Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Grenzgänger im Wunderland der Logik

"... es muss untersucht werden, wie die Wissenschaftslehre sich zur Logik ver­halte." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:44)

Der englische Titel „The Logic of Scientific Discovery“ darf wohl als ein Fall von Popper-hy­pe verbucht werden. Es werden hierdurch beim Publikum Erwartun­gen in Rich­tung auf eine ars inveniendi geweckt. Popper ist jedoch denkbar weit davon ent­fernt, sich dieser Problematik zu widmen. Er bestreitet gar schlechthin die Mög­lich­keit einer Lo­gik der Ent­de­ckung:

„das Aufstellen der Theorien scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem et­was Neues einfällt - sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Kon­flikt oder eine wissenschaftliche Theorie -, hat wohl die empirische Psychologie Inter­es­se, nicht aber die Erkenntnislogik.“ (Popper 1984a:6)

Hansom (1958a), Serebrjannikov (1974a) und Simon (1998a) zeigen Möglichkeiten auf, mittels formaler Logik effiziente Heuristiken [1]) zur pat­tern­-Ent­deckung zu kon­struieren. Wenn Pop­pers Methodologie nicht als bloßes In­strument zur Ausgren­zung von Pseudo-Wissenschaft ver­standen wird, sondern als eine Tech­no­logie wis­sen­schaftlichen Fortschritts, dann ist eine Di­cho­tomisierung zwischen einer Lo­gik der Geltung und einer Logik der Mu­stererkennung nicht aufrechtzuerhalten. Denn wir kommen nur dann zu Mustern, wenn wir unsere heuristi­schen Re­geln aus­probieren; und wir überprüfen diese Regeln, indem wir nach weiteren Test­fäl­len su­chen. Verblendet durch seine begriffliche Kategorisierung des Problems, lan­det Popper bei einer verkürzten Sicht der Problemsituation.

Wenn Popper [2]) von der Logik als ei­nem „Organon der Kritik“ spricht, so kann dies ein Pan­kritizist nur akzeptieren, wenn da­mit nicht supponiert wird, dass Logik als kritische Instanz als unkritisierbar und somit als un­wan­del­ba­re, definitiv abge­schlos­sene Wahrheit hingestellt wird. So ist es ein bedeutender Un­ter­schied, ob Lo­gik unter anderem als eine weitere kri­tische In­stanz mit eingesetzt wird, oder ob man sich in eine bei Positivisten beliebte Kannit­ver­stan-Pose begibt: Es seien nur Argumente zulässig, wel­che formallogisch rekon­stru­ierbar sind![3]) Eine solche Vor­gehens­wei­se ist ganz im Sinne Pop­pers, der sich hier­durch vom Psy­cho­lo­gis­mus Humes abzusetzen sucht.[4])

„Psychological explanations (...) become superfluous. They are here replaced by a third-world situational analysis.” (Popper 1973a:174)

Mit dem principle of transference strebt Popper, sein objektivistisches Modell von Lo­gik auf Psy­chologie und Methodologie zu übertragen. Dieselbe Betrachtungsweise manifestiert Popper, wenn er die Welt-3-Metaphysik als Epistemology Without a Knowing Subject“ dar­stellt:

„We can learn more about the heuristics and the methodology and even about the psy­cho­lo­gy of re­search by studying theories, and the arguments offered for or against them, than by any direct behavi­ouristic or psychological or sociologi­cal ap­proach. In general, we may learn a great deal about behavi­our and psy­cho­logy from the study of the products. In what follows I will call the approach from the side of the products - the theories and the arguments - the ‘objective’ ap­proach or the ‘third-world’ approach. And I will call the behaviourist, the psy­cholo­gical, and the sociological approach to scientific knowledge the ‘subjective’ approach or the ‘se­cond-world’ approach.” (Popper 1973a:114)

Popper hat seine Methodologie in Frontstellung zum damals vorherrschenden Lo­gischen Po­si­ti­vismus entwickelt. Letzterer wollte außer Wissenschaft und Logik nichts aner­kennen. Es ist daraus zu verstehen, dass Popper sich anfangs nur be­hutsam und zögerlich mit sei­ner Kon­zepti­on einer Philosophie als Methodologie aus dieser sicheren Deckung hervorwagte.

