Eine Theorie ist nicht an sich dogmatisch oder kritisch. Dogmatisch oder kritisch ist sie durch und für uns, d.h.: sind es die Verhaltensweisen der Theoriebenutzer.
„Nicht das Credo oder das Parteiprogramm, sondern die Praxis im Umgang mit Ketzern und Opponenten zeigt den Grad von Dogmatismus und Toleranz, zeigt, inwieweit ein Bekenntnis zur Kritik ernst zu nehmen ist.“ (Spinner 1967a: 184)
Wenn Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, so muss das Bekenntnis zur Kritik immer mit dem Appell zur Toleranz gegenüber Kritikern einhergehen. „Ideologie“ und „Dogmatismus“ werden nun aber von den Kritischen Rationalisten selbst oft in „essentialistischer“ Manier zugeschrieben, d.h. gebraucht, als ob es eine fraglos feststehende Bedeutung dieser Begriffe und ein entsprechend fest umrissenes reales Objekt gäbe. Und es gibt immer noch genug Leute, die sich von dieser in der Regel nicht näher erläuterten Verbalinvektive beeindrucken lassen. Dahinter steckt oft ein recht romantisches Bild von „Dogmatismus“: Er sei aus emotionalen oder kognitiven Beschränkungen heraus Argumenten nicht zugänglich. Der moderne Dogmatiker verfügt hingegen immer über gute Gründe. Die Voraussetzungen dieser „guten Gründe“ gelangen aber selten zur Einsicht, sondern verbleiben nicht zur Diskussion gestellt. Wenn der Dogmatiker als Eiferer hingestellt wird, der unbelehrbar sei, so muss zudem beachtet werden, dass erfolgreiche Belehrungen immer auch gewisse Mindestanforderungen an kommunikative Bedingungen (z.B. den pädagogischen Eros des Lehrkörpers) stellen. Politische wie ideologische Spannungen korrelieren mit dem Ausmaß an Kommunikationen zwischen den beteiligten Parteien, wie experimentell recht gut belegt wurde (Cappello 1972a).
„Dogmatismus“ betrifft demnach vor allem die Frage, wie man mit wissenschaftlichen Aussagen umgeht. Es kann also hierbei nicht um die Demarkation von Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft gehen, d.h. nämlich: Ausgrenzung von Theorien, sondern um die Institutionalisierung einer Methodologie kritischer Diskussion, nämlich von Fallibilismus und Theorienpluralismus. Wenn Immunisierung eine Strategie darstellen soll, die den Erfolg garantiert, dann liegt es an uns, ob wir uns an diesem Spiel dessen ungeachtet beteiligen oder die Regeln hin zur kritischen Offenheit abändern wollen.
Was „Demarkation“ im Bereich der Methodologie, ist „Exklusion“ (Stichweh 1998a) in sozialer Hinsicht: eine Ausgrenzung, die dem offiziellen Akademiker-Selbstverständnis zutiefst zuwider ist (Dahrendorf 1995a), nichtsdestoweniger aber eine oft und gern praktizierte Strategie darstellt.
„... items of scholarship are often used shamelessly as a mere means of intimidation for the sake of keeping the academy a closed guild.” (Agassi 1993a:16)
Über Konformität zu Normen (hier: methodologische Normen) werden Mitgliedschaftsrollen sowie über die Zugehörigkeit zu einer Paradigma-Gemeinschaft das soziale System Wissenschaft definiert. Für Ransom erfolgt die evolutionstheoretische Selektion des dominierenden Paradigma durch den Mechanismus der membership selection [2]), wobei subjektive und objektive Attraktivität eines Paradigma sowie unterschiedliche individuelle methodologische Präferenzen den Ausschlag geben. Dies ist natürlich eine Perspektive, die politische und ökonomische constraints noch weitgehend außen vor lässt und das System Wissenschaft als ein sich autonom entwickelndes Gebilde behandelt.
„Dogmatisierung“ kennzeichnen Abschirmungs- und Immunisierungsstrategien mit der sprachpragmatischen Funktion der Durchsetzung eigener Wahrheitsansprüche. Wer dies bedenkt, muss erkennen, dass jede Abgrenzung von Wissenschaft selbst dem Ideologieverdacht, nämlich einem impliziten Dogmatismus gegenüber den ausgegrenzten Positionen preisgegeben ist.
