Jede Philosophie trifft bestimmte Voraussetzungen. Im ursprünglichen Wortsinn sind das ihre eigentümlichen Prinzipien: das, wovon etwas seinen Ausgang nimmt (Imbach 1981a:228). Marx und Engels beginnen mit den wirklichen, d.h. hier (anders als bei Hegel): empirisch feststellbaren Voraussetzungen [1]). Im Manuskript gestrichen folgt darauf eine Reminiszenz an Fichte [2]). Marx bezieht sich hiermit auf den Unterschied zwischen den „Voraussetzungen" einer Theorie oder einer Diskussion (z. B. die Regeln der Logik oder eines Diskurses) und „Annahmen" oder „Prämissen", aus denen abgeleitet werden soll. Nur zu gerne wird dieser eminente kategoriale Unterschied übersehen (Albert 1976a:171, Anm. 15).
Für Marx ist hier natürlich vor allem seine Differenz zu Hegel relevant. Hegels System darf seinem idealistischen Programm gemäß, die letztlich im Transzendentalismus der kantischen Erkenntnistheorie gründet, nichts voraussetzen. Als Materialist setzt Marx die Realität voraus samt den wirklichen Menschen. Der transzendentale Ansatz einschließlich der mit ihm einhergehenden Rechtfertigungsstrategie ist schon aus diesem Grunde für ihn blanker Scholastizismus. Oder in der Terminologie der analytischen Erkenntnistheorie: Epistemische Zirkularität ist nur dem epistemischen Internalisten logisch fatal (Grundmann 1997a:638f).
Wenn Popper (1969b:104) sagt, die Erkenntnis beginnt nicht mit Tatsachen, sondern mit Problemen, so hat er damit zweifelsohne einen wesentlichen Gesichtspunkt getroffen. Dennoch muss sich dadurch keine direkte Inkonsistenz mit Marxens Ausgangspunkt ergeben, da es Marx hier nicht um den Vorrang einer bestimmten logischen Form der Erkenntnis (Frage vs. Behauptung, Datum vs. Theorie etc.) ging, sondern um die Bestimmung der ontologischen Grundentscheidung [3]). Im Übrigen liegen 1. auch Poppers Problemen einander widersprechende Theorien bzw. Prinzipien zugrunde, die 2. in unterschiedlichen philosophischen Sphären (Lask 1911a) beheimatet sein können.
Marx ist aber insoweit Dialektiker, als er sieht, dass diese Menschen einer historisch-konkreten Totalität sozialer Natur angehören. Und mit dieser letzteren Einsicht geht Marx über den abstrakten Materialismus Feuerbachs hinaus. Marx ist hier anschlussfähig für eine Erkenntnistheorie, die Grundmann (1997a:646ff) als „empirischen Naturalismus" bezeichnet: Die Kriterien der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung werden aus einer (sozial-) psychologischen Theorie über Kognition und Prozesse der Informationsverarbeitung (Klix 1973a) wie Sprechen und Denken, insbesondere der Begriffsbildung gewonnen und müssen von daher kompatibel zu entsprechenden Ergebnissen sozialpsychologischer Forschung sein. Die Erkenntnistheorie verhält sich somit zur Theorie wissenschaftlichen Erkennens analog einer Messmethode sowie einer Theorie der Messung (inkl. Qualitätskriterien) zu einer bestimmten physikalischen Theorie.
Man kann hier allerdings auch das Problem der Begründung von Philosophie angesprochen sehen. Freilich ist hieraus schwer zu entscheiden, ob Marx und Engels dazu Stellung nehmen oder es einfach als „scholastisch" abschneiden wollten. Wie Stegmüller (1974a:XXI) schon betont, stellt das Wort „Erfahrung" keine Antwort dar, sondern bezeichnet insgesamt ein Problemfeld [4]). Was „Erfahrung" überhaupt ist, hängt von der jeweiligen Philosophie ab (Wendel 1998a:64); so hatten es schon Aristoteles und Platon mit einer unterschiedlichen Bestimmung dessen zu tun, was sie wie unter „Erfahrung" philosophisch begreifen (Feyerabend 1976a:206). Popper (1994b:356) substituiert dem Begriff "Erfahrung" einen methodologischen, nämlich den Begriff der empirisch-wissenschaftlichen Methode.
