Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

02.10.2005

Was ist Positivismus?

Was ist "Positivismus"?

Vorstehende Fragestellung ist natürlich; aber unnatürlich - d.h. unter dem Ge­sichtspunkt pop­perscher Essentialismus-Kritik - betrachtet, als "naiv" zu bezeich­nen.

Wenn jedoch entschieden werden soll, ob zum Bei­spiel Pop­per ein "Positivist" genannt wer­den darf, so muss einfach geklärt werden:

Was kann und soll unter "Positivismus" verstanden werden?

Astreiner Positivismus ist etwa der Physikalismus Neuraths (1931a:11). Er pro­pa­giert die Ein­heits­wissenschaft auf dem Boden der Physik, welche nur Aussagen über raum-zeitliche Gebilde an­erkenne. Me­taphysische Aussagen seien im Gegen­satz dazu als leer, sinnlos und völlig über­flüssig und daher wie gedankliches Un­kraut auszurotten.[1])

Es kehrt in der Philosophiegeschichte (zumindest der europäischen Neuzeit [2]) stets die Tat­sache wie­der, dass die philosophischen Neuerer die gegnerische, be­kämpfte Philosophie als ver­schim­mel­te Metaphysik [3]) und nutzlose Scholastik hinstellen, die neue Philosophie jedoch als die Wissenschaft (und nichts als Wis­sen­schaft!).

„Positivism is a (rationalized) distaste for philosophy.” (Agassi 1993a:17)

Erklärte Anti-Metaphysik ist sowohl eine Aus­gren­zungs- als auch eine Verdrän­gungs­strate­gie: sie wird immer dann benötigt, wenn an­dere, neu­e­re Götter instal­liert werden sollen. Ins Au­ge fällt im­mer nur die fremde, nicht sowohl die ei­ge­ne Me­taphysik. Und wenn deren philoso­phi­scher Cha­rak­ter endlich einmal be­merkt wird, dann handelt es sich eben nur um die „aller­un­ver­meidlichste“ Phi­lo­so­phie. [4])

Dies kann man aber getrost als positivistischen Trend ansehen, von welchem auch Marx und En­gels keineswegs frei sind. Ja, die Frontlinien zwischen Metaphy­si­k und Positivi­smus laufen wie so vieles so richtig quer durch den Marxismus. Marx (ÖPM) formuliert seine Kapi­ta­lis­mus­kritik noch mit den be­grifflichen Mitteln, die er von Hegel und Feu­erbach hergenommen hat, wobei letz­terer schon ei­ne Wen­dung von der Theologie zur naturwissenschaftlich orientierten An­thropologie voll­zo­gen hatte. Dabei ist jedoch eine naturwissenschaftlich aufgezäumte Philo­so­phie so wenig eine Naturwissen­schaft, wie eine als Logik aufgezäumte Philosophie oder Psy­cho­logie Logik darstellen.

Die Tendenz zum Po­siti­vis­mus kommt bei Engels (1970a) [5]) sehr deutlich zum Aus­druck und er­reicht in Lenin (1947a) ih­ren erkenntnistheoretischen Höhepunkt, in wel­cher Formu­lie­rung er dann schließlich vom Sowjetmarxismus zur Sprach­re­ge­lung und Richtlinie benutzt wur­de (Gid­dens 1971a:xiv).

„Auflösung“ der Philosophie [6]) ist im Sprachgebrauch der Dialektik bekanntlich nicht das­sel­be wie „Ver­nichtung“ oder „Abschaffung“. Marx verfuhr „auflösend“ in derselben Weise, wie Feyerabend dies bei Galilei zu entdecken vermeinte.[7]) "Abschaffen" will der Junghege­li­aner Bruno Bauer (Wet­ter­sten 1992a) und verlangt auch Popper (1984a:10), der aller­dings an die­ser Stelle vermutlich eher die Auf­fas­sung der Positivisten darstellt . Ähnlich for­derte Neu­rath (1931a:60) kurzweg die Auf­lö­sung aller Sozialwissenschaften in die Physik: "Alles, was an Re­al­wissen­schaften gegeben ist, kann nur Phy­sik sein." Poppers eigenes Streben ist weniger Ver­nichtung als viel­mehr Ab­gren­zung. Der Wert des Aus­ge­grenzten bemisst sich für ihn al­ler­dings an dessen Funktion für das Einge­grenzte. Denn was sich nicht ausgrenzen lässt, geht oft sehr schnell ans Eingemachte.

Während Popper und Albert, vom Positivismus ausgehend, Philosophie wieder­ent­deckt ha­ben, gin­gen Feuerbach, Marx und Engels den nämlichen Weg, aber in der entgegen­ge­setzten Richtung. Es lässt sich somit nicht übersehen, dass es sich beim Positivismus, wenn man seinen Begriff wei­ter fasst als eine fest­ um­ris­sene Doktrin, um eine Tendenz handelt, die in wech­seln­den Gestalten aufzutreten ver­mag. In der universellen Form der Reduktion auf das Prä­zi­se und Nachprüfbare und der Minimierung von Zuge­ständ­nis­sen an Metaphy­sik und Philosophie über­haupt ist die posi­tivistische Neigung in jegweder Wissenschaft in vielfachen Formen prä­sent.

Es geht also hier nicht um den historisch bestimmbaren Positivismus­be­griff, son­dern um je­nen all­ge­meineren: „Positivismus“ als ein Programm der Reduktion auf möglichst formal­logi­sche Rekon­struk­tion, verbunden mit minimalen explizit meta­physischen [8]) Annahmen.

