Bei Explikatoren vor Ort
Diese Kritik soll hier an einem Beispiel erörtert werden. Als Beispiel für eine sinnvolle und fruchtbare Explikation sei der Begriff der „Funktion" gewählt (Merton 1968a: 78). Nagel (1961a: chapt.14/II) unterscheidet 6 mögliche Bedeutungen:
1. im Sinne der Mathematik,
2. im Sinne von „funktionieren",
3. als „vital functions" die Definitionskriterien eines lebenden Organismus,
4. Zweck, Ziel oder Sinn,
5. Konsequenzen einer Sache,
6. der Beitrag, den ein item zur Aufrechterhaltung eines näher zu bestimmenden Zustands eines gegebenen Systems leistet, wozu selbiges gehört.
Merton rügt vor allem die mehrdeutige Verwendung des Terminus "Funktion" und schlägt folgende Terminologie vor, die den Unterschied zwischen den beobachtbaren objektiven Konsequenzen (vom Beobachterstandpunkt aus) und den subjektiven Motiven, Zielen und Zwecken (der Mitglieder des beobachteten Systems) herausstellt:
„Manifest functions are these objective consequences contributing to the adjustment or adaptations of the system which are intended and recognized by participants in the system..." (Merton 1968a:105)
Hingegen sind latente Funktionen weder beabsichtigte noch beobachtete Konsequenzen. Das spezifisch funktionale Erklärungsverfahren hat Mayntz wie folgt rekonstruiert:
„Ein System S wird identifiziert, das unter bestimmten inneren und äußeren Bedingungen einen bestimmten Zustand (des adäquaten, normalen, optimalen Funktionierens) erreicht oder aufrechterhält, wenn eine Funktionsvoraussetzung n erfüllt ist. n kann durch Element x oder eine seiner funktionalen Alternativen erfüllt werden. Dieses Element x kann sowohl innerhalb wie außerhalb von S liegen;..." (Mayntz 1961a:14)
Die Funktionalistische Schlussweise geht dann so vor:
(a) Es existiert ein System S.
(b) Wenn die Funktionsvoraussetzung n erfüllt ist, dann existiert S.
(c) Wenn im System S ein Element x existiert, dann ist die Funktionsvoraussetzung n erfüllt.
Die angestrebte Schlussfolgerung würde sodann lauten:
(d) Es existiert im System ein Element x.
Nun ist dieser Schluss jedoch nur gültig für den Fall, dass die Funktionsvoraussetzung n und zum anderen das Element x unabdingbar sind, d.h. die Sätze b) und c) müssten lauten: „Nur wenn ..., dann ..." Das würde eine Gesetzesaussage implizieren:
Immer wenn x nicht vorhanden ist, kann das System S nicht existieren.
Nun ist es jedoch für soziale Systeme äußerst unwahrscheinlich, dass man solch starke Thesen der Unabdingbarkeit bestimmter Systemelemente behaupten könnte. Die Erfahrung deutet eher darauf hin, dass gerade in entwickelten menschlichen Gesellschaften die verschiedensten Systemelemente die gleichen oder unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Wir können dann in unserem Schlussschema nur mit einer Klasse funktionaler Äquivalente operieren; d.h. wir können dann von einer bestimmten Gesellschaft nur behaupten, dass zur Erfüllung einer Funktion n irgendein Element x der Klasse X vorhanden sein muss. Damit sinkt natürlich der empirische Gehalt der Funktionalerklärung (zumindest wenn sie als isolierte Aussage genommen wird).
Dies ist jedoch noch nicht alles. Um zu funktionalistischen Aussagen zu gelangen, muss der zum Maßstab genommene Zustand (des adäquaten, optimalen, normalen Funktionierens von S) genau bestimmt werden. Denn nur so kann die funktionale Leistung des Elements x geprüft werden; dazu müssen mindestens zwei Systemzustände unterscheidbar angegeben werden. Es genügt also nicht die einfache Behauptung, x sei für das „Überleben" von S notwendig oder trage dazu bei.
Insofern Analogie-Denken noch nicht hinreichend formal verstanden ist , ist auch die Organismus-Analogie nicht von vornherein als irreführend abzuweisen. Allerdings ist die Warnung vor Übertreibungen berechtigt [1]). Marx bewertet die Organismusanalogie, die Hegel von Montesquieu übernahm, als echten Fund - den Hegel indessen schlecht ausgewertet habe, vor allem bedingt durch seinen Idealismus und im Ansatz verfehlte Logik [2]).
"In der Rettung des Begriffs des Organischen gegen den starren Absolutismus des antiken, insbesondere des römischen, noch mehr aber gegen den Atomismus und Mechanismus des französischen Staates, liegt das Hauptverdienst und der eigentliche Wert des hegelischen Staatsrechts." (Haym 1857a:389)
Dass Hegels Idee der organischen Staatsverfassung aus Montesquieu herleitet, verweist auf eine enge Verbindung von organischer Einheit und der Idee der Gewaltenteilung - ein Gedanke, der zumindest Totalitarismus [3]) grundsätzlich widerspricht.
Wenn das Nichtüberleben von menschlichen Gesellschaften nicht operational definiert oder wenigstens systemtheoretisch wohlbestimmt wird, impliziert eine solche Aussage eine „covert tautology" (Hempel 1959a:295). Eine funktionalistische Analyse erzwingt somit den Übergang zu einer Theorie sozialer Systeme mit entsprechenden Annahmen über Systemcharakter und Systemprozessen (Cadwallader 1959a:142). Einen aktuellen Ansatz hierzu liefert Stahovski (1999a).
[1]) wie etwa Neurath (1931a:109) an Schäffle die interessante Frage richtet, was im Staatsorganismus wohl dem Schnurrbart des Menschen entspreche
[2]) "Es ist ein großer Fortschritt, den politischen Staat als Organismus, daher die Verschiedenheit der Gewalten nicht mehr als organische, sondern als lebendige und vernünftige Unterscheidung zu betrachten. Wie stellt Hegel aber diesen Fund dar?" (MEW 1:210). Siehe dazu auch Neuser (1994a).
[3]) zumindest "Totalitarismus" nach dem Verständnis von Arendt (1986a)
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