Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Dogmatismus als eine degenerierte Kommunikations­be­ziehung

Dogmatismus stellt kein aussagenlogisches Problem dar, sondern ist ein Verstoß gegen Dis­kurs­regeln![1])

Eine Theorie ist nicht an sich dogmatisch oder kritisch. Dogmatisch oder kritisch ist sie durch und für uns, d.h.: sind es die Verhaltensweisen der Theoriebenutzer.

„Nicht das Credo oder das Parteiprogramm, sondern die Praxis im Umgang mit Ketzern und Opponenten zeigt den Grad von Dogmatismus und Toleranz, zeigt, inwieweit ein Bekenntnis zur Kritik ernst zu nehmen ist.“ (Spinner 1967a: 184)

Wenn Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, so muss das Bekenntnis zur Kri­tik immer mit dem Appell zur Toleranz gegenüber Kritikern einhergehen. „Ideologie“ und „Dog­matis­mus“ werden nun aber von den Kritischen Rationalisten selbst oft in „essentiali­sti­scher“ Manier zu­ge­schrieben, d.h. gebraucht, als ob es eine fraglos feststehende Bedeutung die­ser Begriffe und ein ent­spre­chend fest umrissenes reales Objekt gäbe. Und es gibt immer noch genug Leute, die sich von dieser in der Regel nicht näher erläuterten Verbalinvektive be­eindrucken lassen. Dahinter steckt oft ein recht romanti­sches Bild von „Dogmatis­mus“: Er sei aus emotionalen oder kognitiven Be­schränkun­gen heraus Argu­men­ten nicht zugänglich. Der mo­derne Dogmatiker verfügt hingegen immer über gute Grün­­de. Die Voraussetzungen dieser „guten Gründe“ gelangen aber selten zur Ein­sicht, sondern ver­blei­ben nicht zur Diskussion ge­stellt. Wenn der Dog­ma­ti­ker als Eiferer hinge­stellt wird, der un­belehrbar sei, so muss zudem be­achtet werden, dass erfolgreiche Belehrungen immer auch ge­wisse Mindestan­for­der­un­gen an kom­­munikative Bedingungen (z.B. den päda­gogischen Eros des Lehrkörpers) stel­len. Politische wie ideologische Spannungen korrelieren mit dem Aus­maß an Kom­munikationen zwi­schen den beteiligten Parteien, wie experimentell recht gut be­legt wurde (Cappello 1972a).

„Dogmatismus“ betrifft demnach vor allem die Frage, wie man mit wissenschaft­lichen Aus­sagen um­geht. Es kann also hierbei nicht um die Demarkation von Wis­sen­schaft und Pseudo-Wissen­schaft gehen, d.h. nämlich: Ausgrenzung von The­ori­en, sondern um die Institutiona­lisie­rung einer Methodologie kritischer Diskus­si­on, nämlich von Fallibilismus und Theorien­plura­lis­mus. Wenn Immunisierung eine Strategie darstellen soll, die den Erfolg garantiert, dann liegt es an uns, ob wir uns an diesem Spiel dessen ungeachtet beteiligen oder die Regeln hin zur kri­ti­schen Of­fenheit ab­ändern wollen.

Was „Demarkation“ im Bereich der Methodologie, ist „Exklusion“ (Stichweh 1998a) in so­zi­a­ler Hin­sicht: eine Ausgrenzung, die dem offiziellen Akademiker-Selbstverständnis zutiefst zu­wi­der ist (Dah­ren­dorf 1995a), nichtsdestoweniger aber eine oft und gern praktizierte Strategie dar­stellt.

„... items of scholarship are often used shamelessly as a mere means of intimi­da­tion for the sake of keeping the academy a closed guild.” (Agassi 1993a:16)

Über Konformität zu Normen (hier: methodologische Normen) werden Mitglied­schaftsrollen so­wie über die Zugehörigkeit zu einer Paradigma-Gemeinschaft das soziale System Wissen­schaft de­finiert. Für Ransom erfolgt die evolutionstheo­reti­sche Selektion des dominie­renden Pa­ra­digma durch den Mechanismus der member­ship selection [2]), wobei subjektive und ob­jek­ti­ve Attraktivität eines Paradigma so­wie unterschiedliche individuelle methodologische Prä­fe­ren­zen den Ausschlag ge­ben. Dies ist natürlich eine Perspektive, die politische und öko­no­mi­sche con­straints noch weitgehend au­ßen vor lässt und das System Wissenschaft als ein sich au­to­nom ent­wickelndes Gebilde behandelt.

„Dogmatisierung“ kennzeichnen Abschirmungs- und Immunisierungsstrategien mit der sprach­prag­matischen Funktion der Durchsetzung eigener Wahrheits­ansprü­che. Wer dies be­denkt, muss erken­nen, dass jede Abgrenzung von Wissenschaft selbst dem Ideologieverdacht, näm­lich einem impliziten Dog­matismus gegenüber den ausgegrenzten Positionen preisgegeben ist.

