Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Mit Universalien kein Streit?

"Selbst wenn man das Universalienproblem auf die Realität der Gattungsbe­grif­fe in der Weise der Scholastik beschränkt, hat es in der weiteren Entwick­lung noch wesentlich neue Phasen durch­lau­fen und kann gerade auf dem heu­tigen Stande der Wissenschaft nicht als endgültig gelöst an­ge­se­hen werden. Da­hinter aber erhebt sich die allgemeinere und schwierigere Frage, welch eine meta­phy­si­sche Bedeutung jenen allgemeinen Bestimmungen zukommt, auf de­ren Er­kennt­nis alle erklä­ren­de Wissenschaft hinausläuft: (...) Deshalb ist den For­schern von heute, welche den Univer­sali­en­streit als abgetan zum Gerümpel wer­fen oder gar wie eine überwun­dene Kinderkrankheit be­han­deln möchten, so­lange sie nicht mit voller Sicherheit und Klarheit anzugeben wissen, worin die me­ta­physische Wirklichkeit und Wirk­samkeit dessen besteht, was wir ein Natur­gesetz nennen, noch im­mer zuzurufen: mutato nomine de te fabula narratur." (Windelband 1976a)

Wir sind damit auf einem durch die Jahrhunderte umkämpften Schädelstätte angelangt: dem des sog. "Univer­salienstreites". Boethius (ca. 480-524/5) hat durch seine Synthese von Platon und Ari­sto­teles das Europa nach der Völkerwanderungszeit stark beeinflusst und in seinen lo­gischen Un­ter­su­chungen zur aristo­te­li­schen Logik den Grundstein gelegt zum Problem der Uni­versalien (Höffe 1981b:91). Auch Feuerbach sah sich genötigt, zu diesem Thema einen Problem­ab­riss [1]) zu liefern. Stegmüller (1965a) hat hierzu eine äußerst instruktive Übersicht ver­tret­ba­rer Optio­nen gegeben und daran auch einige An­mer­kun­gen über den aktuellen Diskussions­stand ge­knüpft.

Gerade in dieser Frage schlägt Popper aber in seiner gewohnten Manier positivisti­sche Ha­ken, dass er nicht von den Gespenstern der Metaphysik zur Strecke gebracht werde. Er schnei­det die damit verknüpften ontologischen oder gnoseologischen Probleme einfach da­durch ab, dass er sie zu „methodologisieren" angibt:

„Zumindest zehn Jahre bevor ich diesen Namen wählte, war mir bewusst ge­worden, dass mein eigenes Problem im Gegensatz zum klassischen Universali­enproblem (und seiner biologischen Variante) ein Problem der Methode war. Schließlich war ja jene Maxime, die ich mir ursprünglich eingeprägt hatte, dar­auf gerichtet gewesen, auf eine bestimmte Art zu denken und vorzugehen. Des­halb hatte ich, lange bevor ich die Ausdrücke Essentialismus und Anti-Essen­tia­lismus einführte, den Ausdruck ‘Nominalismus’ durch das Prädikat ‘methodo­lo­gisch’ ein­geschränkt und jene Einstellung, die meiner Maxime entsprach, als ‘me­thodologischen Nominalismus’ bezeichnet. Heute erscheint mir der Name ein wenig irreführend." (Popper 1979a:22)

Damit kann Popper vielleicht für den Augenblick Streit vermeiden. Aber eben nur vorder­grün­dig: was so ein echtes philosophisches Problem ist, das kommt, wenn man es zur Vordertür hin­auswirft, durch die Hintertür wieder zurück. Letztlich muss man Poppers Strategie der Me­tho­dologisierung als das erkennen, was es ist: eine Strategie, kritische Konfrontation zu ver­hin­dern, also letztlich ein Mittel zur Immuni­sie­rung. Über derlei Ten­denzen zu Unphilosophie sagt Bunge:

"They did not realize that scientific research presupposes a number of onto­lo­gi­cal hypotheses, such as the autonomy and lawfulness of the external world: that metaphysics is not only a source of science but also an unavoidable com­ponent of it. A component that can harm if hidden, help if disclosed and worked out." (Bunge 1996a:534)

Die von den alten Griechen bis zum Neukantianismus geübte Art des Philosophierens in Be­grif­fen und Systemen wird von Popper als „essentialistisch" abgekanzelt, ohne dass Popper ei­ne zureichende logische Ana­lyse des Problems begriffsorientiertes vs. aussagenorientiertes Den­ken geliefert hätte.