Der Empirismus fordert nun aber gerade, dass Theorien aus „empirischen Bedingungen" in irgendeinem beweiskräftigen Sinne „abgeleitet" werden. Dieses Programm hat eine Zeit lang die Philosophie der Wissenschaft dominiert, wurde dann aber unter starken Beschuss genommen (Feyerabend 1962a, 1963a, 1965a; Bohnen 1972a), so dass es heute meist nur noch in stark modifizierter Form vertreten wird (Feigl 1974a). Aber nicht nur dass der Empirismus als eine Variante des Rechtfertigungsprogramms abgelehnt werden darf. Auch den Begriff des „Beobachtbaren" darf man keineswegs absolut nehmen.
„Die Sphäre des Beobachtbaren kann sich verschieben und ihre Reichweite sich verändern.“ (Wendel 1998a:65)
Die Stellung von Engels [5]) zum Empirismus erscheint da vergleichsweise als eher widersprüchlich. Diese Feststellung verwirrt aber nur dann, wenn wir Engels oder Marx eine Theorie aus einem Guss unterstellen. Dem pünktlichen Leser stellt sich jedoch ganz klar dar, dass beide die verschiedensten Quellen verwerteten und kritisch überarbeiteten. Wenn sie keine deklarierten Pluralisten waren, so waren sie es zweifelsohne de facto in der Methode ihrer geistigen Arbeit. Denn es gibt offensichtlich kaum eine Arbeit von Marx oder Engels, die nicht in ihrem Kern Kritik einer bereits vorhandenen Theorie, d.h. also: eine Theorie-Kritik (an Hegel, Feuerbach, Proudhon, den englischen Nationalökonomen, den französischen Materialisten und Kommunisten etc.) darstellt. [6])
[1]) „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar. Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen." (Deutsche Ideologie, MEW 3:20)
[2]) „Der erste geschichtliche Akt dieser Individuen, wodurch sie sich von den Tieren unterscheiden, ist nicht, dass sie denken, sondern, dass sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren." Auf derlei Gedanken ist schließlich auch ein Buchanan (1987a:23) verfallen: „We were better off, methodologically speaking, in the less definite Marshallian world when economists did, in fact, study man in his ordinary business of making a living."
[3]) was Popper vermutlich "eine realistische Position beziehen" nennen würde: Unterstelle ich als „Wirklichkeit" oder „reales Sein" den platon-/hegelschen Ideenhimmel oder Feuerbachs Erdenleben?
[4]) "Men kann uitspraken alleen afleiden uit andere uitspraken, niet uit waarnemingen van gebeurtnissen." (Boon 1974a:352)
[5]) „Während er an den Stellen, wo er sich gegen HEGELS Idealismus abgrenzt, einen strikt empiristischen Standpunkt einnimmt, nachdem selbst die Gesetze der Logik und der Dialektik aus Erfahrung zu gewinnen oder durch Erfahrung zu widerlegen sein sollen, kritisiert er andernorts die Vulgärmaterialisten gerade wegen ihrer Beschränkung auf rein empirische, dem Induktionsprinzip folgende Forschung und fordert demgegenüber die Reflexion der erkenntnistheoretischen und methodischen Grundlagen der NaturWissenschaften, wobei er nun Erfahrung nur noch als ein - wenn auch sehr wesentliches - Moment des Erkenntnisprozesses gelten lässt." (Mehringer, Mergner 1973a:51)
[6]) „The need for tenacity was emphasized by those dialectical materialists who objected to extreme ‘idealistic’ flights of fancy. And the synthesis, finally, is the very essence of dialectical materialism in the form in which it appears in the writings of Engels, Lenin, and Trotsky." (Feyerabend 1970a:211)
1 Kommentar:
Dies schließt also auch nicht aus, die von Marx unterstellten „wirklichen Voraussetzungen" in Form einer expliziten Erkenntnistheorie auszuarbeiten, wie Hahn dies für notwendig hielt:
„Die eigentliche Umschreibung der Funktion der Voraussetzungen der Gesellschaft ist erst möglich in der Sprache der Theorie, unter Verwendung theoretischer Begriffe ... Die empirische Konstatierung der wirklichen Voraussetzungen der Geschichte als solche beinhaltet und setzt voraus das theoretische Bewusstsein der gesetzmäßigen Zusammenhänge des Werdens und Wirkens dieser Umstände." (Hahn 1968a:182f)
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