Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

f) self-fulfilling und self-destroying prophecy

f) self-fulfilling und self-destroying prophecy

„Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben." (Lenin 1962a:55)

„But even a necessary hope is not objective knowledge, though it may dispo­se us to belief." (Popper 1973a:98)

"Die Abhängigkeit der sozialen Abläufe von den Prognosen spielt eine gerin­ge­re Rolle für uns als die Abhängigkeit der Prognosen von den sozialen Abläu­fen." (Neurath 1931a:131)

Popper suchte den Charakter von self-fulfilling prophecy, den moderne Sozialwis­sen­schaft heute im All­ge­meinen aufweist, als Tadel am Marxismus anzubringen. Im hi­storischen Falle des Mar­xis­mus kann füg­lich darüber gestritten werden, ob ihm self-fulfilling-Effekte mehr genützt oder self-destro­ying-Effekte mehr ge­schadet haben. Das Versagen sowohl des deutschen Bür­ger­tums wie auch der organisatorisch er­stark­ten Sozialdemokratie angesichts der reaktionären und imperialisti­schen „Real­poli­tik" Preußendeutschlands in der Epoche vor dem 1. Weltkrieg deu­tet eher auf eine self-destro­ying prophecy. Schon Junker Bismarck [1]) wusste pfiffig das deutsche Bürgertum mit der Furcht vor dem Proletariat von der politischen Macht fernzu­hal­ten sowie die Arbeiterschaft mit sozi­al­politischen Geschenken sowie Zugeständ­nis­sen im Wahl­recht zu do­me­sti­zieren. Die politi­sche Schwäche des deutschen Bür­gertums [2]) hat jedoch mitnich­ten He­gel zu verantworten, sondern die po­li­ti­schen Vertreter dieser Klasse. Darin bestand ja Max We­bers politisches Projekt [3]), das deutsche Bürgertum zu einer politisch herrschenden Klasse zu er­ziehen.

Während die Arbeiterbewegung trotz ihres Erstarkens gegenüber der imperiali­sti­schen Politik der Großmächte politisch unterlag, kam es zum 1. Weltkrieg ohne große Gegenwehr der Arbei­ter­bewe­gung.[4]) Die darauffolgende Zeit wurde für die Arbeiterbewegung und ihre politischen Wortführer ge­prägt durch Lenin (1962a) und seine theoretischen Antworten auf die Fragen der in­ternationalen Arbei­ter­be­wegung, seine Thesen zum Organisationsproblem (die Partei als „Kampf­organi­sa­tion" (Michels 1970a:38); „one of the great political inventions of our century", Bell 1965a:31 [5]) und schließlich zur sozialistischen "Re­vo­lution in einem Land". Eine man­gel­hafte Tren­nung zwischen Subjekt und Objekt zeichnet indessen die gesamte Sozialwis­senschaft aus und vermag nur Erkenntnistheoretiker in Erstaunen setzen, die ihre Be­griffe aus der Welt der Makro­physik gewonnen haben.



[1]) "Die furchtbare Vernichtung selbständiger Überzeugung, welche Bismarck bei uns ange­rich­tet hat, ist natürlich der oder einer der Hauptgründe aller Schäden unserer jetzigen Zustände. (...) geholfen werden könnte nur durch große Umgestaltung in unserem Parteiwesen und durch Um­bildungen auf diesem Gebiet, und dazu fehlt für jetzt die politische Energie ..." Max Weber an Hermann Baumgarten, 18.04.1892, in: Baum­garten (1964a:80f)