Lask (1914a:15ff) liefert eine Übersicht über mögliche Wer­tungsarten [2]).


[1]) „Die Frage, ob ein Gott die Welt geschaffen, die Frage nach dem Verhältnis überhaupt Got­tes zur Welt, ist die Frage nach dem Verhältnis des Geistes zur Sinnlichkeit, des Allgemeinen oder Abstrakten zum Wirklichen, der Gattung zu den Individuen; jene kann daher nicht ohne diese gelöst werden; denn Gott ist ja nichts anderes als der Inbegriff der Gat­tungs­begriffe. (...) Ich be­mer­ke aber, dass diese Frage zu den wichtigsten und zugleich schwierigsten Fragen der menschli­chen Erkenntnis und Philosophie gehört, wie schon daraus erhellt, dass die ganze Geschichte der Philosophie sich eigentlich nur um diese Frage dreht, dass der Streit der Stoiker und Epikureer, der Platoniker und Aristoteliker, der Skeptiker und Dogmati­ker in der alten Philosophie, der Nominali­sten und Realisten in dem Mittelalter, der Idealisten und Realisten oder Empiristen in neuerer Zeit nur auf diese Frage hinausläuft. Sie ist aber eine der schwierigsten Fragen nicht nur deswegen, weil die Phi­losophen, namentlich die neuesten, durch den willkürlichsten Gebrauch der Worte eine un­endliche Konfusion in diese Ma­te­rie gebracht haben, sondern auch, weil die Natur der Sprache, die Natur des Denkens selbst, welches sich ja gar nicht von der Spra­che abtrennen lässt, uns gefan­gen­nimmt und vexiert, indem jedes Wort ein allgemeines, daher vielen schon die Sprache allein, weil sich das einzelne nicht einmal aussprechen lasse, ein Beweis von der Nichtigkeit des einzelnen und Sinnlichen ist. Es hat endlich auf diese Frage einen wesentlichen Einfluss die Verschiedenheit der Menschen hinsichtlich ihres Geistes, ihrer Be­schäftigung, ihrer Anlagen, ihres Temperaments selbst. Menschen, z. B. die sich mehr im Leben, als in der Studierstube, mehr in der Natur, als in Bibliotheken herumtreiben, Menschen, deren Beruf und Trieb sie an die Beobachtung, die An­schau­ung der wirklichen Wesen treibt, werden diese Frage stets im Sinne der Nominalisten ent­schei­den, welche dem Allgemeinen nur eine subjektive Existenz, eine Existenz in der Sprache, der Vor­stellung des Menschen einräumen, Menschen von ent­ge­gengesetzten Beschäftigungen und Ei­gen­schaften dagegen im entgegengesetzten Sinne, im Sinne der Realisten, welche dem All­gemeinen eine Existenz für sich selbst, eine Existenz unabhängig vom Denken und Sprechen des Menschen einräumen." (Feuerbach o.J.:71)