“... what determines a universe of discourse? Who decides what is a good question? How?” (Agassi 1975a:8)
Was eine gute Frage ist, kann sich nur erweisen relativ zur jeweils historisch gegebenen Problemsituation einer Wissenschaftsdisziplin. Es gibt offensichtlich Veränderungen, die von strategischer Bedeutung sind. Kurz gesagt: Auch Problemstellungen können (in einem relativen Sinne) und sollten evaluiert werden. Solche Evaluationen müssen selbstverständlich ebenfalls durch kritische Vergleiche kontrolliert werden; denn es ist leicht, die eigene Lieblingstheorie zu bevorzugen, indem man einfach die zu ihr passende Problemstellung favorisiert. Nur zu oft jedoch präsentieren Vertreter des Kritischen Rationalismus unbesehen ihre eigentümlichen Vorstellungen von Pluralismus als alleinseligmachend und grenzen Opponenten per bloßes Etikettieren aus dem Diskurs aus. So zum Beispiel Popper in Bezug auf Hegel: Ein Popperianer wird aus Poppers Vorbild [3]) leicht ableiten, dass man Hegel nicht zu studieren brauche, um ihn zu widerlegen. Auf derlei Weise lässt sich dann freilich der Verdacht der Betroffenen, dass die vorgeblichen Vertreter eines Theorienpluralismus unter der Flagge desselben nur einem exklusiven „Monopolpluralismus“ (Brentano 1971a) frönen, kaum entkräften.
„Dogmatismus“ lässt sich nicht logisch oder sprachanalytisch dingfest machen an bestimmten Typen oder Inhalten von Aussagen, sondern nur an der Verwendungsweise von Aussagen. Ihre Verwendung hängt aber nicht nur von ihrem Autor ab, sondern auch von den jeweiligen Adressaten, bzw. der Zielgruppe, also überhaupt von der normativen Ausgestaltung der gesamten Kommunikationssituation innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.
Popper spricht hier gerne von einer „kritischen Tradition“. Dies impliziert zumindest, dass nicht eine jede Tradition [4]) „kritisch“ genannt werden kann. Doch was heißt „kritisch“? Marx gab seinem Hauptwerk den Namen einer „Kritik“. Gemäß der vorgebrachten Popperizismuskritik an Marx sollte man annehmen, dass Popper diese Kritik, zumindest nicht in der vorliegenden Form, in die ihm genehme Tradition einzuschließen wünschte. Wie könnte sie aber sonst positiv bestimmt werden?
Fallibilismus ist aber eine Methode, die erst hinterher, d.h. nach erfolgter Prüfung festzustellen vermag, ob etwas als „bewährt“ vorläufig akzeptiert werden soll. Eine Demarkation von Wissenschaft, die auf eine a priori - Unterscheidung von Wissen und Pseudowissen hinausliefe, ist grundsätzlich mit Fallibilismus unvereinbar.
[1]) "Dass eine Zeitschrift, die Artikel von der Art bringt, wie Ihrer gewesen ist, eine Erwiderung aufzunehmen hat, gilt auch dann, wenn man das nicht besprochen hätte, als selbstverständlich." (Neurath an Horkheimer, 12.01.1938, zit. nach Dahms 1994a:180) Wie die Geschichte zeigt, ist dies mitnichten selbstverständlich, leider auch nicht (oder schon gar nicht?!) bei Vertretern der Frankfurter Schule.
[2]) „... membership selection is a selective process which selects over individuals for a property of those individuals which either does or does not contribute to a group property, a property which cannot be exhibited alone by a single individual, but which can only be expressed as a group property. Through this process which selects over individuals and for a property these individuals either do or do not contribute to the group, there will be selection for the group property which selected individuals exhibit. - The contrast between the conventional model of classical group selection and my model of membership selection should be clear. In the process of membership selection, shared expression of a group property by the members within the group will cost them no selective disadvantage among themselves, but will contribute to each individual’s selective advantage over individuals who do not participate in expressing a group property." (Ransom 1991a)
[3]) “In Germany, many social scientists are brought up as Hegelians, and this is a tradition destructive of intelligence and critical thought.” (Popper 1994a:70)
[4]) Kinder, die unkritisch alles nachmachen, Jugendliche, die immer genau das Gegenteil machen, Erwachsene, die lebenslang weiterlernen sollen. Wo kann da kritisches Bewusstsein entstehen? Fragt Feyerabend (1970a:217): Können Wissenschaftler werden wie die Kinder? - "Ist nicht Erziehung vor allem die unerlässliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung der Generationsverhältnisse und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit." (Benjamin 1955:125)
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