Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

e) Wir wissen nicht, was wir wissen werden.

e) Wir wissen nicht, was wir wissen werden.

"Nathanael, ich lehre Dich: in der Dichtung sind die Stellen am schönsten, die von den tausend-und-ein-Beweisen für das Dasein Gottes handeln." (Gide 1974a:31)

Neurath sah folgende grundlegende Grenze für Prognose:

"Prognostizieren, was Einstein für Berechnungen machen werde, hieße selbst Ein­stein sein.(...) Hier ist eine wesentliche Grenze aller soziologischen Progno­sen gegeben. Es ist die Grenze der per­sönlichen Erfindungskraft gegenüber der Erfin­dungschance der jeweils beschriebenen Gruppe." (Neurath1931a:129f)

Unter anderem dienten Horkheimer diese Ausführungen Neuraths als Angriffsflä­che für seine Positi­vismus­kritik (Dahms 1994a:101). Dasselbe Argument suchte spä­ter aber Popper neu zu sy­ste­ma­tisieren und auszubauen:

„Mittlerweile ist es mir gelungen, eine strenge Widerlegung des Popperizis­mus anzugeben: Ich ha­be gezeigt, dass es uns aus streng logischen Gründen un­mög­lich ist, den zukünftigen Verlauf der Ge­schichte mit rationalen Methoden vor­her­zusa­gen. (...) Mein Gedankengang lässt sich in den folgenden fünf Sät­zen zu­sammenfassen: (1) Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflusst. (...) (2) Wir kön­nen mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unse­rer wis­sen­schaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen. (...) (3) Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen. (4) Das heißt, dass wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichts­wis­sen­schaft ver­nei­nen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissen­schaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entspre­chen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Ent­wick­lung als Grund­lage historischer Prognosen ist unmöglich. (5) Das Hauptziel der pop­per­i­zistischen Methoden (...) ist daher falsch gewählt und damit ist der Pop­per­i­zis­mus widerlegt." (Popper 1987a:XIf)

Hiermit vertritt Popper die These, dass die Zukunft neues menschliches Wissen bringen wird, das die bisher bekannten Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung hin­fällig machen wird. Un­se­ren zukünftigen Wissensstand können aber heute nicht voraussagen, weil er dann schon heute zu unse­rem Wissensbestand rechnen wür­de. Dabei überschreitet Popper jedoch das Gebiet lo­gi­schen Analysierens und Be­weisens und sucht, eine empirische Frage durch den ausschließ­li­chen Einsatz lo­gi­scher Mittel zu lösen bzw. als empirisch beantwortbare zu beseitigen.

Dieses Argument setzt nämlich voraus, dass Wissen von Wissen immer total, 100%-ig iden­tisch sein muss. Nur in dieser trivialisierenden Interpretation (Haber­mehl 1980a:56ff) ist Prämisse (2) logischerweise wahr. Doch kein Popperizist hat je behauptet, dass wir heute schon wissen, was wir erst morgen wissen werden, noch ist es denknotwendig, über dieses Wissen insgesamt zu verfügen, um brauch­bare Prognosen über wissensmäßig beeinflusste zukünftige Entwick­lun­gen abgeben zu können. Unser Wissen über das zukünftige Wissen der Menschheit muss kei­nesfalls total sein, um Prognosen zu ermöglichen. Eine Prognose muss nicht die logische Iden­tität oder Informations­gleichheit von Aussagenmengen vor­aussetzen, um partielle Beschrei­bungen zukünftig möglicher Erkenntnisleistungen zu erlauben. Auch hier gilt, dass nicht die konkret-reale Totalität der Weltge­schich­te prognostiziert, sondern nur theoretisch selektierte Trends wissenschaftlicher Ana­lyse zugänglich gemacht werden sollen.

