Der englische Titel „The Logic of Scientific Discovery“ darf wohl als ein Fall von Popper-hype verbucht werden. Es werden hierdurch beim Publikum Erwartungen in Richtung auf eine ars inveniendi geweckt. Popper ist jedoch denkbar weit davon entfernt, sich dieser Problematik zu widmen. Er bestreitet gar schlechthin die Möglichkeit einer Logik der Entdeckung:
„das Aufstellen der Theorien scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem etwas Neues einfällt - sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie -, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik.“ (Popper 1984a:6)
Hansom (1958a), Serebrjannikov (1974a) und Simon (1998a) zeigen Möglichkeiten auf, mittels formaler Logik effiziente Heuristiken [1]) zur pattern-Entdeckung zu konstruieren. Wenn Poppers Methodologie nicht als bloßes Instrument zur Ausgrenzung von Pseudo-Wissenschaft verstanden wird, sondern als eine Technologie wissenschaftlichen Fortschritts, dann ist eine Dichotomisierung zwischen einer Logik der Geltung und einer Logik der Mustererkennung nicht aufrechtzuerhalten. Denn wir kommen nur dann zu Mustern, wenn wir unsere heuristischen Regeln ausprobieren; und wir überprüfen diese Regeln, indem wir nach weiteren Testfällen suchen. Verblendet durch seine begriffliche Kategorisierung des Problems, landet Popper bei einer verkürzten Sicht der Problemsituation.
Wenn Popper [2]) von der Logik als einem „Organon der Kritik“ spricht, so kann dies ein Pankritizist nur akzeptieren, wenn damit nicht supponiert wird, dass Logik als kritische Instanz als unkritisierbar und somit als unwandelbare, definitiv abgeschlossene Wahrheit hingestellt wird. So ist es ein bedeutender Unterschied, ob Logik unter anderem als eine weitere kritische Instanz mit eingesetzt wird, oder ob man sich in eine bei Positivisten beliebte Kannitverstan-Pose begibt: Es seien nur Argumente zulässig, welche formallogisch rekonstruierbar sind![3]) Eine solche Vorgehensweise ist ganz im Sinne Poppers, der sich hierdurch vom Psychologismus Humes abzusetzen sucht.[4])
„Psychological explanations (...) become superfluous. They are here replaced by a third-world situational analysis.” (Popper 1973a:174)
Mit dem principle of transference strebt Popper, sein objektivistisches Modell von Logik auf Psychologie und Methodologie zu übertragen. Dieselbe Betrachtungsweise manifestiert Popper, wenn er die Welt-3-Metaphysik als „Epistemology Without a Knowing Subject“ darstellt:
„We can learn more about the heuristics and the methodology and even about the psychology of research by studying theories, and the arguments offered for or against them, than by any direct behaviouristic or psychological or sociological approach. In general, we may learn a great deal about behaviour and psychology from the study of the products. In what follows I will call the approach from the side of the products - the theories and the arguments - the ‘objective’ approach or the ‘third-world’ approach. And I will call the behaviourist, the psychological, and the sociological approach to scientific knowledge the ‘subjective’ approach or the ‘second-world’ approach.” (Popper 1973a:114)
Popper hat seine Methodologie in Frontstellung zum damals vorherrschenden Logischen Positivismus entwickelt. Letzterer wollte außer Wissenschaft und Logik nichts anerkennen. Es ist daraus zu verstehen, dass Popper sich anfangs nur behutsam und zögerlich mit seiner Konzeption einer Philosophie als Methodologie aus dieser sicheren Deckung hervorwagte.
„Wir sind soeben von den logischen Voraussetzungen der Falsifizierbarkeit ausgegangen und haben gesehen, dass wir bei fortgesetzter Verfolgung bis auf methodologisches Gebiet gedrängt werden.“ (Popper 1994b:389f)
Infolgedessen tauchen methodologische Setzungen bei Popper oft erst dann auf, wenn es gilt, einen gordischen Knoten zu durchhauen, den logische Analyse allein nicht mehr aufzudröseln gelingt (392). Entsprechend sind die Hinweise auf Methodologie recht sparsam gehalten; im Brennpunkt des Interesses stehen logisches Analysieren und Schließen.
Der logische Positivismus erwies sich mit der Zeit als ein Koloss auf tönernen Füßen. Er beruhte letztlich darauf, dass man sich einbildete, die moderne Logik sei der endlich gefundene Stein der Weisen, womit alle Rätsel des Lebens zu lösen wären. Die Anwendbarkeit eines Formalismus muss aber immer erst begründet werden; die Bewährung seiner Validität kann nicht aus eigenen Mitteln [5]) erfolgen. Die Überzeugung von der Evidenz formallogischer Beweise für Behauptungen auch außerhalb der Wissenschaft der Logik selbst, zum Beispiel für die Bereiche der empirischen Wissenschaft und der Philosophie, stellt lediglich eine moderne Form von Scholastizismus [6]) dar.
