f) self-fulfilling und self-destroying prophecy
„Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben." (Lenin 1962a:55)
„But even a necessary hope is not objective knowledge, though it may dispose us to belief." (Popper 1973a:98)
"Die Abhängigkeit der sozialen Abläufe von den Prognosen spielt eine geringere Rolle für uns als die Abhängigkeit der Prognosen von den sozialen Abläufen." (Neurath 1931a:131)
Popper suchte den Charakter von self-fulfilling prophecy, den moderne Sozialwissenschaft heute im Allgemeinen aufweist, als Tadel am Marxismus anzubringen. Im historischen Falle des Marxismus kann füglich darüber gestritten werden, ob ihm self-fulfilling-Effekte mehr genützt oder self-destroying-Effekte mehr geschadet haben. Das Versagen sowohl des deutschen Bürgertums wie auch der organisatorisch erstarkten Sozialdemokratie angesichts der reaktionären und imperialistischen „Realpolitik" Preußendeutschlands in der Epoche vor dem 1. Weltkrieg deutet eher auf eine self-destroying prophecy. Schon Junker Bismarck [1]) wusste pfiffig das deutsche Bürgertum mit der Furcht vor dem Proletariat von der politischen Macht fernzuhalten sowie die Arbeiterschaft mit sozialpolitischen Geschenken sowie Zugeständnissen im Wahlrecht zu domestizieren. Die politische Schwäche des deutschen Bürgertums [2]) hat jedoch mitnichten Hegel zu verantworten, sondern die politischen Vertreter dieser Klasse. Darin bestand ja Max Webers politisches Projekt [3]), das deutsche Bürgertum zu einer politisch herrschenden Klasse zu erziehen.
Während die Arbeiterbewegung trotz ihres Erstarkens gegenüber der imperialistischen Politik der Großmächte politisch unterlag, kam es zum 1. Weltkrieg ohne große Gegenwehr der Arbeiterbewegung.[4]) Die darauffolgende Zeit wurde für die Arbeiterbewegung und ihre politischen Wortführer geprägt durch Lenin (1962a) und seine theoretischen Antworten auf die Fragen der internationalen Arbeiterbewegung, seine Thesen zum Organisationsproblem (die Partei als „Kampforganisation" (Michels 1970a:38); „one of the great political inventions of our century", Bell 1965a:31 [5]) und schließlich zur sozialistischen "Revolution in einem Land". Eine mangelhafte Trennung zwischen Subjekt und Objekt zeichnet indessen die gesamte Sozialwissenschaft aus und vermag nur Erkenntnistheoretiker in Erstaunen setzen, die ihre Begriffe aus der Welt der Makrophysik gewonnen haben.
[1]) "Die furchtbare Vernichtung selbständiger Überzeugung, welche Bismarck bei uns angerichtet hat, ist natürlich der oder einer der Hauptgründe aller Schäden unserer jetzigen Zustände. (...) geholfen werden könnte nur durch große Umgestaltung in unserem Parteiwesen und durch Umbildungen auf diesem Gebiet, und dazu fehlt für jetzt die politische Energie ..." Max Weber an Hermann Baumgarten, 18.04.1892, in: Baumgarten (1964a:80f)
[2]) "Nachdem die deutsche Einigung nicht durch das Bürgertum oder durch gemeinsame Aktion von Bürgertum und Monarchen, sondern allein durch die Macht einer militärisch starken und außenpolitisch geschickten Monarchie erreicht wurde, bekannte sich das Bürgertum mehr und mehr zum machtstaatlichen Realismus, zur 'Realpolitik'. Die liberale idealistische Staats- und Volkstheorie hatte keinen Weg zur deutschen Einheit gewiesen, sondern war 1848 gescheitert, während die Bismarck'sche 'Realpolitik' dieses Ziel erreicht hatte. Das Bürgertum fand sich mit den neuen Realitäten ab, in dem es sich von seinen nicht verwirklichten Ansprüchen lossagte, sie als fruchtlose 'Ideologie' abqualifizierte und die staatliche Machtpolitik als