Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Demarkation von "Wissenschaft": Logik vs. Pragmatik

„Was mich aber am meisten beeindruckte, war Einsteins klare Feststellung, dass er seine Theorie als unhaltbar aufgeben würde, falls sie gewissen Über­prü­fungen nicht standhielte. (...) Das war eine Einstellung, die sich von der dog­ma­tischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied ...“ (Popper 1979a:48)

Dies macht zweierlei deutlich:

1. Poppers Beurteilung von Theorien erfolgt mittelbar, nämlich über die Beurteilung der Einstellung, womit ihre Autoren diese öffentlich präsentieren.

2. Popper meint, damit beurteilen zu können, unter welchen Bedingungen die von ihm ge­nannten Autoren willens wären, ihre Theorien zu revi­die­ren [1]).

Die Wissenschaftlichkeit eines Arguments kann sich indessen schwerlich daraus ab­lei­ten, wie das­selbe eingeführt worden ist: ob als ein Vorschlag oder mit der Versicherung absoluter Wahr­heit bzw. entspre­chen­der Überzeugtheit. Wir können den Wert eines Arguments auch nicht von der persönlichen Qualifikation des Argumentierenden ab­hän­gig ma­chen. Wenn Popper anderer­seits die Ob­jek­tivität der Wissenschaft an intersubjektivem Kritisieren und Ar­gumentieren fest­macht (Spin­ner 1978a:37), dann setzen diese Verhaltensnormen entsprechende soziale Bedin­gun­gen für entspre­chen­de Kom­mu­ni­ka­tionsbeziehungen von Wissen­schaft­lern voraus (mit einem Mi­ni­mum an kom­mu­nika­ti­ven Fähigkeiten der Betref­fenden). Al­bert (1972c:160f) unterscheidet zwi­schen der erforderlichen Über­einstimmung in der Einstellung und der Übereinstimmung in der sach­lichen Überzeugung.

Inwieweit ist aber überhaupt ein Konsens not­wen­dige Vorbedingung für einen rationalen Dis­kurs? Muss man so weit gehen wie Parsons (1965a:50), der für das Gelingen von Kom­mu­ni­ka­ti­on so­ziale Integration durch gemeinsame Wertvorstellungen für unabdingbar hält? Selbst Kriegs­par­tei­en kom­mu­nizieren miteinander. Wenn man diese jedoch deswegen als „so­zi­al inte­griert“ be­trach­ten soll­te (viel­leicht weil sie sich um etwas streiten, das sie gemeinsam für wert­voll hal­ten?), stellt sich die grund­sätz­liche Frage, unter welchen Be­din­gungen eine Menge an Indivi­duen nicht als sozial inte­griert ange­sehen werden könnte. Das heißt im End­ergebnis, die­ser Begriff erfüllt kei­ne dis­kri­mi­nierende Funk­tion mehr, son­dern wirkt nur noch als eine Bril­le, unter der alles in der besagten Wei­se notwendig so eingefärbt er­scheint. Gesell­schafts- und wissenschaftspolitisch brisant wird eine solche Ansicht erst so recht, wenn man wie Par­sons (1965a:47) das soziale Sy­stem Wissen­schaft im Wert­konsens der jeweiligen Gesell­schaft ver­an­kert. Dann wird deut­lich, dass nicht in jeder Art von Gesell­schaft Wissenschaft in die­sem Sinne möglich sein kann.

Zunächst ist hier jedoch über grundsätzlich mögliche Auffassungen der Aufgaben von Methodologie und Wis­senschaftstheorie zu sprechen. Ist Methodologie

1. eine rein logische Angelegenheit, oder

2. ein Set von Regeln wie in einem Sprach- oder etwa Schachspiel, oder

3. ein historisch und soziologisch ermittelbarer und erklärbarer Hand­lungs­zusam­men­hang?

Popper verwahrt sich mit aller Schärfe dagegen, dass er von Lakatos (1970a) in der Ent­wick­lung vom naiven zum sophisticated Falsifikationisten dargestellt wurde, und sucht dem­ge­gen­über deut­lich zu machen:

„Meine beiden Thesen - dass die Falsifizierbarkeit einer Theorie eine logische An­gelegen­heit ist und daher (fast immer) endgültig entscheidbar, während die em­pi­rische Falsifikation einer Theorie, wie jede empirische Angelegenheit, un­si­cher und nicht endgültig entscheid­bar ist - widersprechen sich nicht; und sie sind beide ge­radezu trivial.“ (Popper 1984a:426)