Das ist nämlich die Lebenslüge der Wissenschaftslogik: Die eigene Position wird dargestellt als privilegiert [7]) durch die moderne Logik, wobei diese Logik ebenso als Begründung von Methodologie vorgeschoben wird, wie dies die Vertreter der reinen Ökonomie im Hinblick auf die Mathematik tun. Es wird der Anschein erweckt, als sei Wissenschaftslogik nichts als Logik [8]) (bzw. Ökonomie nichts weiter als Mathematik). Elias (1985a) sieht dahinter nichts anderes als die idealistische Grundposition: „cogito, ergo est“ [9]). Wie Hegel die Wahrheit durch eine begriffslogische Rekonstruktion eruierbar glaubte, so Popper jetzt durch eine Rekonstruktion mittels der carnapschen Logistik.
Hierin zeigen sich der Hochmut und der überhaupt nicht heimliche Dogmatismus des modernen Logikers. Genauer gesagt, besteht dieser Hochmut darin, dass unterstellt wird, Relevanz und Wahrheit eines Problems würden letztlich und allein durch die Übersetzung desselben in eine formale Sprache und die logische Lösung desselben in derselben entschieden. Bezeichnend ist Poppers Verhalten im Falle der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Popper hat nach seinem eigenen Bericht dieselbe erst akzeptiert, als sie von Tarski nach den Regeln der symbolischen Logik expliziert worden war. Ein solcher Hochmut in die formale Logik übersieht, dass es viele Probleme und Gesichtspunkte gibt, wovon sich die symbolische Logik heute (noch) nicht träumen lässt, und dass das letzte Wahrheitskriterium die Praxis ist, d.h. die Einbettung und Umsetzung der formalen Lösung auf ein Gebiet realen praktischen Handelns.
Ein anderes Beispiel: Es zeigt sich immer mehr, dass die Lösung eines Softwareproblems durch stimmige Programmierung nur der erste Schritt darstellt. Die letztlich entscheidende Frage ist die Implementierung des EDV-Systems mit den realen Handlungsstrukturen einer real existierenden Organisation.
In diesem Beispiel wird klargemacht, dass zwar auch die symbolische Logik entsprechend formalisierte Probleme lösen helfen kann: Die praktische Relevanz dieses Ergebnisses ist damit noch nicht evaluiert.
Mein Argument schließt nicht aus, dass eine solche Evaluation auch durch EDV-Simulationen vorangebracht werden kann. In letzter Instanz müssen jedoch auch Simulations-Modelle gegenüber den realen Prozessen validiert werden, wenn wir es vorziehen, über unsere Realität zu reden statt über ein virtuelles Wolkenkuckucksheim.
[1]) Innerhalb der "Artificial Intelligence" Forschung ist der Terminus "Heuristik" zwar stark benutzt, aber selten fest umrissen: 1) "rules of discovering and invention", 2) "related to improving problem-solving performance" 3) "opposite to foolproof". Schließlich: "For Nilsson, the distinction between heuristic search and blind search is the important one." (Barr, Feigenbaum 1981a:28ff)
[2]) „Die wichtigste Funktion der reinen deduktiven Logik ist die eines Organon der Kritik." (Popper 1969b:115) - „Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens.“ (Hegel 1930b:52)
[3]) Diese Tendenz wird ebenso bei Anderssons (1988a:45) Kuhn-Kritik deutlich sichtbar: „Was Kuhn über ‘Rätsel’, 'Anomalien’ und ‘Gegenbeispiele’ sagt, leidet darunter, dass er keine klaren logischen Unterscheidungen macht, wahrscheinlich weil er meint, dass die logischen Aspekte unwichtig sind. Stattdessen stehen für ihn die psychologischen und methodologischen Folgen wissenschaftlicher Probleme im Zentrum seiner Aufmerksamkeit."
[4]) „But I do not think that Hume’s view of what I am inclined to call ‘logic’ is satisfactory. He describes, clearly enough, processes of valid inference; but he looks upon these as ‘rational’ mental processes. By contrast, one of my principal methods of approach, whenever logical problems are at stake, is to translate all the subjective or psychological terms, especially ‘belief’, etc., into objective terms. Thus, instead of speaking of a ‘belief’, I speak, say, of a ‘statement’ or of an ‘explanatory theory’; and instead of an ‘impression’, I speak of an ‘observation statement’ or of a ‘test statement’; and instead of the ‘justification of a belief’, I speak of ‘justification of the claim that a theory is true’, etc." (Popper 1973a:6)
[5] ) "Auch die scheinbare Ableitung mathematischer Größen aus einander beweist nicht ihren apriorischen Ursprung, sondern nur ihren rationellen Zusammenhang." (Engels, Anti-Dühring, MEW 20:36) Bei Apriorität ist laut Popper zwischen 1. dem aller oder einer besonderen Erfahrung vorgängigen Wissen (der Entstehung des Wissens) und 2. der davon unabhängigen Gültigkeit (der Beurteilung der Wahrheit des Wissens) zu unterscheiden, woran Kant sich nicht immer hielt. Engels hier vertritt dem gegenüber eher die empiristische Grundposition.
