Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

06.08.2007

Theorienpluralismus vs. Monopolpluralismus

Der „Streit der Fakultäten“ ist ebenso unvermeidlich und gesetzmäßig wie ei­ne Pflicht [1]). Wissenschaft soll sein wie eine Wohnung, in der wirkliches Leben ist. Wenn sie jemals aufgeräumt erscheinen sollte, dann nur, wenn sie tot ist.[2])

Fal­libilismus [3]) bedarf eines Pluralismus von Theorien, um sein kritisches Erkenntnispo­ten­ti­al voll entfalten zu können. Denn der Wahrheit nähert man sich nicht durch endgültige Be­grün­dun­gen, sondern durch Auseinandersetzung mit relevanten Alternativen. Diese Alter­na­tiven müs­sen zuerst aufgestellt, d.h. expliziert und rekonstruiert werden, hernach vergli­chen. Dabei wird die Grundregel von Brain storming angewandt: Die Produktion und die Eva­lu­ation von Einfällen sind als voneinander getrennte Schritte bzw. Gebiete zu behandeln!

Diese Methodologie eines Pluralismus an Alternativlösungen ist auch bei der Entscheidung für eine Metatheorie bzw. für eine Methodologie durchzuführen. Den wissenschaftlichen Dis­kurs von vornherein auf die Anerkennung von Fallibilismus, Pluralismus oder sonst wie defi­nierter Wissen­schaftlichkeit festlegen zu wollen, liefe auf einen „Monopolpluralismus“, d.h. einer von einer Partei einseitig diktierten Fassung von „Pluralismus“ [4]) hinaus - nach dem Motto: Pluralismus ist, wenn nur Positionen vertreten werden, welche ich für wissenschaftlich vertretbar halte. Solchem wider­spräche aber schon der Idee und Aufgabe von Me­thodologie, eine Verständigung über die Regeln des Diskurses herbeizuführen.

Es wird von Kritischen Rationalisten im Allgemeinen als ihre philosophische Position de­finierend anerkannt:

Keine wissenschaftliche Aussage kann definitiv bewiesen oder definitiv wider­legt [5]) werden.

Erkenntnisfortschritt ist allein durch kritischen Vergleich mit Alternativen zu er­lan­gen.[6])

Ist der erste Punkt durch die Kritik am Münchhausen-Trilemma der Rechtfertigungs-Strategie be­grün­det, so der zweite durch die Einsicht, dass eine Kritik von Theorien am effektivsten durch andere Theorien vollzogen werden kann.

Da es eine von jeglicher Theorie prinzipiell unabhängige Beobachtungssprache nicht gibt, stel­len also Basisaussagen für eine zu prüfende Theorie immer schon Aussagen dar, die im Lich­te der­sel­ben The­o­rie und in deren Sprache formuliert sind. Deswegen sind zu einem stren­gen Test einer Theo­rie stets Alternativtheorien notwendig, welche in der Lage sind, ihre ei­ge­nen, evtl. zu konkur­rie­renden The­orien konträre Fakten zu produzieren [7]). Also ist der Theori­en­pluralismus eine notwendige Ergänzung des Fallibilismus [8]).

Außerdem kann gerade die Metaphysik, die einem empirischen Theorieansatz mehr oder we­ni­ger ausgesprochen zugrunde liegt, zur Kritik dieses Ansatzes eingesetzt werden. [9]) Auch die analytische Philosophie ist zu der Einsicht der Offenheit des philosophischen Ent­wurfs ge­langt, nachdem es sich sowohl für die Logik und die Mathematik wie auch für die Er­kennt­nis­the­o­rie her­ausgestellt hat, dass grundsätzlich stets verschiedene Möglichkeiten vor­han­den sind, die­sel­be zu rekonstruieren und wir wohl nie zu definitiven Lösungen aller dieser Fra­gen gelangen wer­den [10]).

Dass Popper jedoch gerade in seiner Essentialismus-Kritik so tut, als ob er über die definitive Lo­gik verfüge, ist eine andere Sache und wird im Anschluss erörtert werden. Es zeigt sich, dass sein Anti-Es­sentialismus einen proprietären Popper-Essentialismus [11]) zu seiner un­über­seh­ba­ren, aber nicht eingestandenen Voraussetzung hat. Poppers Methodologie und So­zial­philoso­phie entpuppen sich dabei als die Inszenierung ei­nes Diskurs, dessen half-hidden agenda aus­er­koren ist, seine ei­gen­tüm­li­chen Glaubensartikel im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit und of­fene Gesellschaft als uni­versell gültige Essenz von Rationalität und menschlicher Freiheit zu eta­b­lieren.



