„Was mich aber am meisten beeindruckte, war Einsteins klare Feststellung, dass er seine Theorie als unhaltbar aufgeben würde, falls sie gewissen Überprüfungen nicht standhielte. (...) Das war eine Einstellung, die sich von der dogmatischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied ...“ (Popper 1979a:48)
Dies macht zweierlei deutlich:
1. Poppers Beurteilung von Theorien erfolgt mittelbar, nämlich über die Beurteilung der Einstellung, womit ihre Autoren diese öffentlich präsentieren.
2. Popper meint, damit beurteilen zu können, unter welchen Bedingungen die von ihm genannten Autoren willens wären, ihre Theorien zu revidieren [1]).
Die Wissenschaftlichkeit eines Arguments kann sich indessen schwerlich daraus ableiten, wie dasselbe eingeführt worden ist: ob als ein Vorschlag oder mit der Versicherung absoluter Wahrheit bzw. entsprechender Überzeugtheit. Wir können den Wert eines Arguments auch nicht von der persönlichen Qualifikation des Argumentierenden abhängig machen. Wenn Popper andererseits die Objektivität der Wissenschaft an intersubjektivem Kritisieren und Argumentieren festmacht (Spinner 1978a:37), dann setzen diese Verhaltensnormen entsprechende soziale Bedingungen für entsprechende Kommunikationsbeziehungen von Wissenschaftlern voraus (mit einem Minimum an kommunikativen Fähigkeiten der Betreffenden). Albert (1972c:160f) unterscheidet zwischen der erforderlichen Übereinstimmung in der Einstellung und der Übereinstimmung in der sachlichen Überzeugung.
Inwieweit ist aber überhaupt ein Konsens notwendige Vorbedingung für einen rationalen Diskurs? Muss man so weit gehen wie Parsons (1965a:50), der für das Gelingen von Kommunikation soziale Integration durch gemeinsame Wertvorstellungen für unabdingbar hält? Selbst Kriegsparteien kommunizieren miteinander. Wenn man diese jedoch deswegen als „sozial integriert“ betrachten sollte (vielleicht weil sie sich um etwas streiten, das sie gemeinsam für wertvoll halten?), stellt sich die grundsätzliche Frage, unter welchen Bedingungen eine Menge an Individuen nicht als sozial integriert angesehen werden könnte. Das heißt im Endergebnis, dieser Begriff erfüllt keine diskriminierende Funktion mehr, sondern wirkt nur noch als eine Brille, unter der alles in der besagten Weise notwendig so eingefärbt erscheint. Gesellschafts- und wissenschaftspolitisch brisant wird eine solche Ansicht erst so recht, wenn man wie Parsons (1965a:47) das soziale System Wissenschaft im Wertkonsens der jeweiligen Gesellschaft verankert. Dann wird deutlich, dass nicht in jeder Art von Gesellschaft Wissenschaft in diesem Sinne möglich sein kann.
Zunächst ist hier jedoch über grundsätzlich mögliche Auffassungen der Aufgaben von Methodologie und Wissenschaftstheorie zu sprechen. Ist Methodologie
1. eine rein logische Angelegenheit, oder
2. ein Set von Regeln wie in einem Sprach- oder etwa Schachspiel, oder
3. ein historisch und soziologisch ermittelbarer und erklärbarer Handlungszusammenhang?
