Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Die Macht der Märkte

Popper (1973a:347-354) identifiziert die öffentliche Meinung [1]) als eine anonyme Macht als Ge­fahr für die Freiheit. Zwei Drittel der Weltbevölkerung müssen ohne das Grundrecht auf Pres­sefreiheit leben, berichtet das Internationale Presse Institut in seinem Jahresbericht (TV 11.02.99). Das schwer­wie­gende Problem ist jedoch nicht so sehr die Anonymität der Medien­macht.[2]) Dass dem so wäre, kann dem Professor scheinen, der sich ein opinion leader wähnt und da­bei auf dem Medienmarkt in der ohn­mächtigen Rolle des kleinen Warenproduzenten wieder­findet. Schwer wiegt die Verquickung von po­liti­scher, ökonomischer und Meinungsmacht, die je­der Vorstellung von Demokratie Hohn spricht.

"... corporations, which were created originally to promote economic deve­lop­ment, have been allowed to claim the privileges of 'citizenship' in the past cen­tu­ry or so. This fiction has enabled them to outmaneuver the efforts of real ci­ti­zens to control them. It is an odd feature of contemporary corporate law that per­mits commercial organizations to gain access to civic rights such as free speech and the unrestrained freedom to acquire property; in that respect they ha­ve far outpaced private individuals for which these rights were conceived. The pro­blems these fictions create may not be life-threatening, but they can as­phyxiate life as they pro­liferate and as their role expands beyond the states' re­gu­latory jurisdiction. For the mo­dern corporations, power is an end as legiti­ma­te as economic production. In escaping the in­con­venience of regulation and com­petition, they have taken on unrestrained supranational forms that chal­len­ge the state, and they are learning to control the competitive market that might other­wi­se restrain them. They transcend geography and political sovereignty because they can shift the locus of decisions and production from place to place to suit their conveni­ence. They enjoy power with few counter-balancing con­trols." (Montgomery 1999a)

Wie sieht es aber mit der anonymen Macht der Märkte selber aus?

Kaum zu bestreiten dürfte sein, dass ein Marktmechanismus gerade nicht im Selbstlauf dafür sorgt, dass das Leid in der Gesellschaft minimiert wird, und zu einem gefährlichen Machtfaktor in der Welt­ge­sellschaft geworden ist. Nur einem Professor in seinem verbeamteten Elfen­bein­turm kann die Be­dro­hung durch die Anonymität der öffentlichen Meinung größer erscheinen als durch die des Ar­beits­mark­tes. Flexibilisierung ist nicht Emanzipation der Arbeit, sondern Emanzipation der Aus­beu­tung.[3]) Der Pfiff neoliberaler Weltzivilisierung [4]) liegt aber eben darin, dass jeder schon froh sein muss, dass er ausgebeutet wird. Früher sprach man vom „Se­gen der Arbeit“.[5]) Nur ein Leistungsträger ist zur sozialen Machtausübung geboren. Hinter der allerorten vertreten Forderung der "Flexibilisierung der Arbeit" verbirgt sich jedoch mehr oder minder geschickt verhüllt eine unternehmerische Strategie der Problemabwälzung auf die Lohnabhängigen.

"As regards the adult wage-earner also, it was realized that, so long as trade uni­ons were illegal, his liberty consisted only in being free to choose between the employer's terms and starvation. This form of liberty, oddly enough, was not greatly valued by those who enjoyed it." (Russell 1962a:59)

Ein Unternehmer, der sich "marktgerecht" verhält und Leistung bringt, leidet auch keine Schwie­rigkeiten bei der Beschaffung von Arbeitskräften. Die meisten Unternehmen gehen je­doch den Weg des geringsten Widerstandes und versuchen, Risiken auf andere abzuwälzen, an­statt, wie es die Unternehmerideologie besingt, "Verantwortung zu übernehmen". Und wer soll­te ihnen das auch noch verargen, wenn diese Art von Risikoscheu aktueller wissen­schaft­lich und politisch gefor­derter Stil und als ein Insignium von Modernität gilt? Die Politik sorgt als er­ste da­für, dass die "Risikoprämie", die Unternehmer für ihr riskantes Geschäft beziehen, von diesen nicht erst noch verdient werden muss. Dem Staat und der Allgemeinheit die Gemein­ko­sten, dem Unternehmer den risikolosen und steuerfreien Gewinn! Das ist in einem Kernsatz An­ge­bots­politik - die Politik, von der Unternehmer träumen.