[2]) "Es wird sich darum die Wertbetrachtung unter dem Gesichtspunkte der Individualität stets im Gegensatz wis­sen zu den atomisierenden Bestrebungen der abstrakten Richtung. Die Erkennt­nis dieser Zusammenhänge und das un­ab­lässige Ringen, den Gesichtspunkt der Wertindividualität und Werttotalität gegenüber einem jahrhun­der­te­lan­gen Verfahren der vorangegangenen Philoso­phie wie­der zur Geltung zu bringen, gehört zu den wertvollsten und ge­waltigsten Bestandteilen von Hegels Denkarbeit. Eine genauere Darstellung hätte zu zeigen, wie Hegels Stel­lung in der Ge­schichte der Kul­turprobleme, insbesondere auch der Rechts- und Staatsphilosophie, ganz und gar auf seiner Pole­mik gegen die abstrakte Wertlogik beruht. Statt dieses Nachweises, der hier unter bleiben muss, soll zur Rechtfertigung unserer ganzen wertlogischen Betrachtungsart wenig­stens an­deutungsweise dar­auf hingewiesen werden, welche Klarheit über den geschichtlichen Ge­samt­ver­lauf der Wertprobleme durch unsere Unterscheidung der beiden Wertungsarten sich ge­win­nen lässt, und wie insbesondere die Berücksichtigung des Zusammenhanges zwischen abstrak­tem Wert­schema und Atomismus ei­ner­seits, zwischen dem Gesichtspunkt der Wertindividualität und dem des Wertganzen andrerseits, es erst ermöglicht, die in der Geschichte des Wertens aufge­tre­te­nen verschiedenen Bedeutungen von ‘Individualismus’ und ‘Universalismus’ auseinan­der­zuhalten. Die­sem Zwecke diene folgende schemati­sche Übersicht: Man kann unterscheiden

1. einen Individualismus (1), der die Selbständigkeit des isolierten Individuums gegenüber allen (hi­storischen wie socialen) Zusammenhängen, also gegenüber dem Wertganzen behauptet, ge­gen­über dem Wertallgemeinen dagegen eine das Individuum fast erdrückende Untergeordnetheit zu­lässt, mit­hin: Atomismus auf abstrakter Grundlage. Vertreter: Rationalismus der Aufklärung auf al­len Gebie­ten und zu allen Zeiten (bei dem in der Tat mit der Empö­rung des Einzelnen gegen das Ganze die weit­gehende Unterwerfung unter eine abstrakte Gesetzlichkeit fast stets Hand in Hand ging).

Wo dabei der Schwerpunkt auf die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Einzelnen gegenüber den abstrakten Werten gelegt wird, da wird dieser Individualismus geradezu zu einem Universalismus (1) hinsichtlich des Allgemeinen. Besonders typisch: Neuplatonismus, deutsche Mystik (Gegen­überstel­lung des Ewigen und des Histori­schen, zugleich individualistischer Gegensatz gegen den Gedanken der Gemeinschaft).

2. einen Individualismus (2), der die selbständige Bedeutung der Wertindividualität gegenüber al­len bloß abstrak­ten Werten verficht, dagegen die Eingliederung in eine Werttotalität behauptet. Ver­tre­ter: Christentum (Wert der Einzelseele, daneben Idee der Gemeinschaft), moderne histori­sche Welt­an­schauung /Äusserung auf einzelnen Gebieten: historische Rechtsschule, geschichtliche National­öko­nomie u. s. w.; deren gemeinsame Polemik gegen den abstrakten Rationalismus und ‘Atomis­mus’), ferner Philosophen wie Schleiermacher.

Wird dabei die Einordnung des Einzelnen in das Wertganze übermässig gesteigert, so wird dieser Individualismus geradezu zu einem Universalismus (2) hinsichtlich des Wertganzen. Besonders ty­pisch: im Christentum z. B. Augustin, ferner Philosophen wie Plato (in der Staatslehre) und Hegel.

3. einen Individualismus (3), der nicht nur die Selbständigkeit des Einzelnen gegenüber den allge­mei­nen Werten behauptet, sondern auch gleichzeitig jede Einordnung in eine Werttotalität ablehnt. Vertreter: geniale Moral z. B. der Stürmer und Dränger, Herrenmoral der griechischen Sophisten und Nietzsches.

4. einen Universalismus (3), der die Individualitäten lediglich zum Mittel eines Ganzen herab­drückt, sie aber gleichzeitig nach atomistisch-rationalistischem Schema nur als gleichgültig neben­ein­ander gereihte Durchschnitts­exemplare gewissen abstrakten Merkmalen und Erfordernissen un­ter­wor­fen wissen will. Vertreter: Sozialismus, besser Kollektivismus genannt." (Lask 1914a:15ff)

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