Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

14.02.2007

Katastrophentheorie der Kontradiktion

Vertreter der Katastrophentheorie der Kontradiktion befürchten, dass unser Denken augenblicklich in chaotische Verhältnisse gerät, sobald wir auch nur eine einzige Kontradiktion zulassen (Klaus 1972:54).
In ähnlicher Weise begründet Popper seine Kritik an Hegels Dialektik:
"Denn die Kritik besteht immer in dem Aufweis gewisser Widersprüche oder Diskrepanzen, und der wissenschaftliche Fortschritt besteht hauptsächlich in der Beseitigung von Widersprüchen, wo immer sie auftreten. Aber das bedeutet, dass das Vorgehen der Wissenschaft auf der Annahme der Unzulässigkeit und Vermeidbarkeit von Widersprüchen beruht, was zur Folge hat, dass die Entdeckung eines Widerspruchs den Wissenschaftler zwingt, alles zu seiner Beseitigung zu unternehmen; und es ist wirklich so, dass die Wissenschaft zusammenbrechen muss, sobald auch nur ein Widerspruch zugelassen wird. Aber Hegel zieht aus seiner dialektischen Triade einen ganz anderen Schluss. Da Widersprüche die Mittel sind, durch die die Wissenschaft fortschreitet, so zieht er den Schluss, dass Widersprüche nicht nur zulässig und unvermeidlich, sondern auch in hohem Maße erwünscht seien. Das ist eine Lehre, die jedes Argument und jeden Fortschritt zerstören muss. Denn wenn Widersprüche unvermeidbar und erwünscht sind, dann besteht kein Bedürfnis zu ihrer Beseitigung, und damit muss aller Fortschritt enden." (Popper 1984:51f)
Popper räumt indes selber ein:
„...wir arbeiten ja oft mit Sätzen, die eigentlich falsch sind, dabei aber Resultate liefern, die für gewisse Zwecke genügen." (Popper 1984: 59)
Das besagt nichts Anderes als: Wir müssen zwischen dem formallogischen Aspekt und dem pragmatischen Aspekt von Kontradiktionen unterscheiden.
"Good theorizing may be born of illogical and ill-defined progenitors. The critical point is to know the difference." (Markovsky 1996:35)
Logische Widerlegungen einer in einer bestimmten nichtlogischen Sprache formulierten Theorie A sind immer nur im Rahmen einer formalen Rekonstruktion A’ dieser Theorie A möglich. Eine definitive logische Widerlegung setzt indessen voraus:
1. eine Explikation A’ der Theorie A,
2. der Nachweis, dass A’ die einzig sinnvoll mögliche Explikation von A darstellt,
3. der Nachweis, dass eine nachweisbare Kontradiktion k in A’ für A wesentlich und unaufhebbar ist.
Diese Forderungen sind nicht leicht zu erfüllen. In der Regel wird eine Kontradiktion wohl eher der Explikation A’ als der zugrunde gelegten Theorie A zu Last gelegt werden. Helmut F. Spinner verweist daher auf die Kritik der Popperschen Katastrophentheorie, die diese und die damit verbundene Auffassung der Sofort-Rationalität („instant rationality") durch Imre Lakatos (1978) erfahren hat:
"Am Rande kann hier auch Lakatos' Kritik des Mythos der Moment-Rationalität ('instant rationality'), auf dem auch die Poppersche Katastrophentheorie des Widerspruchs beruht, erwähnt werden. Relevant ist hier auch Lakatos' Kritik der daraus implizit abgeleiteten, buchstäblich kurzschlüssigen identifizierenden Kopplung von Widerlegung und Verwerfung wissenschaftlicher Theorien im Popperschen Falsifikationskonzept. Dagegen stellt Lakatos mit überzeugenden Argumenten die logische Unabhängigkeit der Akzeptierungsproblematik von der Geltungsproblematik heraus und schlägt im Anschluss an eine detaillierte Analyse der vielschichtigen Problemsituation unabhängige, differenzierte Akzeptierbarkeitsbegriffe und -kriterien vor." (Spinner 1974:214)

Literatur

  • Helmut F. Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt 1974
  • Georg Klaus, Moderne Logik, Berlin 1972
  • Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 8. verb. u. verm. Aufl. 1984
  • Imre Lakatos, The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge 1978
  • Barry Markovsky, THEORY, SCIENCE, AND "MICRO-MACRO" BRIDGES IN STRUCTURAL SOCIAL PSYCHOLOGY, CURRENT RESEARCH IN SOCIAL PSYCHOLOGY, 1, 4, 1996, pp. 30

1 Kommentar:

meffo hat gesagt…

Helmut F. Spinner spricht von der "Popperschen Katastrophentheorie des Widerspruchs", "Pluralismus als Erkenntnismodell", suhrkamp 32, wobei er auf seine Dissertation, S. 179 ff. verweist,
"Vom Rechtfertigungsmodell der Erkenntnis zum fallibilistischen Kritizismus", Diss. Mannheim 1970, veröffentlicht unter "Begründung, Kritik und Rationalität" (Vieweg, 1977)

Um eine Verwechslung mit dem "dialektischen Widerspruch" auszuschließen, habe ich von "Kontradiktion" gesprochen.