„Wir sind soeben von den logischen Voraussetzungen der Falsifizierbarkeit aus­ge­gan­gen und haben gesehen, dass wir bei fortgesetzter Verfolgung bis auf metho­dolo­gisches Gebiet gedrängt werden.“ (Popper 1994b:389f)

Infolgedessen tauchen methodologische Setzungen bei Popper oft erst dann auf, wenn es gilt, ei­nen gordischen Knoten zu durchhauen, den logische Analyse allein nicht mehr aufzu­drö­seln gelingt (392). Entsprechend sind die Hinweise auf Metho­dologie recht sparsam ge­hal­ten; im Brenn­punkt des Interesses stehen logisches Ana­lysieren und Schließen.

Der logische Positivismus erwies sich mit der Zeit als ein Koloss auf tö­nernen Fü­ßen. Er be­ruhte letztlich darauf, dass man sich einbildete, die moderne Logik sei der endlich ge­fun­de­ne Stein der Wei­sen, womit alle Rätsel des Lebens zu lösen wä­ren. Die An­wend­barkeit eines For­malismus muss aber immer erst begründet wer­den; die Bewährung sei­ner Validität kann nicht aus eigenen Mitteln [5]) erfol­gen. Die Überzeugung von der Evidenz formallogischer Be­wei­se für Behauptungen auch außerhalb der Wissenschaft der Logik selbst, zum Beispiel für die Be­reiche der empirischen Wis­sen­schaft und der Philosophie, stellt lediglich eine mo­der­ne Form von Scholastizismus [6]) dar.

Das ist nämlich die Lebenslüge der Wissenschaftslogik: Die eigene Position wird darge­stellt als privilegiert [7]) durch die moderne Logik, wobei diese Logik ebenso als Begründung von Me­tho­do­lo­gie vorgeschoben wird, wie dies die Vertreter der reinen Ökonomie im Hinblick auf die Ma­the­ma­tik tun. Es wird der Anschein er­weckt, als sei Wissenschaftslogik nichts als Lo­gik [8]) (bzw. Öko­no­mie nichts wei­ter als Mathematik). Elias (1985a) sieht dahinter nichts anderes als die idealistische Grund­po­sition: „cogito, ergo est“ [9]). Wie Hegel die Wahrheit durch eine be­griffs­logi­sche Rekon­struktion eruierbar glaubte, so Popper jetzt durch eine Rekonstruktion mit­tels der carnapschen Lo­gi­stik.

Hierin zeigen sich der Hochmut und der überhaupt nicht heimliche Dogmatismus des moder­nen Logikers. Genauer ge­sagt, besteht die­ser Hochmut darin, dass un­ter­stellt wird, Re­le­vanz und Wahrheit eines Pro­blems würden letztlich und allein durch die Übersetzung desselben in eine formale Sprache und die logische Lösung des­selben in derselben entschieden. Bezeich­nend ist Poppers Verhalten im Falle der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Popper hat nach sei­nem eigenen Bericht dieselbe erst akzep­tiert, als sie von Tarski nach den Regeln der sym­bo­li­schen Lo­gik expliziert worden war. Ein solcher Hochmut in die formale Logik übersieht, dass es viele Probleme und Gesichts­punkte gibt, wovon sich die symbolische Lo­gik heute (noch) nicht träu­men lässt, und dass das letzte Wahrheitskrite­rium die Praxis ist, d.h. die Einbettung und Umset­zung der formalen Lö­sung auf ein Gebiet realen praktischen Handelns.

Ein anderes Beispiel: Es zeigt sich immer mehr, dass die Lösung eines Software­problems durch stimmige Pro­gram­mierung nur der erste Schritt darstellt. Die letzt­lich entscheidende Fra­ge ist die Imple­mentierung des EDV-Systems mit den realen Handlungsstrukturen einer real exi­stierenden Or­ga­nisation.

In diesem Beispiel wird klargemacht, dass zwar auch die symbolische Logik ent­spre­chend for­ma­lisierte Probleme lösen helfen kann: Die praktische Relevanz die­ses Ergebnisses ist damit noch nicht evaluiert.