Popper verwahrt sich mit aller Schärfe dagegen, dass er von Lakatos (1970a) in der Entwicklung vom naiven zum sophisticated Falsifikationisten dargestellt wurde, und sucht demgegenüber deutlich zu machen:
„Meine beiden Thesen - dass die Falsifizierbarkeit einer Theorie eine logische Angelegenheit ist und daher (fast immer) endgültig entscheidbar, während die empirische Falsifikation einer Theorie, wie jede empirische Angelegenheit, unsicher und nicht endgültig entscheidbar ist - widersprechen sich nicht; und sie sind beide geradezu trivial.“ (Popper 1984a:426)
Der Unterschied, den Popper hier zwischen logischer Entscheidbarkeit und empirischen Entscheidungen trifft, erinnert jedoch stark an das Verhältnis der reinen Ökonomie zu Wirtschaftsfragen unserer realen Welt, in welcher wir zur Zeit leben, was Albert (1963a) zur Diagnose des „Modell-Platonismus“ geführt hatte. Popper widerspricht sich aber schon bei der Exposition seines Modells von Methodologie. Warum sucht er, „wissenschaftlich“ als logisches Merkmal von Aussagen zu bestimmen, wenn er selbst die von den betreffenden Autoren angewandte Methode bzw. Strategie [2]) als ausschlaggebend zu deren Beurteilung annimmt? Die Demarkation von empirischer Wissenschaft wird demzufolge nicht durch die Bestimmung des logischen Charakters der betreffenden Aussagen geleistet, sondern erfolgt einfach durch die Entscheidung [3]), an dem Sprachspiel empirische Wissenschaft teilzunehmen, d.h. die betreffenden Aussagen einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Wir können uns jedoch mit demselben set an Aussagen auch entschließen, am Sprachspiel Metaphysik teilzunehmen, indem wir dieselben Aussagen als tautologische oder gegen jegliche Erfahrung immune Definitionen behandeln. Es kann daher aber nicht ein logisches Merkmal von Aussagen sein, worin es begründet liegt, auf welche Art und Weise wir mit ihnen umgehen. Wettersten (1992a:196) verfehlt daher nicht, in diesem zentralen Punkt bei Popper (1984a) auf eine wesentliche Konfusion [4]) zu erkennen.
Popper [5]) spricht häufig nebeneinander von „Einstellung“ und „Verfahren“. Es kommt indessen nach Popper überhaupt nicht auf die dogmatische oder kritische Einstellung des beteiligten Individuums an:
„Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt.“ (Popper 1969b:112)
Im Gegensatz dazu hält Mills (1963a:59) die Selbsterkenntnis des Soziologen für eine Vorbedingung von Objektivität. Wenn man sich aber methodologisch allein darauf verlassen wollte, würde man die Methodologie des Gemeinschaftsunternehmens Wissenschaft individualpsychologisch aufbauen. Methodologisch kommt es hingegen vor allem auf den regulativen Charakter des Wissenschaftsspiels an, nämlich insoweit dasselbe Kritik zu fördern geeignet ist:
„Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen.“ (Popper 1969b:112)
Popper bezieht diese Einsicht auch auf die Lösung seines "Demarkationsproblems":
„Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugänglich ist, so wird er eben deshalb als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig.“ (Popper 1969b: 105f)
Ist diese „sachliche Kritik“ aber noch Poppers (1984a) Falsifikationskriterium, eine logische Eigenschaft von Aussagen? „sachlich“ scheint dasselbe wie „empirisch falsifizierbar“ heißen; es kann jedoch auch umfassend „objektiv kritisierbar“ bedeuten. Anscheinend trägt Popper hier Bartleys Kritik implizit Rechnung.
„Eine kritische Diskussion der konventionalistischen Einwände ist möglich und wird von Popper selbst geführt.“ (Andersson 1988a:139)
Hier verbirgt sich jedoch nicht nur ein Problem von Explikation und programmatischer Reichweite, sondern auch ein Problem des Übergangs von individuellen Eigenschaften der Wissenschaftler zu intersubjektiven und logischen Qualitäten. Lakatos (1970a:180, Anm.1) versichert uns zwar, dass viele psychologistisch klingenden Äußerungen Poppers in Welt-3-Begriffen [6]) gehaltene übersetzt werden können. Popper (1964b:92) z.B. geht aber bruchlos von „Einstellung“ zur „Traditionsbildung“ über, ohne den Übergang von der individuellen zur kollektiven Ebene überhaupt als problematisch zu empfinden, was derselbe jedoch wegen der logizistischen Grundlage der betreffenden Methodologie sein muss. Denn eine Tradition lässt sich nicht durch ein bloßes Aggregationsverfahren einfach aus individuellen Einstellungen logisch deduzieren.[7])
Popper (1969b; 1984a) gibt uns so vieles, was jedoch oft unvermittelt nebeneinander steht oder leider etwas durcheinander geht:
1. eine aussagenlogische Rekonstruktion empirisch-wissenschaftlicher Theoriesysteme wie
2. das Konstruktionsprojekt eines Sprachspiels methodologischer Regeln sowie
3. eine Menge psychologischer und soziologischer Einsichten.