„Dass wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus.“ (Habermas 1975a:9)



[1]) "Jede Aussage, die sich nicht widerspruchslos der Gesamtheit der Gesetze einfügt, muss ver­schwinden; je­de Aussage, die nicht auf Formulierungen, die sich auf 'Daten' beziehen, rückführbar ist, ist leer, ist Meta­phy­sik." (Neurath 1931a:12)

[2]) Sichtlich positivistische Neigungen lässt Feuerbach erkennen, wenn er am 1. Juli 1867 an Bo­lin schrieb: „Sie sehen noch immer nicht ein, dass ich keine andere Philosophie habe als die unver­meid­li­che, die Philosophie, die man nicht aufgeben kann, ohne aufzuhören Mensch zu sein, dass aber mit dieser Philosophie die bisherige, Kant mit eingeschlossen, gar nichts gemein hat, dass die Basis derselben die Na­tur­wissenschaft, dass diese allein Vergangenheit, Gegenwart und Zu­kunft für sich hat, während die Philosophie, we­nig­stens die allein diesen Namen sich anmas­sen­de, nur die Vergangenheit für sich hat und zu den prak­ti­schen labores oder vielmehr errores der Menschheit gehört." (1874a:191)

[3]) "Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist sozusagen mit Stumpf und Stiel aus­gerottet worden und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden." (Hegel, Wissenschaft der Logik:2) - "Die hegelsche Dialektik hat also einerseits eine notwendige Beziehung zur Meta­physik und ist ihr anderseits wesentlich entgegengesetzt." (Sarlemijn 1971a:14)

[4]) "In der Dogmengeschichte der Soziologie ist es seit St.-Simon und Comte die Regel, dass im Zeichen der Ent­zauberung der Welt ein Forscher seinen Vorgänger einen Metaphysiker schilt ..." (Adorno, Rede beim of­fi­zi­el­len Empfang im Heidel­ber­ger Schloss, in: Stammer 1965a:101)

[5]) vgl. dazu Katsiaficus (1979a)

[6]) Engels sieht die Aufgabe des modernen Materialismus darin, in der Geschichte der Mensch­heit die Be­we­gungs­gesetze der Entwicklung zu entdecken, so wie bereits in der Naturwissenschaft durch Darwin ge­sche­hen: "In beiden Fällen ist er we­sentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehen­de Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stel­lung im Ge­samtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Din­gen sich klar zu werden, ist jede be­sondre Wissenschaft vom Gesamtzusam­menhang überflüssig. Was von der ganzen bis­herigen Philoso­phie dann noch selb­ständig bestehen bleibt, ist die Leh­re vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Lo­gik und die Dia­lek­tik. Al­les andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte." (En­gels, Anti-Dühring:37). Vgl. Hein­tel (1984a:116) und Negt (1964a:10f) zur analogen Einstellung Com­tes über die Rolle, die Philo­so­phie von nun an aus­gespielt habe. - Für die Auseinandersetzung mit dem Mar­xismus muss daher als hi­sto­rische Tatsache berücksichtigt wer­den, dass die marx­sche Theorie von En­gels bis zu Kaut­s­ky und Lenin (mindestens bis zur Veröffentlichung der „Ökono­misch-phi­losophischen Manu­skrip­te“) von Marxisten wie von Marxismuskritikern wenn nicht in der hegelschen, dann über­wie­gend in die­ser po­si­ti­vi­stischen Lesart abge­han­delt wurde. Mar­xens Hegel-Kritik wurde dabei lediglich als ei­ne „Um­stül­pung“ im Sin­ne der Ide­alis­mus / Materialismus - Antinomie angesehen, wie sie Lenin (1947a) als die Grund­satz­fra­ge der Philosophie exponiert hat­te, was aber Marx auf Feuerbach re­du­ziert. Diese In­ter­pre­ta­tion des historischen Materialismus als eine Stellungnahme im Hinblick auf das Verhältnis von „Real- und Idealfaktoren“ findet sich im An­schluss an Mann­heim noch bei Par­sons (1965a:44). Die Fixierung auf diese Antinomie ist aber dem Ver­ständ­nis der marxschen Ge­sell­schafts­ana­ly­se nicht nur hin­der­lich, son­dern im Grunde sogar irrelevant (Giddens 1971a:xv).

[7]) „Gelehrter Brauch war es, die Autoritäten in Einklang zu bringen; er dagegen wählte Bruch­stü­cke ihrer Ar­gu­men­te und Beschreibungen aus, um eine eigene neue Auffassung aufzubauen. Nennt man die erste Ver­wendung der Autoritäten bewah­rend und die zweite auflösend, so kann man sagen, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert die auflösende Verwendung von Au­toritäten ver­breitete." (Feyerabend 1976a:213, Anm.11)

[8]) "By 'metaphysics' he meant syntactically specifiable statements like 'all-some' statements and pu­rely exis­ten­ti­al statements. No basic statements could conflict with them because of their logical forms." (Lakatos 1970a:183) Diesen Wortgebrauch findet Kneale (1974a:206f) recht sonderbar. Denn etwa schon der Glaube an He­xen (Marwick 1970a) fiele dann unter "Metaphysik", was weder einen besonderen Sinn macht noch mit der her­kömmlichen Be­griffs­ge­schichte übereinkommt. Der Titel "Metaphysik" findet sich nicht schon bei Aristoteles, obwohl dieser dafür als der Stamm­vater gilt, sondern zum 1. Male bei Nikolas v. Damaskus (2. Hälfte des 1. Jahr­hun­derts n. Chr.), ist aber vermut­lich etli­ches älter (Aubenque 1961a:325, Anm.10).

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