“... what determines a universe of discourse? Who decides what is a good que­stion? How?” (Agassi 1975a:8)

Was eine gute Frage ist, kann sich nur erweisen relativ zur jeweils historisch ge­gebenen Pro­blem­situation einer Wissenschaftsdisziplin. Es gibt offensichtlich Ver­änderungen, die von stra­te­gischer Bedeutung sind. Kurz gesagt: Auch Problem­stellungen können (in einem relativen Sin­ne) und sollten evaluiert werden. Solche Eva­luationen müssen selbstverständlich ebenfalls durch kritische Vergleiche kon­trolliert werden; denn es ist leicht, die eigene Lieblingstheorie zu bevorzu­gen, in­dem man einfach die zu ihr passende Problemstellung favorisiert. Nur zu oft je­doch präsentieren Vertreter des Kritischen Rationalismus unbesehen ihre eigen­tümli­chen Vor­stel­lun­gen von Pluralismus als allein­seligmachend und grenzen Op­ponenten per blo­ßes Eti­ket­tieren aus dem Diskurs aus. So zum Beispiel Popper in Bezug auf Hegel: Ein Popperianer wird aus Poppers Vor­bild [3]) leicht ableiten, dass man Hegel nicht zu stu­die­ren brauche, um ihn zu wi­derlegen. Auf derlei Wei­se lässt sich dann freilich der Verdacht der Betroffenen, dass die vor­geblichen Ver­treter eines Theorienpluralismus unter der Flagge desselben nur einem ex­klu­siven „Mono­po­l­plu­ralis­mus“ (Brentano 1971a) frönen, kaum entkräften.

„Dogmatismus“ lässt sich nicht logisch oder sprachanalytisch dingfest machen an bestimm­ten Ty­pen oder Inhalten von Aussagen, sondern nur an der Verwen­dungsweise von Aussagen. Ihre Ver­wendung hängt aber nicht nur von ihrem Au­tor ab, sondern auch von den jeweiligen Adres­saten, bzw. der Zielgruppe, also überhaupt von der normativen Ausgestaltung der ge­sam­ten Kommuni­kati­onssitu­ati­on innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

Popper spricht hier gerne von einer „kritischen Tradition“. Dies impliziert zumin­dest, dass nicht eine je­de Tradition [4]) „kritisch“ genannt werden kann. Doch was heißt „kritisch“? Marx gab seinem Haupt­werk den Namen einer „Kritik“. Gemäß der vorgebrachten Popperi­zis­muskritik an Marx sollte man an­neh­men, dass Popper die­se Kritik, zumindest nicht in der vor­liegenden Form, in die ihm ge­neh­me Tradi­ti­on einzuschließen wünschte. Wie könnte sie aber sonst posi­tiv be­stimmt wer­den?

Fallibilismus ist aber eine Methode, die erst hinterher, d.h. nach erfolgter Prüfung festzustel­len vermag, ob etwas als „bewährt“ vorläufig akzeptiert werden soll. Ei­ne Demarkation von Wis­sen­schaft, die auf eine a priori - Unterscheidung von Wis­sen und Pseudowissen hinaus­lie­fe, ist grund­sätz­lich mit Fallibilismus unvereinbar.



[1]) "Dass eine Zeitschrift, die Artikel von der Art bringt, wie Ihrer gewesen ist, eine Erwi­de­rung aufzu­neh­men hat, gilt auch dann, wenn man das nicht besprochen hätte, als selbst­ver­ständ­lich." (Neurath an Hork­heimer, 12.01.1938, zit. nach Dahms 1994a:180) Wie die Geschichte zeigt, ist dies mitnichten selbstver­ständ­lich, leider auch nicht (oder schon gar nicht?!) bei Vertretern der Frankfurter Schule.

[2]) „... membership selection is a selective process which selects over individuals for a property of those indivi­duals which either does or does not contribute to a group property, a property which cannot be exhibited alone by a single individual, but which can only be expressed as a group property. Through this process which selects over in­dividuals and for a property these individuals either do or do not contribute to the group, there will be selection for the group property which se­lec­ted individuals exhibit. - The contrast between the conventional model of classical group se­lec­tion and my model of membership selection should be clear. In the process of membership se­lec­tion, shared expression of a group property by the members within the group will cost them no se­lective disadvantage among themselves, but will contribute to each individual’s selective ad­van­ta­ge over individuals who do not par­ti­cipate in expressing a group property." (Ransom 1991a)

[3]) “In Germany, many social scientists are brought up as Hegelians, and this is a tradition de­struc­tive of intelli­gen­ce and critical thought.” (Popper 1994a:70)

[4]) Kinder, die unkritisch alles nachmachen, Jugendliche, die immer genau das Gegenteil ma­chen, Erwachsene, die lebenslang weiterlernen sollen. Wo kann da kritisches Bewusstsein entste­hen? Fragt Feyerabend (1970a:217): Können Wissenschaftler werden wie die Kinder? - "Ist nicht Er­ziehung vor allem die unerlässliche Ord­nung des Verhältnisses zwischen den Genera­tionen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung der Generationsverhält­nis­se und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Ver­hältnis von Na­tur und Menschheit." (Benjamin 1955:125)

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