If we know antecedently that any evidence which can be discovered will count as evidence for and not against a theory, are we talking about a scientific theory at all?" (Lauer 1974a:393)
[2]) „... nach unserer Meinung wird die Frage, ob jemand Marxist sei oder nicht, keineswegs durch seine Überzeugung von der Wahrheit einzelner Thesen, sondern durch ganz etwas anderes entschieden. Dies andere ist: die Methode." (Lukàcs 1968a:61)
[3]) "Die abstrakt anmutende Theorie hat durchaus praktischen Nutzen. So funktioniert das Satellitennavigationssystem GPS nur deshalb, weil relativistische Effekte berücksichtigt werden. Trotz aller Erfolge konnten einige Vorhersagen der Theorie Einsteins noch nicht experimentell überprüft werden." Rainer Scharf, Gravitationsphysik im Aufwind. Struktur von Raum und Zeit. Quantenversion der Relativitätstheorie. Erforschung des Kosmos, FAZ 08.03.2000.
[4]) „... intellectual honesty consists rather in specifying precisely the conditions under which one is willing to give up one’s position. Committed Marxists and Freudians refuse to specify such conditions: this is the hallmark of their intellectual dishonesty. Belief may be a regrettably unavoidable biological weakness to be kept under the control of criticism: but commitment is for Popper an outright crime." (Lakatos 1970a:92)
[5]) Popper schreibt diese mehr als leichte Veränderung der bekannten Marx-These Rolf Hochhuth zu. In Anbetracht dessen, dass Popper weniger Marx, vielmehr eine Art Poppermarx widerlegt hat, trete ich insbesondere für einen Poppermarx-Revisionismus ein.
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