[6] ) "Gelehrsamkeit ist noch nicht Wissenschaft." (Hegel 1930b:24) Scholastizismus ist höchste Bemühung um die wissenschaftliche Form vor dem substantiellen Wissen, bei einem hohen Grad an Problem- und Lebensfremdheit. - "Die christliche Scholastik betrieb Durchlogisierung, aber meist am falschen Objekt." (Neurath 1931a:12). - "Da aber das Denken gleichsam nur so unter der Hand getrieben wurde, weil es kein öffentliches Privilegium hatte, d.h., in dem religiösen Prinzip, das für das oberste Prinzip, für die letzte, höchste Autorität galt, nicht sanktioniert war und die Gegenstände der Dogmatik, des kirchlichen Lehrbegriffs der terminus a quo und ad quem, das non plus ultra, die letzte Grenze des menschlichen Geistes waren, wenngleich einzelne sie übersprangen, so blieb der Inhalt der Theologie immer noch der Hauptinhalt des denkenden Geistes, und die Philosophie als solche konnte für ihn im wesentlichen nur eine überlieferte sein, es musste ihr daher auch jene freie Produktivkraft, jene grundschöpferische Tätigkeit, jene Autopsie der Natur und Autonomie der Vernunft, welche die Philosophie Griechenlands und der neuern Zeit auszeichneten und den eigentümlichen Charakter der Philosophie überhaupt konstituieren, abgehen. Daher jener Geist der Abstraktion, jene logisch metaphysische Denkart, die allein das Wesen und den Geist der sogenannten scholastischen oder scholastisch aristotelischen Philosophie ausmachte; denn wurden gleich außer der damaligen Logik und Metaphysik auch noch andere philosophische Wissenschaften gepflegt, so war doch der Geist, in dem alles behandelt und betrachtet wurde, der formelle, der logisch metaphysische Geist. Daher die langweilige Einförmigkeit und Gleichheit ihrer Geschichte, welche nicht durch qualitative, Schlag auf Schlag sich einander folgende und erst durch diese lebendige Sukzession eine eigentliche Geschichte begründende Differenzen in ihrem trägen Laufe unterbrochen ist wie die Geschichte der alten und neuern Philosophie und daher einem stehenden Wasser gleicht, wenn jene einem reißenden Strome. Daher jene aller höhern Genialität und Originalität ermangelnde Beschränktheit des Geistes und Geschmacklosigkeit in Ansehung der Form; daher der gänzliche Mangel an Prinzipien die die organisierenden und belebenden Seelen eines mit sich kohärenten und übereinstimmenden Ganzen wären, und der daraus hervorgehende, ohne Notwendigkeit, ohne ein bestimmendes und beschränkendes Maß bis ins Unendliche fort rastlos teilende und atomisierende Distinktionsgeist, der endlich zu einem bloßen Formalismus, zur Auflösung alles Inhaltes, einer völligen Leere und einem damit verbundenen Ekel und Widerwillen an der Scholastik führen musste." (Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie:8ff) - "an attitude of arguing without a serious problem" (Popper 1973a:32, Anm.2)
[7]) „The attempt to claim a privileged position vis-a-vis a scholarly competitor through the creation of a myth of scientific legitimacy is an old tactic. Those who call themselves Sociologists of Science, and those who study the social contours of the scientific enterprise, will be well acquainted with such attempts to creatively write history. And let there be NO DOUBT that attempts such as these are attempts to write for oneself a privileged position in the documentary record. No less than a ploy to gain immediate legitimacy at the expense of a competitor, it is a maneuver to ensure history is written in a specific way and from a specific position with a specific champion of science, objectivity, neutrality, and rigour on top." (EJS)
[8]) „Besonders auf dem Worte ‘logisch' ruht ein uralter Zauber.“ (Lask 1911a:25)
[9] ) "Beim Lesen der Logik der Forschung drängt sich einem der Verdacht auf, dass Popper von der Annahme einer idealen Wissenschaft ausgeht. Um ihr Bild - das Geheimnis seines Herzens - vor allzu rascher Entdeckung zu schützen, bedient er sich einer Anzahl Kunstgriffe." (Elias 1985a:95) "In manchen Fällen suchen sie inmitten des Sumpfes und Chaos, inmitten der Ordnungslosigkeit, die sie als die innere Beschaffenheit der Wissenschaftsobjekte, der natürlichen und der sozialen Objekte als solcher ansehen, ihr Heil in der a priori strukturierten Ordnung der menschlichen Vernunft. In anderen Fällen suchen sie die Ordnung in der Struktur der menschlichen Sprache oder, so wie Popper es tut, in den 'Gesetzen' der Logik. Aber wie auch immer, ihre Grundhypothese ist: cogito, ergo est." (104) "In dieser Situation suchen nicht wenige Philosophen ihr Heil in den 'ewigen Wahrheiten', die eingleisige Wissenschaften wie Mathematik und Logik bereithalten. Popper ist einer von ihnen." (107)
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