Die psychologischen und soziologischen Ergänzungen, womit Popper notdürftig bestimmte Risse seiner Lösungsversuche kittet, sind freilich ad hoc und lassen Fragen nach der Kohärenz des Gesamtentwurfs, bzw. nach welchen Kriterien letztere zu vollziehen sei, nur umso dringlicher erscheinen.
[1]) Immerhin wird erkennbar, dass Poppers Einschätzung der Revisionsbereitschaft der genannten Autoren von seiner eigenen Art der Rezeption derselben bzw. von der ihm eigentümlichen Lesart abhängt. Letzten Endes hängt dann der dogmatische Charakter eines Autors davon ab, inwieweit Popper sich bei seiner Lektüre gezwungen fühlt, desselben Argumentationsstrategien dogmatische Motive zu unterstellen.
[2]) "Die Frage, ob ein vorliegendes System als solches konventionalistisch oder empirisch zu nennen ist, ist deshalb falsch gestellt: Nur mit Rücksicht auf die Methode kann man von konventionalistischen oder von empirischen Theorien sprechen. Wir können dem Konventionalismus nur durch einen Entschluss entgehen: Wir setzen fest, seine Methoden nicht anzuwenden und im Falle einer Bedrohung des Systems dieses nicht durch eine konventionalistische Wendung zu retten, d.h. nicht unter allen Umständen das (...) zu erzielen, was 'Übereinstimmung mit der Wirklichkeit' genannt wird.*1- Anm.*1: Hans Albert schreibt statt 'konventionalistischer Wendung' besser 'Immunisierung'." (Popper 1984a:50)
[3]) In dieses Bild fügt sich, wenn Habermehl (1980a:100) Lakatos vorhält, dass naiver und raffinierter Falsifikationismus unterschiedliche Demarkationskriterien verwendeten - doch ist Habermehl offenbar nicht aufgefallen, dass schon von Popper selbser das Demarkationskriterium äquivokativ verwandt wird.
[4]) "The new problem was to demarcate scientific systems but not by the logic of their proof or refutation alone but rather by the methodology which is used to appraise them: do we seek to refute them or not? This rationale introduced an ambiguity into Popper’s theory which has proved troublesome ever since: do we demarcate ways of treating theories as scientific or do we demarcate theories? Popper speaks both ways and subsequent thinkers have often followed him. After Popper’s shift, however, one can only speak of the way theories are appraised as scientific or not, though one must keep in mind that some theories are (given present knowledge) amenable to such scientific appraisal and some theories are (apparently) not." (Wettersten 1992a:196)
[5]) "Im Zusammenhang mit dem 'Falsifikationismus' (den ich jetzt zu vermeiden geneigt bin) möchte ich noch bemerken, dass ich nie gesagt habe, dass die Falsifikation wichtig ist, und wichtiger als die Verifikation. Die Falsifizierbarkeit ist wichtig (und wichtiger als die Verifizierbarkeit, weil diese eben auf wissenschaftliche Theorien nicht anwendbar ist); und was besonders wichtig ist, ist die kritische Einstellung: das kritische Verfahren." (Popper 1994b:XXX)
[6]) Wie unterscheidet als ein methodologischer Nominalist Popper (kollektive) Ideen von (individuellen) Vorstellungen?
[7]) Mein Argument verfährt analog der Kritik Alberts (1954a) an der Nutzentheorie und an der utilitaristischen These des Gütermaximums.
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