Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Funktionalismus

Bei Explikatoren vor Ort

Diese Kritik soll hier an einem Beispiel erörtert werden. Als Beispiel für eine sinnvolle und frucht­bare Explikation sei der Begriff der Funktion" gewählt (Merton 1968a: 78). Nagel (1961a: chapt.14/II) unterscheidet 6 mögliche Bedeu­tun­gen:

1. im Sinne der Mathematik,

2. im Sinne von funktionieren",

3. als „vital functions" die Definitionskriterien eines lebenden Organismus,

4. Zweck, Ziel oder Sinn,

5. Konsequenzen einer Sache,

6. der Beitrag, den ein item zur Aufrechterhaltung eines näher zu bestimmenden Zu­stands eines gegebenen Systems leistet, wozu selbiges gehört.

Merton rügt vor allem die mehrdeutige Verwendung des Terminus "Funktion" und schlägt fol­gende Terminologie vor, die den Unterschied zwischen den beobachtbaren ob­jek­tiven Kon­sequenzen (vom Beobachterstandpunkt aus) und den subjektiven Motiven, Zielen und Zwe­cken (der Mitglieder des beobachteten Systems) herausstellt:

„Manifest functions are these objective consequences contributing to the ad­just­ment or adaptations of the system which are intended and recognized by parti­ci­pants in the system..." (Merton 1968a:105)

Hingegen sind latente Funktionen weder beabsichtigte noch beobachtete Konsequenzen. Das spezifisch funktionale Erklärungsverfahren hat Mayntz wie folgt rekonstruiert:

„Ein System S wird identifiziert, das unter bestimmten inneren und äußeren Be­dingungen einen bestimmten Zustand (des adäquaten, normalen, optimalen Funktionierens) erreicht oder aufrechterhält, wenn eine Funktionsvorausset­zung n erfüllt ist. n kann durch Element x oder eine seiner funktionalen Alter­na­tiven er­füllt werden. Dieses Element x kann sowohl innerhalb wie außerhalb von S lie­gen;..." (Mayntz 1961a:14)

Die Funktionalistische Schlussweise geht dann so vor:

(a) Es existiert ein System S.

(b) Wenn die Funktionsvoraussetzung n erfüllt ist, dann existiert S.

(c) Wenn im System S ein Element x existiert, dann ist die Funktionsvoraussetzung n erfüllt.

Die angestrebte Schlussfolgerung würde sodann lauten:

(d) Es existiert im System ein Element x.

Nun ist dieser Schluss jedoch nur gültig für den Fall, dass die Funktionsvoraussetzung n und zum anderen das Element x unabdingbar sind, d.h. die Sätze b) und c) müssten lauten: „Nur wenn ..., dann ..." Das würde eine Gesetzesaussage implizieren:

Immer wenn x nicht vorhanden ist, kann das System S nicht existieren.

Nun ist es jedoch für soziale Systeme äußerst unwahrscheinlich, dass man solch starke The­sen der Unabdingbarkeit bestimmter Systemelemente behaupten könnte. Die Erfahrung deutet eher darauf hin, dass gerade in entwickelten menschlichen Gesellschaften die verschiedensten System­elemente die gleichen oder unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Wir können dann in unserem Schlussschema nur mit einer Klasse funktionaler Äquivalente operieren; d.h. wir können dann von einer bestimmten Gesellschaft nur behaupten, dass zur Erfüllung einer Funk­tion n ir­gendein Element x der Klasse X vorhanden sein muss. Damit sinkt natürlich der empirische Gehalt der Funktionalerklärung (zumindest wenn sie als isolierte Aussage genom­men wird).

Dies ist jedoch noch nicht alles. Um zu funktionalistischen Aussagen zu gelangen, muss der zum Maßstab genommene Zustand (des adäquaten, optimalen, normalen Funktionierens von S) ge­nau bestimmt werden. Denn nur so kann die funktionale Leistung des Elements x geprüft wer­den; dazu müssen mindestens zwei Systemzustände unterscheidbar angegeben werden. Es ge­nügt also nicht die einfache Behauptung, x sei für das Überleben" von S notwendig oder tra­ge dazu bei.

Insofern Analogie-Denken noch nicht hinreichend formal verstanden ist , ist auch die Orga­nis­mus-Analogie nicht von vornherein als irreführend abzuweisen. Allerdings ist die Warnung vor Übertreibungen berechtigt [1]). Marx bewertet die Organismusanalogie, die He­gel von Mon­tesquieu übernahm, als echten Fund - den Hegel indessen schlecht ausgewertet habe, vor al­lem bedingt durch seinen Idealismus und im Ansatz verfehlte Lo­gik [2]).

"In der Rettung des Begriffs des Organischen gegen den starren Absolutis­mus des antiken, insbesondere des römischen, noch mehr aber gegen den Ato­mis­mus und Mechanismus des französischen Staates, liegt das Hauptverdienst und der ei­gentliche Wert des hegelischen Staatsrechts." (Haym 1857a:389)

Dass He­gels Idee der organischen Staatsverfassung aus Montesquieu herleitet, verweist auf ei­ne enge Verbindung von organischer Einheit und der Idee der Gewaltenteilung - ein Gedanke, der zumindest Totali­tarismus [3]) grundsätzlich widerspricht.

Wenn das Nichtüberleben von menschlichen Gesellschaften nicht operational defi­niert oder we­nigstens systemtheoretisch wohlbestimmt wird, impliziert eine solche Aussage ei­ne covert tautology" (Hempel 1959a:295). Eine funktionalistische Analyse erzwingt somit den Über­gang zu einer Theorie sozialer Systeme mit entsprechenden Annahmen über Systemcha­rak­ter und Sy­stem­prozessen (Cadwallader 1959a:142). Einen aktuellen Ansatz hierzu liefert Sta­hovs­ki (1999a).



[1]) wie etwa Neurath (1931a:109) an Schäffle die interessante Frage richtet, was im Staatsor­ga­nis­mus wohl dem Schnurrbart des Menschen entspreche

[2]) "Es ist ein großer Fortschritt, den politischen Staat als Organismus, daher die Verschieden­heit der Gewalten nicht mehr als organische, sondern als lebendige und vernünftige Unter­schei­dung zu betrachten. Wie stellt Hegel aber diesen Fund dar?" (MEW 1:210). Siehe dazu auch Neu­ser (1994a).

[3]) zumindest "Totalitarismus" nach dem Verständnis von Arendt (1986a)

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