[2]) "Nachdem die deutsche Einigung nicht durch das Bürgertum oder durch gemeinsame Ak­ti­on von Bür­ger­tum und Monarchen, sondern allein durch die Macht einer militärisch starken und au­ßenpolitisch ge­schick­ten Monarchie erreicht wurde, bekannte sich das Bürgertum mehr und mehr zum machtstaatlichen Realismus, zur 'Realpolitik'. Die liberale idealistische Staats- und Volks­theorie hatte keinen Weg zur deut­schen Einheit gewiesen, sondern war 1848 gescheitert, wäh­rend die Bismarck'sche 'Realpolitik' dieses Ziel erreicht hatte. Das Bürgertum fand sich mit den neuen Realitäten ab, in dem es sich von seinen nicht ver­wirk­lichten Ansprüchen lossagte, sie als fruchtlose 'Ideologie' abqualifizierte und die staatliche Machtpolitik als ein­zig realistische politische Ma­xime vertrat. Eine theoretische Fundierung und Legitimierung der staatlichen und politischen Macht wurde als überflüssig oder gar hemmend angesehen. In der Staats- und Rechtstheorie voll­zog sich damit der Übergang zum Positivismus, genauer: die Staatstheorie löst sich auf in die The­o­rie vom positiven Staatsrecht. Das Versiegen der Staatstheorie und der Übergang zum Positivismus sind ih­rer­seits nur Folgen davon, dass das Bürgertum politisch geschlagen wurde. Der staats­recht­li­che Positivismus ist ein Zerfallsprodukt des staatstheoretischen Idealismus der konstitutionellen Theorie." (Rosenbaum 1972a:41)

[3]) "Betrachtet man Webers Modernisierungsprojekt für Deutschland im Hinblick auf die zu­grundeliegende Klassenkonstellation, stößt man immer wieder auf zwei Komponenten, die eng zu­sammenhängen: Zum einen geht es darum, das Bürgertum aus dem 'cäsaristisch' vermittelten Bünd­nis mit der Agrarklasse herauszulösen und ihm ein eigenes Klassenselbstbewusstsein mit ent­spre­chendem Ehrgefühl zu vermitteln; zum anderen soll versucht werden, dieses Bürgertum auf ein Bünd­nis mit den 'höchsten Schichten' der Arbeiterschaft vor­zu­bereiten; bzw. umgekehrt diesen Ti­tel der Arbeiterklasse für ein Bündnis mit dem Bürgertum zu ge­win­nen." (Rehmann 1999a:222)

[4]) „Dass aber die Sozialdemokratische Partei und ihre Führung, dass die Reichstagsfraktion in der Abstim­mung in der Reichstagssitzung, trotz der Auseinandersetzung in der Reichstagsfraktion vorher, einstimmig vor Wilhelm II. strammstand und salutierte - das war für Lenin ein Schock oh­ne­gleichen, denn er hatte bis da­hin die sozialdemokratischen Wahlvereine der legalen Parteien der Zweiten Internationale im Grunde für wirk­li­che Sozialdemokratische Parteien, für revolu­tio­nä­re Ar­beiterparteien gehalten." (Abendroth 1970a:2) Da war allerdings Max Weber der bessere So­zi­o­lo­ge gewesen. Denn nach Besuch des Mannheimer SPD-Partei­tags 1906 sagt dieser schon: "Ich hat­te den Eindruck, dass die russischen Sozialisten, die dort als Zu­schau­er saßen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen beim Anblick dieser Partei, die sich für revo­luti­onär in ihrem ernst­haft gemeinten Sinne hielten (...) und in welcher nun das behäbige Gastwirtsgesicht, die klein­bür­gerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend hervortrat ..." (Baumgarten 1964a:608)

[5]) Die Entstehung der KPD als besondere politische Partei und ihr etwaiger „Beitrag" zur Macht­ergrei­fung des Nationalsozialismus werden von Flechtheim (1986a) und Weber (1969a) hi­sto­risch untersucht.

1 Kommentar:

meffo hat gesagt…

Auch eine positivistische Sozialempirie, die das An-sich des Sozialen angesichts der sozialen Realität verdinglicht, kann ungewollt den Effekt der self-fulfilling-prophecy auslösen; z.B. eine Wahlprognose, die das Mehrheitsvotum verstärkt. Die self-fulfilling-Wirkung geht also nicht allein von systemverändernden Theorien aus. Was daraus geschlussfolgert werden muss, ist eine erkenntnistheoretische Problematisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses und verweist damit eher auf ein Defizit positivistischer Methodologie. Hier kommt insbesondere eine Verbesserung der diesbezüglichen Messtheorien in Frage, so wie etwa Esser (1975a) für das Befragtenverhalten gefordert hat.
Außerdem: Wenn sog. „Ödipus-Effekte" auftreten, ist dies nichts anderes als ein Beweis, dass die betreffende Theorie bzw. das theoretische Modell unvollständig ist. Denn derartige Effekte sind ganz klar Störeffekte, die gegebenenfalls im Modell mitberücksichtigt werden müssen.

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