Wie bei Problem­stel­lung (c) liegt hier ebenfalls ein Fehlschluss der misplaced con­creteness [1]) vor; denn Wissens­be­stände wer­den behandelt, als ob sie durch eine einzige abstrakte Beschreibung hinrei­chend ge­kennzeichnet seien und kei­ne andere Aussagen dar­über hinaus mehr mög­lich seien. Dies ist jedoch mit Sicherheit ab­wegig. Wenn sich über zukünftige Leistungen der Wissenschaft keine praktisch brauchbaren Voraussagen treffen lie­ßen, so wäre bereits ein jeder Forschungs­an­trag nur vertane Liebesmüh. Es ist hier grundsätzlich zwischen "Wissen" als einem kognitiv-psychischen Tatbestand einerseits und andererseits den verschiedenen Mög­lichkeiten zu unterscheiden, derlei Wissens-Tatbestände zu beschreiben. Was im Hinblick auf eine bestimmte Art, Wissen zu beschreiben, bewiesen werden kann, gilt nicht für alle Wissens-Tatbestände schlechthin. Popper ist bei seinem "Be­weis" unmerklich von Logik zu Psychologie hinüber- und herübergewechselt, was die Schlüssigkeit seiner Argumentation zerstört.

Über die Frage der mehr oder weniger vollständigen oder konkreten Beschrei­bung eines Wis­sensbe­stan­des hinaus stellt sich insbesondere für den Fallibilisten Popper die Frage, inwieweit ein derart substanzi­el­ler Wissensbegriff [2]) in Über­ein­stimmung gebracht werden könne mit dem­jeni­gen seiner Wissenschafts­lo­gik, han­dele es sich nun um Wissen" als ein System falsifi­zier­barer oder empirisch be­währter Aussagen. Es ist noch nicht einmal völlig ausgeschlossen, dass es sich hier­bei auch um kontradiktorische Aus­sa­gen­sy­steme handelt. Wie dem auch sei, Pop­per vermochte kein praktikables Verfahren an­ge­ben, wie ein so verstan­de­nes Wissen in sei­nem Informationsgehalt exakt zu messen, kaum wie es zu ver­glei­chen sei:

„... although the measure functions of content, truth content and falsity content are in principle comparable (because probabilities are in principle comparable) we have in general no means to com­pare them other than by way of comparing the unmeasured contents of competing theories, possibly just intuitively." (Popper 1973a:52, Anm.29)

Hinzu kommt, dass Popper im Lichte seiner 3-Welten-Theorie auch noch zwi­schen subjekti­vem und ob­jektivem Wissen unterscheidet. So ergibt sich, dass die ge­radezu triviale Überzeu­gungskraft seiner Argu­men­tation nur oberflächlich beste­chen kann, da sie letztlich auf einer Kon­fusion zwi­schen logischer und empi­ri­scher Analyse sowie zwischen subjektivem und ob­jek­ti­vem Wissen beruht:

„If there is growth of knowledge in this sense, then it cannot be predictable by scientific means. For he who could so predict today by scientific means our dis­co­veries of tomorrow could make them today; which would mean that there would be an end to the growth of knowledge." (Popper 1973a:298)

Es ist frappierend, wie Popper alle die wichtigen Begriffsunterscheidungen im Hin­blick auf „Wis­sen", die er selbst so gewinnbringend geltend gemacht hat, bei seinem „Beweis" einfach über Bord wirft oder zumin­dest ignoriert.[3]) Die Frage, inwieweit Popper in seinen persönli­chen Ansichten über Wissen konsistent ist, ist hier allerdings uninteressant. Wichtiger ist, dass dieses ein funda­mentaleres Pro­blem zu signalisieren scheint: Es ist eines, Wissen" so zu fas­sen, dass es für ei­nen logischen Beweis adäquat ist; etwas anderes, mit demselben Begriff voll­stän­dig alle möglichen Beg­riffsvarianten von „Wissen" abzudecken, die in relevanten empiri­schen Prognosen vorkommen mögen. Wie soll der Beweislogiker im Voraus wissen, welche empirisch relevanten Wissen"-Beg­riffe noch alle erfunden werden mögen? M. a. W.: Der Ver­such, eine empirische Fragestellung durch einen logi­schen Beweis abzuschneiden, scheitert schon daran, dass dem Logiker nicht a pri­ori alle denkbaren Bedeutungen empirischer Begriffe zur Verfügung stehen.