Multinationale Konzerne ziehen ihre Gewinne in zunehmendem Maße nicht aus Produktion, sondern aus monopolistischen Praktiken (Gordon 1998:323). Wir träumten von der weltweiten In­formati­ons­ge­sellschaft - bekommen haben wir Microsoft [6]). Zunehmend gerät dieses gern zi­tier­te Musterbeispiel schum­peterischen Innovationsgeistes[7] ) in das wettbewerbspolitische Vi­sier und wird wissenschaft­lich wie politisch unter die Lupe genommen. Schließlich wurde Bill Gates gerichtlich anerkannter Mo­nopo­list (Schmale 1999a):

"Durch sein Verhalten gegenüber Netscape, IBM, Compaq, Intel und anderen hat Microsoft demonstriert, dass es seine überwältigende Marktmacht und sei­ne immensen Profite dazu ein­setzt, jeder Firma zu schaden, die Produkte entwi­ckelt, die den Wettbewerb gegen eines der Microsoft-Kernprodukte verschärfen könnten. Auf diese Weise sind Innovationen, die Ver­brauchern wirklich ge­nutzt hätten, aus dem einzigen Grund nie verwirklicht worden, da sie den In­teressen von Microsoft im Weg standen." (Richter T. P. Jackson)

de facto bestimmt nicht die Produktqualität den Marktanteil, sondern der Marktanteil des Un­ter­neh­mens bestimmt, welche Produktqualität am Markt besteht. Vielleicht hat Hayek gar nicht einmal so unrecht mit seinem Appell, die Grenzen der Vernunft zu berücksichti­gen:

„Es ist ein Appell an die Menschen zu erkennen, dass wir unsere Vernunft sinn­voll gebrau­chen müssen; und dass wir dazu jenen unentbehrlichen Rahmen des Nicht-willkürlichen und Nicht-rationalen erhalten müssen, das die einzige Um­gebung ist, in der die Vernunft sich ent­wickeln und erfolgreich wirken kann." (Hayek 1971a: 86f)



[1]) "What should we - journalists, intellectuals - do in a world where 358 billionaires have more assets than the combined incomes of nearly half of the planet's population ? What should we do when Mozambique, where 25 % of children die before the age of five from infectious diseases, spends twice as much paying off its debt as it does on health and education ? What should we do in a world where, according to the UNDP administrator, 'if present trends continue, economic dis­pa­rities between indu­strial and developing nations will move from inequitable to inhuman'? What should we do when, within democratic countries themselves, money dominates the political system until it becomes the system,those who write the checks write the laws and ask the questions, and in­creasingly citizens seem to be replaced with investors ? But can we still, as journalists and intel­lec­tuals, denounce this situation and suggest remedies when so many of these billionaires - the Bill Gates, Rupert Mur­dochs, Jean-Luc Lagardères, Ted Turners, Conrad Blacks of the world - own the papers in which we write, the radios on which we speak, the television networks in which we ap­pear? When so much of the news and culture that is fed into developing nations comes from indu­strial countries and so little of the news the industrial countries ever hear about seeps in from deve­lo­ping nations? When those who write the checks and write the laws and ask the questions and in­vest and divest and downsize, are also our employers, our providers of advertising revenue, our trend-setters, our decision-makers our news-makers?" (Halimi 1999a)

[2]) Marx (2000a) lenkt hier das Augenmerk auf die Arbeiten von Ferdinand Toennis zum Pro­blem der öffentlichen Meinung.