Mein Argument schließt nicht aus, dass eine solche Evaluation auch durch EDV-Si­mulati­o­nen vorangebracht werden kann. In letzter Instanz müssen jedoch auch Simulations-Mo­delle gegenüber den realen Prozessen validiert werden, wenn wir es vorziehen, über unsere Re­alität zu reden statt über ein virtuelles Wolken­kuck­ucks­heim.



[1]) Innerhalb der "Artificial Intelligence" Forschung ist der Terminus "Heuristik" zwar stark be­nutzt, aber selten fest umrissen: 1) "rules of discovering and invention", 2) "related to improving problem-sol­ving per­for­mance" 3) "opposite to foolproof". Schließlich: "For Nilsson, the distinction between heuri­stic search and blind search is the important one." (Barr, Feigenbaum 1981a:28ff)

[2]) „Die wichtigste Funktion der reinen deduktiven Logik ist die eines Organon der Kritik." (Popper 1969b:115) - „Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im ab­strak­ten Ele­mente des Denkens.“ (Hegel 1930b:52)

[3]) Diese Tendenz wird ebenso bei Anderssons (1988a:45) Kuhn-Kritik deutlich sichtbar: „Was Kuhn über ‘Rätsel’, 'Ano­malien’ und ‘Gegenbeispiele’ sagt, leidet darunter, dass er keine klaren logi­schen Un­ter­scheidungen macht, wahr­schein­lich weil er meint, dass die logischen Aspekte unwich­tig sind. Stattdessen stehen für ihn die psychologischen und methodologischen Folgen wissen­schaft­li­cher Probleme im Zentrum seiner Aufmerksamkeit."

[4]) „But I do not think that Hume’s view of what I am inclined to call ‘logic’ is satisfactory. He de­scribes, clear­ly enough, processes of valid inference; but he looks upon these as ‘rational’ mental processes. By contrast, one of my principal methods of approach, whenever logical problems are at stake, is to translate all the subjective or psychological terms, especially ‘belief’, etc., into objective terms. Thus, instead of speaking of a ‘belief’, I speak, say, of a ‘statement’ or of an ‘explanatory the­ory’; and instead of an ‘impression’, I speak of an ‘observation statement’ or of a ‘test state­ment’; and instead of the ‘justification of a belief’, I speak of ‘justification of the claim that a theory is true’, etc." (Popper 1973a:6)

[5] ) "Auch die scheinbare Ableitung mathematischer Größen aus einander beweist nicht ihren apriorischen Ur­sprung, sondern nur ihren rationellen Zusammenhang." (Engels, Anti-Dühring, MEW 20:36) Bei Apriorität ist laut Popper zwischen 1. dem aller oder einer besonderen Erfahrung vorgän­gigen Wissen (der Entstehung des Wissens) und 2. der davon unabhängigen Gültigkeit (der Beurteilung der Wahrheit des Wissens) zu unterscheiden, woran Kant sich nicht immer hielt. En­gels hier vertritt dem gegenüber eher die empi­ristische Grundposition.

