Popper enttäuscht also auch und gerade dann, wenn man ihn an den Maßstäben seiner eigenen Metatheorie misst. Eine fallibilistische Methodologie ließe sich die Erarbeitung dieser Problemstellung und eine Konfrontation mit Metatheorien und politischen Konzeptionen angelegen sein. Popper kennt jedoch nur seine persönliche gesellschaftspolitische Grundüberzeugung, die für ihn Einfachheits halber mit der des freiheitlichen Westens gleichzusetzen ist und welche er unvermittelt dem Totalitarismus eines Hitler und Stalins gegenüberstellt. So kann Poppers Verortung [1]) auf der Links-Rechts-Skala [2]), wie sie Jarvie u. Shearmur vorzunehmen versuchen, kaum einen Anhaltspunkt liefern. Ich halte es im übrigen für unser Erkenntnisziel wenig ersprießlich, eruieren zu suchen, ob Poppers Anhänger oder er selber seine politischen Ansichten besser verstanden haben. Wir sollten uns auf Poppers Texte selbst und deren theoretische Implikationen konzentrieren und erst aufgrund der Textanalyse unsere eigenen politischen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Die vorangegangene Darstellung der vom Autor intendierten Zielgruppe und der von solchen Intentionen abdriftenden anschließenden Rezeptionsgeschichte [3]) wären jedoch wohl wissenschaftssoziologisch interessant, mit dem Schicksal von Hegels Rechtsphilosophie zu vergleichen. Vielleicht hat doch nicht immer jeder Autor die Anhänger, die er verdient bzw. die er sich gewünscht hat. Umso mehr erscheint es aber dann wichtig, die Interpretation des authentischen Werkes von den posthum historisch wirksam werdenden Interpretationen durch die Nachfolger deutlich zu unterscheiden. Wie Spinner im Falle Poppers klar herausgearbeitet hat, hängt das, was von einer Philosophie von politisch interessierter Seite rezipiert wird, mehr von diesen politischen Interessen und der entsprechend wahrgenommenen Situation ab als von der objektiven Gestalt der betreffenden Philosophie bzw. von den jeweiligen Intentionen des betreffenden Autors:
„Die deutschen Politiker und Parteien haben den ‘Popper’, den sie verdienen. Es ist Jedermannspopper: für alle nützlich, aber niemandem hilfreich und zu nichts wirklich zu gebrauchen!“ (Spinner 1978a:56)
Jedoch beim piece-meal engineering, welches zwar Günther (1984a:104) mit einem gewissen Recht als „herrschaftskonservativ“ [4]) einordnet, erscheint Poppers Sozialphilosophie in entscheidenden Hinsichten als Theorie oder schon als Text logisch unterbestimmt zu sein. Solange nicht klar gemacht wird, auf welche Gesellschaftsordnung oder -theorie sich der Gradualismus der kleinen Schritte bezieht, lässt sich darüber kaum sinnvoll diskutieren. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass Popper die deutsche Wiedervereinigung als revolutionär politisch verdammen wollte, obwohl sie sicherlich als ein großer Schritt bezeichnet werden muss. Wenn nicht, erhebt sich jedoch die Frage, woher Popper die unterschiedlichen Maßstäbe hernimmt und diese zu bestimmen gedenkt. Mit vagen Floskeln [5]) werden konkrete politische Fragen scheinbar allgemein gültig beantwortet. Wenn er sich gar zur Behauptung versteigt, große Schritte seien schon logisch unmöglich, so ist diese seine Aussage nicht nur ohne Gehalt, sondern schlechthin unwiderlegbar (Günther 1984a:102). Die Entgegensetzung von Reform und Revolution lässt auf eine durch und durch essentialistische Begriffslogik schließen (Günther 1984a:103). Wenn dem nicht der Fall sein sollte, dann wäre noch viel weniger ersichtlich, wovon Popper eigentlich zu sprechen versucht. Reichlich unbestimmt verbleibt Poppers Idee eines „negativen Utilitarismus“ (Günther 1984a:82).[6])
[1]) „One particular group Popper hoped to appeal to was what is loosely known as the left - social democrats and social liberals. By pointing to problems in the understanding of science and rationality, he hoped to show why a liberationist movement like Marxism had spawned a totalitarian form with close connection to fascism. His arguments, he believed, could place social and political liberalism on less shaky philosophical ground. Instead, he was attacked by a post-war Stalinist left, then again by a 1950s revisionist New left, then again by an Hegelian irrationalist left of the 1960s and beyond. It was classic economic liberals, libertarians, and minimalists who claimed adherence to his social and political thought. Their allegiance was clear evidence that he had not been read carefully enough, though one of us (Shearmur) has argued that the logic of Popper’s own political principles should have led him to economic liberalism." (Jarvie u. Shearmur 1996a:446f)
[2]) Die Idee des politischen Raums des Rechts-Links-Spektrums mittels semantischen Differentials und anderen sozialpsychologischen Skalierungsmethoden sucht Laponce (1972a) zu einem empirischen Forschungsinstrument weiter zu entwickeln.
[3]) vgl. z.B. die Popper-Rezeption durch deutsche Parteistrategen, wie sie Spinner (1978a:42ff) resümiert hat - eine durchweg bemerkenswerte Offenbarung spinnerscher okkasioneller Vernunft.
[4]) Wenn man sieht, auf welchen Akteur Poppers Vorschläge für das postsozialistische Osteuropa zielen, stellt sich Poppers Zielgruppenorientierung als ebenso gouvernementalistisch heraus wie seinerzeit Hegels: "Die schreckliche Tradition zurechtzurücken und den Rechtsstaat zu verwirklichen, ist die schwere Aufgabe der neuen Staatsorgane. Dazu muss der Staat ..." (Popper 1992a:XII) Er formuliert so flugs eine Wunschliste von Forderungen, die der Staat erfüllen soll, um den Anschluss der Gesellschaft an die Wirtschaftsentwicklung des Westens zu erreichen. Dabei macht er aber weder deutlich, wer den Staat zu dieser Politik bringen soll, noch welcher Stellenwert etwa sein Abwählbarkeitsprinzip zukommt, worauf manche Popperianer so große Stücke halten.
[5]) „In these circumstances one can do one of the following two things. One can stop appealing to permanent standards which remain in force throughout history and govern every single period ... Or one can retain such standards as a verbal ornament ..." (Feyerabend 1970a:215)
[6]) Übrigens wurde diese Idee (in ähnlich vager Weise) auch schon von Feuerbach propagiert.
1 Kommentar:
„Unumstritten ist dagegen der zweite Generalstaatsanwalt, Christoph Schaefgen. Der neue Leiter der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht, zuständig für Regierungs- und Vereinigungskriminalität und Rechtsbeugungsfälle, hat vorher die Ermittlungsgruppe DDR-Regierungskriminalität geleitet. In seiner gestrigen Rede zitierte er den im letzten Jahr verstorbenen Philosophen Karl Popper: ‚Optimismus ist Pflicht.’“ (Bollwahn 1995a)
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