[3]) "So ist das Leben, so hart, aber darum auch so wundervoll, so gesund." (Horkheimer, Ador­no 1998a:160)

[4]) "To be opposed to the kind of aggressive globalisation typical of a market economy that is capitalist, liberalised, deregulated, privatised, highly technocratic and competitive does not imply op­position to other forms of government and globalisation that rely on cooperation - quite the re­verse. This, after all, is a need perceived by hundreds of thousands of organisations that are trying to set in place, in every corner of the globe, new principles and new, cooperative forms of world government. These are organisations active in all areas with an impact on the security of mankind. In the military field they oppose the proliferation of nuclear weapons and promote general disar­ma­ment; in the environmental field they encourage sustainable development in line with the re­com­mendations of the 1992 Rio Conference; and, in relation to security of food supply, they are seeking to bring to an end the scandal of the 800 million people suffering from malnutrition. Tho­se organisations are also strongly represented in the dialogue between different cultures and civili­sa­tions and in the development of scientific and technological research geared towards human and social needs etc. The most serious obstacle in their path is globalisation in its current form, based on the primacy of the interests of private enterprise and its freedom of action that is subject to no boundaries, and the sovereignty of an - allegedly - self-regulating market. Instead of distributing the planet's material and non-material resources - never mind its human resources - in the best possible way, globalisation is a source of wide-spread dysfunctionalism and brazen waste. Catering for the needs of society is not, admittedly, one of its objectives. And that is why claims as to the effec­ti­ve­ness of globalisation made in some quarters are quite simply absurd." (Petrella 1999a)

[5]) Jeder Freizeitsport ist ein Beweis dafür, dass der Mensch sich abschindet, auch ohne Geld dafür zu erhalten, ja dass er sogar bereit ist, dafür welches zu zahlen. Manche moderne Unter­neh­men, insbesondere im Dienst­lei­stungssektor beheimatet, scheine sich diesem Ideal wieder anzu­nä­hern – fast so weit, dass die Beschäftigten ihr eigenes Unternehmen finanzieren helfen sollen. Zu­dem wird wieder die sog. „ehrenamtliche Tätigkeit“ pro­pa­giert, am wenigstens jedoch von den Eh­ren­amt­lichen selbst. Hier wird als modern eine Idee gefeiert, welche die Kirche schon vor 2000 Jah­ren hatte.

[6]) „In the never-ending antitrust saga, it was disclosed last week that Microsoft spent $500 mil­lion in developing its browser, Explorer (this does not include marketing costs). What is even more amazing: As of last May, the company wasn't sure that the new browser was better than Net­scape's. According to an internal report: Explorer is ‘fundamentally not compelling...not differen­tiated.’ Of course, in the antitrust trial, it is Microsoft's contention that its huge market share for the browser is due to the fact its technology is much better." (Taulli 240198). Vgl. dazu (Wallace, Erickson 1992a; Manes, Andrews 1993a; Cusumano, Selby 1995a; Fichert 1998a)

[7] ) Man weiß jedoch nicht, in wessen Köpfen dieser Geist spuken soll: "Der Triumph des Rie­sen­konzerns über die Unternehmerinitiative wird von der Kulturindustrie als die Ewigkeit der Un­ternehmerinitiative besungen." (Horkheimer, Adorno 1998a:158) "'Der Unternehmer' ist unter den heu­tigen Bedingungen ein sehr formloser Begriff; immerhin müssen geschäftliche Entscheidungen getroffen werden, sei es durch Einzelpersonen oder im Zusammenwirken mehrerer Personen, und es ist durchaus begründet, sich (mit gewissen Vorbehalten) eine die Entscheidungen treffende Ein­heit vorzustellen, die das Verhalten des Unternehmers verkörpert und die wir vermenschlichen und als Unternehmer bezeichnen." (Robinson 1972a:18) - Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch­lands siehe Gutachten (1999a).

1 Kommentar:

meffo hat gesagt…

Wir müssen nur für „Vernunft" die „Marktrationalität" einsetzen, als was sie vom Neoliberalismus und seinen wirtschaftspolitischen Praktikern ja tatsächlich oft genommen wird. Albert (1976a:87) sieht diese Frage vergleichsweise nüchtern: Auch der Preismechanismus des Marktes ist ein sozialer Mechanismus, dessen Funktionieren von seinem sozialen und kulturellen Umfeld abhängt. Es ist nur der Wahn von Ökonomen, dass da, wo ihre ökonomische Perspektive (d.h. die traditionelle Perspektive ihrer Faches bzw. ihrer Fachdoktrin) aufhört, auch tatsächlich die Grenzen der Erklärung wirtschaftlichen Handelns liegen.

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