[6] ) "Gelehrsamkeit ist noch nicht Wissenschaft." (Hegel 1930b:24) Scholastizismus ist höchste Bemühung um die wissenschaftliche Form vor dem substantiellen Wissen, bei einem hohen Grad an Problem- und Le­bens­fremd­heit. - "Die christliche Scholastik betrieb Durchlogisierung, aber meist am falschen Objekt." (Neurath 1931a:12). - "Da aber das Denken gleichsam nur so unter der Hand getrieben wurde, weil es kein öffentliches Privilegium hat­te, d.h., in dem religiösen Prinzip, das für das oberste Prinzip, für die letzte, höchste Autorität galt, nicht sank­tioniert war und die Ge­gen­stände der Dogmatik, des kirchlichen Lehrbe­griffs der terminus a quo und ad quem, das non plus ultra, die letzte Grenze des menschlichen Gei­stes waren, wenngleich einzelne sie überspran­gen, so blieb der Inhalt der Theologie immer noch der Hauptinhalt des denkenden Geistes, und die Philo­so­phie als sol­che konnte für ihn im wesent­li­chen nur eine überlieferte sein, es musste ihr daher auch jene freie Produktivkraft, je­ne grund­schöp­ferische Tätigkeit, jene Autopsie der Natur und Au­to­nomie der Vernunft, welche die Philo­so­phie Grie­chenlands und der neu­ern Zeit auszeichneten und den eigentümlichen Charakter der Phi­losophie überhaupt konstituieren, abgehen. Daher jener Geist der Abstraktion, jene logisch me­taphysische Denkart, die allein das We­sen und den Geist der soge­nann­ten scholastischen oder scho­lastisch aristotelischen Philosophie ausmachte; denn wurden gleich außer der damaligen Logik und Metaphysik auch noch andere philosophische Wissenschaf­ten gepflegt, so war doch der Geist, in dem alles behandelt und betrachtet wurde, der formelle, der logisch metaphysische Geist. Daher die langweilige Einför­migkeit und Gleichheit ihrer Geschichte, welche nicht durch qualitative, Schlag auf Schlag sich einander folgende und erst durch diese leben­dige Sukzession eine ei­gent­liche Geschichte begründende Differenzen in ihrem trägen Laufe unter­brochen ist wie die Geschichte der al­ten und neuern Philosophie und daher einem stehenden Was­ser gleicht, wenn jene einem rei­ßenden Strome. Da­her jene aller höhern Genialität und Originalität ermangelnde Be­schränktheit des Geistes und Ge­schmack­losig­keit in Ansehung der Form; daher der gänzliche Mangel an Prin­zi­pien die die organisierenden und belebenden See­len eines mit sich ko­härenten und überein­stim­men­den Ganzen wären, und der daraus hervorgehende, ohne Not­wen­dig­keit, ohne ein bestimmen­des und beschränkendes Maß bis ins Un­endliche fort rastlos teilende und ato­misierende Distink­ti­ons­geist, der endlich zu einem bloßen Formalismus, zur Auflösung al­les Inhaltes, einer völ­ligen Lee­re und einem damit verbundenen Ekel und Widerwillen an der Scho­la­stik führen musste." (Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie:8ff) - "an attitude of argu­ing without a serious problem" (Popper 1973a:32, Anm.2)

[7]) „The attempt to claim a privileged position vis-a-vis a scholarly competitor through the cre­a­tion of a myth of scientific legitimacy is an old tactic. Those who call themselves Sociologists of Science, and those who study the so­cial contours of the scientific enterprise, will be well acquain­ted with such attempts to creatively write history. And let there be NO DOUBT that attempts such as these are attempts to write for oneself a privileged position in the do­cu­mentary record. No less than a ploy to gain immediate legitimacy at the expense of a competitor, it is a maneuver to en­sure history is written in a specific way and from a specific position with a specific champion of science, ob­jec­tivity, neutrality, and rigour on top." (EJS)

[8]) „Besonders auf dem Worte ‘logisch' ruht ein uralter Zauber.“ (Lask 1911a:25)

[9] ) "Beim Lesen der Logik der Forschung drängt sich einem der Verdacht auf, dass Popper von der Annahme ei­ner idealen Wissenschaft ausgeht. Um ihr Bild - das Geheimnis seines Herzens - vor allzu rascher Entdeckung zu schützen, bedient er sich einer Anzahl Kunstgriffe." (Elias 1985a:95) "In manchen Fällen suchen sie inmitten des Sump­fes und Chaos, inmitten der Ord­nungs­lo­sigkeit, die sie als die innere Beschaffenheit der Wissenschaftsobjekte, der natürlichen und der so­zialen Objekte als solcher ansehen, ihr Heil in der a priori strukturierten Ordnung der mensch­li­chen Vernunft. In anderen Fällen suchen sie die Ordnung in der Struktur der mensch­li­chen Spra­che oder, so wie Popper es tut, in den 'Gesetzen' der Logik. Aber wie auch immer, ihre Grundhy­pothese ist: cogito, ergo est." (104) "In dieser Situation suchen nicht wenige Philoso­phen ihr Heil in den 'ewigen Wahrheiten', die eingleisige Wissenschaften wie Mathematik und Logik bereit­halten. Pop­per ist einer von ihnen." (107)

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