Der Unterschied, den Popper hier zwischen logischer Entscheidbarkeit und empirischen Ent­schei­dun­gen trifft, erinnert jedoch stark an das Verhältnis der reinen Ökonomie zu Wirt­schafts­fra­gen un­serer realen Welt, in welcher wir zur Zeit leben, was Albert (1963a) zur Diagnose des „Mo­dell-Plato­nis­mus“ geführt hatte. Popper wi­der­spricht sich aber schon bei der Exposition sei­nes Mo­dells von Me­thodologie. Warum sucht er, „wissenschaftlich“ als logisches Merkmal von Aussagen zu be­stim­men, wenn er selbst die von den betreffenden Autoren angewandte Me­thode bzw. Stra­te­gie [2]) als ausschlaggebend zu deren Beurteilung annimmt? Die De­markation von em­pi­ri­scher Wis­senschaft wird demzufolge nicht durch die Bestimmung des lo­gischen Cha­rakters der be­treffenden Aussagen geleistet, sondern erfolgt einfach durch die Ent­schei­dung [3]), an dem Sprach­spiel empi­ri­sche Wissenschaft teilzunehmen, d.h. die betref­fenden Aus­sagen einer empiri­schen Prüfung zu un­terziehen. Wir können uns jedoch mit dem­sel­ben set an Aus­sa­gen auch ent­schließen, am Sprach­spiel Metaphysik teilzunehmen, indem wir die­sel­ben Aus­sa­gen als tauto­lo­gi­sche oder gegen jegliche Erfahrung immune Definitionen be­han­deln. Es kann da­her aber nicht ein logisches Merkmal von Aussagen sein, worin es be­grün­det liegt, auf wel­che Art und Weise wir mit ihnen umgehen. Wetter­sten (1992a:196) ver­fehlt daher nicht, in die­sem zentralen Punkt bei Popper (1984a) auf eine we­sentl­iche Konfusion [4]) zu erkennen.

Popper [5]) spricht häufig nebeneinander von „Einstellung“ und „Verfahren“. Es kommt in­dessen nach Popper überhaupt nicht auf die dogmatische oder kritische Einstellung des be­tei­lig­ten Individuums an:

„Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissenschaft von der Ob­jek­ti­vität des Wissenschaftlers abhängt.“ (Popper 1969b:112)

Im Gegensatz dazu hält Mills (1963a:59) die Selbsterkenntnis des Soziologen für eine Vorbe­din­gung von Objektivität. Wenn man sich aber methodologisch allein darauf verlassen wollte, würde man die Me­tho­dologie des Gemeinschaftsunternehmens Wissenschaft individu­alpsy­cho­logisch auf­bauen. Me­t­ho­do­logisch kommt es hingegen vor allem auf den regulativen Cha­rakter des Wis­sen­schaftsspiels an, nämlich insoweit das­selbe Kritik zu fördern geeignet ist:

„Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermög­licht, ein herrschendes Dog­ma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Ob­jek­ti­vität der Wissenschaft ist nicht eine in­dividuelle Angelegenheit der ver­schie­de­nen Wis­sen­schaftler, son­dern eine soziale Ange­le­genheit ihrer gegenseitigen Kri­tik, der freund­lich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissen­schaftler, ihres Zu­sammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt da­her zum Teil von einer ganzen Rei­he von gesellschaftlichen und politischen Verhältnis­sen ab, die diese Kritik er­möglichen.“ (Popper 1969b:112)

Popper bezieht diese Einsicht auch auf die Lösung seines "Demarkations­pro­blems":

„Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugänglich ist, so wird er eben deshalb als unwis­sen­schaft­lich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig.“ (Popper 1969b: 105f)

Ist diese „sachliche Kritik“ aber noch Poppers (1984a) Falsifikationskriterium, eine logische Ei­gen­schaft von Aussagen? „sachlich“ scheint dasselbe wie „empirisch falsifizierbar“ heißen; es kann je­doch auch um­fas­send „objektiv kritisierbar“ bedeuten. Anscheinend trägt Popper hier Bartleys Kri­tik im­pli­zit Rechnung.