einzig realistische politische Maxime vertrat. Eine theoretische Fundierung und Legitimierung der staatlichen und politischen Macht wurde als überflüssig oder gar hemmend angesehen. In der Staats- und Rechtstheorie vollzog sich damit der Übergang zum Positivismus, genauer: die Staatstheorie löst sich auf in die Theorie vom positiven Staatsrecht. Das Versiegen der Staatstheorie und der Übergang zum Positivismus sind ihrerseits nur Folgen davon, dass das Bürgertum politisch geschlagen wurde. Der staatsrechtliche Positivismus ist ein Zerfallsprodukt des staatstheoretischen Idealismus der konstitutionellen Theorie." (Rosenbaum 1972a:41)
[3]) "Betrachtet man Webers Modernisierungsprojekt für Deutschland im Hinblick auf die zugrundeliegende Klassenkonstellation, stößt man immer wieder auf zwei Komponenten, die eng zusammenhängen: Zum einen geht es darum, das Bürgertum aus dem 'cäsaristisch' vermittelten Bündnis mit der Agrarklasse herauszulösen und ihm ein eigenes Klassenselbstbewusstsein mit entsprechendem Ehrgefühl zu vermitteln; zum anderen soll versucht werden, dieses Bürgertum auf ein Bündnis mit den 'höchsten Schichten' der Arbeiterschaft vorzubereiten; bzw. umgekehrt diesen Titel der Arbeiterklasse für ein Bündnis mit dem Bürgertum zu gewinnen." (Rehmann 1999a:222)
[4]) „Dass aber die Sozialdemokratische Partei und ihre Führung, dass die Reichstagsfraktion in der Abstimmung in der Reichstagssitzung, trotz der Auseinandersetzung in der Reichstagsfraktion vorher, einstimmig vor Wilhelm II. strammstand und salutierte - das war für Lenin ein Schock ohnegleichen, denn er hatte bis dahin die sozialdemokratischen Wahlvereine der legalen Parteien der Zweiten Internationale im Grunde für wirkliche Sozialdemokratische Parteien, für revolutionäre Arbeiterparteien gehalten." (Abendroth 1970a:2) Da war allerdings Max Weber der bessere Soziologe gewesen. Denn nach Besuch des Mannheimer SPD-Parteitags 1906 sagt dieser schon: "Ich hatte den Eindruck, dass die russischen Sozialisten, die dort als Zuschauer saßen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen beim Anblick dieser Partei, die sich für revolutionär in ihrem ernsthaft gemeinten Sinne hielten (...) und in welcher nun das behäbige Gastwirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend hervortrat ..." (Baumgarten 1964a:608)
[5]) Die Entstehung der KPD als besondere politische Partei und ihr etwaiger „Beitrag" zur Machtergreifung des Nationalsozialismus werden von Flechtheim (1986a) und Weber (1969a) historisch untersucht.
1 Kommentar:
Auch eine positivistische Sozialempirie, die das An-sich des Sozialen angesichts der sozialen Realität verdinglicht, kann ungewollt den Effekt der self-fulfilling-prophecy auslösen; z.B. eine Wahlprognose, die das Mehrheitsvotum verstärkt. Die self-fulfilling-Wirkung geht also nicht allein von systemverändernden Theorien aus. Was daraus geschlussfolgert werden muss, ist eine erkenntnistheoretische Problematisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses und verweist damit eher auf ein Defizit positivistischer Methodologie. Hier kommt insbesondere eine Verbesserung der diesbezüglichen Messtheorien in Frage, so wie etwa Esser (1975a) für das Befragtenverhalten gefordert hat.
Außerdem: Wenn sog. „Ödipus-Effekte" auftreten, ist dies nichts anderes als ein Beweis, dass die betreffende Theorie bzw. das theoretische Modell unvollständig ist. Denn derartige Effekte sind ganz klar Störeffekte, die gegebenenfalls im Modell mitberücksichtigt werden müssen.
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