[1] ) Immanuel Kant: Werkausgabe, hrg. von Wilhelm Weischedel, Bd.XI, Frankfurt 4. Aufl. 1982, S. 296

[2] ) “Debate, I heard since my childhood, is the symptom of ignorance, and this is why politi­ci­ans have de­ba­tes but scientists agree among themselves. I hated this ideas before I could say why; later I came to think that it is the same idea as: clean people do not have to take a bath, only dirty people bathe re­gular­ly.” (Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975, S. 21)

[3] ) „Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich durch Konstruktion und Kritik, wo­bei die Er­fin­dung theoretischer Alternativen und die Erfindung und Her­stel­lung brauchbarer experimenteller Si­tua­tionen - bzw. die Suche nach relevanten Tat­sa­chen - eine wichtige Rolle spielen. Zur Wissenschaftslehre des Kritizismus gehört al­so ein theoretischer Pluralismus, der ausdrücklich die po­si­tive Bedeu­tung von Al­ter­nativen für das Problemlösungsverhalten betont und darüber hin­aus die Mög­lich­keit eines Erkenntnisfortschritts in kontra-intuitiver und in kontra-induktiver Rich­tung berücksichtigt.“ (Hans Albert: Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, Hamburg 1972, S. 199)

[4] ) Fidel Castro hält der Forderung des Auslands nach mehr Pluralismus entgegen, Kuba habe zu einer ei­ge­nen Form von Pluralismus ("pluralismo singular") gefunden. Dieser komme mit einer ein­zigen Partei aus, weil alle Strömungen und Tendenzen darin Platz gefunden hätten. (FAZ. wha, Havanna 17.11.99.

[5] "Nun gibt es endgültige Falsifizierbarkeit, wie bereits angedeutet. Trotzdem gibt es, wie ich in der Logik der Forschung nachdrücklich betonte, kaum so etwas wie eine Falsifikation durch Be­ob­achtungen, die als un­zwei­fel­haft (oder endgültig) bezeichnet werden kann." (Karl R. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930-1933, Tübingen 2. verbess. Auflage 1994, S. XXIX)

„Auch wenn Revisionen von Falsifikationen in der Praxis selten sind, so sind sie vom Stand­punkt ei­nes kon­se­quenten Fallibilismus aus immer möglich. Aus diesem Grun­de ist die An­nahme, dass Fal­sifikationen endgültig sind, mit einem konse­quen­ten Fallibilismus unvereinbar." (Gunnar Andersson: Kritik und Wissenschaftsgeschichte. Kuhns, Lakatos’ und Feyerabends Kritik des Kritischen Rationalismus, Tübingen 1988, S.110)

„... all appraisals of theories are appraisals of the status of their critical discus­si­on.” (Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1973, zuerst: 1972, S. 58)

[6] „This is all that is needed: as soon as we have competing theories, there is plen­ty of scope for critical, or rational, discussion: we explore the consequences of the the­ories, and we try, especially, to discover their weak points - that is, con­se­quen­ces which we think may be mistaken. This kind of critical or ratio­nal dis­cussion may sometimes lead to a clear defeat of one of the theories; more often it only helps to bring out the weaknesses of both, and thus challenges us to pro­du­ce some further theory.” (Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1973, zuerst: 1972, S. 35)

[9] Dies hat Hans Albert: Aufklärung und Steuerung, Aufsätze zur Sozialphilosophie und zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Hamburg 1976, S. 103, Anm.24 betont und selbst am Beispiel hervorragend demon­striert, indem er die Prä­missen der Nutzenmetaphysik (Tapas Majumdar: The Measurement of Utility, London 1958) zur Kritik der Berech­nungs­methoden des So­zialpro­dukts bzw. des Modelldenkens der neoklassischen Ökonomie ver­wen­det.

„Wer also ein Maximum an Kritik in der Wissenschaft will, muss philosophische The­o­rien in die Wissenschaft einführen und wissenschaftliche Theorien mit philosophi­schen Ideen mög­lichst direkt (...) kon­frontieren." (Helmut F. Spinner: Wege und Irrwege der Wissenschaft, 20, Soziale Welt, 1969, S. 331)

[10] Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin Heidelberg New York (verb. Nachdruck) 1974, S. XXVI

[11] so wie in analoger Weise die westliche Islam-Kritik einen Essentialismus in Form des „Uni­versalismus" der besonderen Kultur des Westens vorauszusetzen pflegt (S. Sayyid: Anti-essentialism and Universalism, Innovation - The European Journal of Social Sciences, 11, 4, 1998, S. 377-390)

1 Kommentar:

meffo hat gesagt…

Castros Argument erscheint zunächst als schierer Sophismus (zumindest für einen Vertreter von Parteiendemokratie; wenn man aber die Zugangsbedingungen für Partneugründugen konkret unter die Lupe nimmt (z.B. 5%-Klausel in der BRD), reduziert hier der Abstand zwischen Castro und den liberalen Demokratrietheoretikern ganz gewaltig!)

Wie zumeist steckt aber ein wahrer Kern in einer Argumentation. Wenn man das All-Eine untergliedert fasst in ein Mannigfaltiges, so kommt es noch darauf an, auf welcher Stufe einer solchen Hierarchie besser Pluralismus oder Monismus herrschen sollte.

Für Vertreter des Kritischen Rationalismus erscheint es meist vernünftiger, es gebe Pluralismus auf dem Boden dessen, was sie selbst für vernünftig halten. Es bleibt demnach immer noch zu klären übrig, was sie wirklich von Castros Position unterscheide.