„Eine kritische Diskussion der konventionalistischen Einwände ist möglich und wird von Popper selbst geführt.“ (Andersson 1988a:139)

Hier verbirgt sich jedoch nicht nur ein Problem von Explikation und programmatischer Reich­weite, sondern auch ein Problem des Übergangs von individuellen Eigenschaften der Wis­sen­schaft­ler zu in­ter­sub­jektiven und logischen Qualitäten. Lakatos (1970a:180, Anm.1) ver­si­chert uns zwar, dass vie­le psycho­lo­gistisch klingenden Äußerungen Poppers in Welt-3-Begrif­fen [6]) ge­hal­te­ne übersetzt werden können. Popper (1964b:92) z.B. geht aber bruchlos von „Ein­stellung“ zur „Tra­ditions­bil­dung“ über, ohne den Über­gang von der individuellen zur kol­lektiven Ebene über­haupt als problematisch zu empfinden, was der­selbe jedoch wegen der lo­gi­zistischen Grund­lage der be­tref­fenden Metho­do­logie sein muss. Denn eine Tradition lässt sich nicht durch ein bloßes Aggre­ga­tionsverfahren einfach aus individuellen Einstellungen logisch de­du­zieren.[7])

Popper (1969b; 1984a) gibt uns so vieles, was jedoch oft unvermittelt nebeneinander steht oder leider etwas durcheinander geht:

1. eine aussagenlogische Rekonstruktion empirisch-wissenschaftlicher Theoriesysteme wie

2. das Konstruktionsprojekt eines Sprachspiels methodologischer Regeln sowie

3. eine Menge psychologischer und soziologischer Einsichten.

Die psychologischen und soziologischen Ergänzungen, womit Popper notdürftig bestimm­te Ris­se seiner Lösungsversuche kittet, sind freilich ad hoc und lassen Fragen nach der Ko­härenz des Gesamt­entwurfs, bzw. nach welchen Kriterien letztere zu vollziehen sei, nur um­so dringli­cher er­schei­nen.



[1]) Immerhin wird erkennbar, dass Poppers Einschätzung der Revisionsbereitschaft der ge­nann­ten Autoren von sei­ner eigenen Art der Rezeption derselben bzw. von der ihm eigen­tüm­li­chen Lesart abhängt. Letzten Endes hängt dann der dog­matische Charakter eines Autors davon ab, inwieweit Popper sich bei seiner Lektüre gezwungen fühlt, desselben Argu­men­tationsstrategien dog­matische Motive zu unterstellen.

[2]) "Die Frage, ob ein vorliegendes System als solches konventionalistisch oder empirisch zu nen­nen ist, ist deshalb falsch ge­stellt: Nur mit Rücksicht auf die Methode kann man von konven­ti­o­nalistischen oder von empiri­schen Theorien sprechen. Wir können dem Konventionalismus nur durch einen Entschluss ent­gehen: Wir setzen fest, seine Methoden nicht anzu­wen­den und im Falle einer Bedrohung des Systems die­ses nicht durch eine konventiona­li­stische Wendung zu retten, d.h. nicht un­ter allen Umständen das (...) zu erzielen, was 'Übereinstimmung mit der Wirk­lichkeit' ge­nannt wird.*1- Anm.*1: Hans Albert schreibt statt 'konventionali­sti­scher Wendung' besser 'Immuni­sie­rung'." (Pop­per 1984a:50)

[3]) In dieses Bild fügt sich, wenn Habermehl (1980a:100) Lakatos vorhält, dass naiver und raffi­nierter Falsi­fi­ka­tionismus unterschiedliche Demarkationskriterien verwendeten - doch ist Haber­mehl offenbar nicht aufgefallen, dass schon von Popper selbser das Demarkationskriterium äqui­vokativ verwandt wird.

[4]) "The new problem was to demarcate scientific systems but not by the logic of their proof or refutation alone but rather by the methodology which is used to appraise them: do we seek to re­fute them or not? This rationale in­tro­duced an ambiguity into Popper’s theory which has proved troublesome ever since: do we de­marcate ways of trea­ting theories as scientific or do we demarcate theories? Popper speaks both ways and subsequent thinkers have often followed him. After Pop­per’s shift, how­ever, one can only speak of the way theories are appraised as scientific or not, though one must keep in mind that some theories are (given present knowledge) amenable to such scientific appraisal and some theories are (apparently) not." (Wettersten 1992a:196)

[5]) "Im Zusammenhang mit dem 'Falsifikationismus' (den ich jetzt zu vermeiden geneigt bin) möchte ich noch bemerken, dass ich nie gesagt habe, dass die Falsifikation wichtig ist, und wich­ti­ger als die Verifi­ka­ti­on. Die Falsifi­zierbarkeit ist wich­tig (und wichtiger als die Verifizierbarkeit, weil diese eben auf wissen­schaft­liche Theorien nicht anwendbar ist); und was besonders wichtig ist, ist die kritische Einstellung: das kritische Verfahren." (Popper 1994b:XXX)

[6]) Wie unterscheidet als ein methodologischer Nominalist Popper (kollektive) Ideen von (in­dividuellen) Vor­stel­lungen?

[7]) Mein Argument verfährt analog der Kri­tik Alberts (1954a) an der Nutzentheorie und an der utilitaristischen These des Gü­ter­maximums.

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