Vielleicht sind über bestimmte Aspekte der zukünftigen Entwicklung eines so ver­standenen Wis­sens falsifizierbare Prognosen möglich, die sich evtl. sogar be­wäh­ren. Logisch unmöglich erscheint vielmehr der Beweis seiner Nichtprog­ni­sti­zierbarkeit, weil es sich hier grundsätzlich um empirisch kontingente Zusammen­hänge handelt. Vielmehr ist Poppers (1973a:298) These der „unpredictability in principle" sogar selbstwidersprüchlich, weil diese eine Prognose darstellt, die ihre eigene Nicht­prognostizierbarkeit be­haup­tet. Im Grunde hat sich Popper mit diesem Be­weis in dieselbe Grube manövriert, in die Bacon saß (Agassi 1975a:76): Eine Ent­de­ckung muss zu­fäl­lig sein, sonst kann sie keine Entdeckung sein, ging des letz­teren Argument. Und so nun Pop­per: Neues Wissen kann nicht vorausgesagt werden, sonst ist es nicht neu. Man kann aber nur et­was finden, was man (zu­mindest so ungefähr) gesucht hat. Einem völlig unvor­be­reiteten Gei­ste wird überhaupt niemals was Neues zustoßen, schon weil dieser den Unterschied zwi­schen Alt und Neu nicht kennt.

Wie es sich für einen Fallibilisten geziemt, liefert Popper gleich selbst noch ein ei­ge­nes Ge­gen­argument:

„Widerlegt ist nur die Möglichkeit der Vorhersage geschichtlicher Entwicklun­gen, insofern diese durch das Anwachsen unseres Wissens beeinflusst werden können." (Popper 1987a:XII)

Wie Habermehl festgestellt hat, ist schon damit die Beweiskette von der Pro­gnose des Wis­sens­fortschritts hin zum gesamten Geschichtsablauf abgerissen:

„... um die Unmöglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft be­wei­sen zu können, ge­nügt es nicht, wenn wir zu zeigen vermögen, dass wir den zu­künf­ti­gen Verlauf der Geschichte, so­weit er durch das Wachstum unseres Wis­sens beeinflusst wird, nicht vorhersagen können. Wir müss­ten vielmehr ent­we­der dar­tun können, dass es unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Ge­schich­te vorherzusagen, unabhängig davon, ob er vom Wachstum unseres Wis­sens beein­flusst wird oder nicht, oder, dass alle geschichtlichen Abläufe dem Ein­fluss unseres Wissens unterliegen." (Habermehl 1980a:25)



[1]) The Whiteheadian fallacy of misplaced concreteness: „the fallacy of assuming that the par­ti­cular concepts we employ to examine the flow of events capture their entire content." (Merton 1973a:131)

[2]) Popper (1973a:62) kennzeichnet damit gerade eine der Grundthesen der irreführenden com­mon sense theory of know­led­ge (Locke, Berkeley, Hume): „Knowledge is conceived of as consisting of things, or thing-like entities in our bucket ..." Die­ser empiristische Wissensbegriff spielt auch im Zusammenhang von Hume Induktivismuskritik eine maßgebliche Rolle: "Der un­endliche Regress ('Induktionsregress') präzisiert Humes Argument gegen die Zulässigkeit der Induk­ti­on. Er besagt, dass der reine Induktionsschluss sich logisch nicht rechtfertigen lässt, dass aus be­son­deren Beobach­tun­gen niemals allgemeine Sätze ab­ge­leitet werden können, kurz, er besagt etwas (mindestens für je­den Empiristen) ganz Selbstverständliches: dass man nicht mehr wissen kann, als man weiß." (Pop­per 1994b:39) Anm.*11: "Klarer formuliert: dass man nicht mehr weiß, als man weiß." Aber wir wis­sen ständig mehr, als wir wissen, d.h. als uns bewusst ist. Schon dadurch, dass un­sere Wis­sens­ele­mente untereinander verknüpft sind und immer schon auf andere ver­wei­sen, die nicht aktu­ell in unserem Kurzzeitgedächtnis verfügbar sind, ist unser Wissen potentiell unendlich (was von All­wis­senheit zu unterscheiden ist).

[3]) Was gewissermaßen auch verständlich ist: einmal diese Begriffskomplikationen zugegeben, sinkt die Plausibilität des Beweises bzw. schon eines Beweisversuchs rasch gegen Null.

1 Kommentar:

theo hat gesagt…

Endlich mal jemand, der sich mit so etwas ausführlich beschäftigt. Aber ich glaube, um dem folgen zu können, müsste ich mein Popper-Buch noch einmal lesen...

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