Fallibilismus [3]) bedarf eines Pluralismus von Theorien, um sein kritisches Erkenntnispotential voll entfalten zu können. Denn der Wahrheit nähert man sich nicht durch endgültige Begründungen, sondern durch Auseinandersetzung mit relevanten Alternativen. Diese Alternativen müssen zuerst aufgestellt, d.h. expliziert und rekonstruiert werden, hernach verglichen. Dabei wird die Grundregel von Brain storming angewandt: Die Produktion und die Evaluation von Einfällen sind als voneinander getrennte Schritte bzw. Gebiete zu behandeln!
Diese Methodologie eines Pluralismus an Alternativlösungen ist auch bei der Entscheidung für eine Metatheorie bzw. für eine Methodologie durchzuführen. Den wissenschaftlichen Diskurs von vornherein auf die Anerkennung von Fallibilismus, Pluralismus oder sonst wie definierter Wissenschaftlichkeit festlegen zu wollen, liefe auf einen „Monopolpluralismus“, d.h. einer von einer Partei einseitig diktierten Fassung von „Pluralismus“ [4]) hinaus - nach dem Motto: Pluralismus ist, wenn nur Positionen vertreten werden, welche ich für wissenschaftlich vertretbar halte. Solchem widerspräche aber schon der Idee und Aufgabe von Methodologie, eine Verständigung über die Regeln des Diskurses herbeizuführen.
Es wird von Kritischen Rationalisten im Allgemeinen als ihre philosophische Position definierend anerkannt:
Keine wissenschaftliche Aussage kann definitiv bewiesen oder definitiv widerlegt [5]) werden.
Erkenntnisfortschritt ist allein durch kritischen Vergleich mit Alternativen zu erlangen.[6])
Ist der erste Punkt durch die Kritik am Münchhausen-Trilemma der Rechtfertigungs-Strategie begründet, so der zweite durch die Einsicht, dass eine Kritik von Theorien am effektivsten durch andere Theorien vollzogen werden kann.
Da es eine von jeglicher Theorie prinzipiell unabhängige Beobachtungssprache nicht gibt, stellen also Basisaussagen für eine zu prüfende Theorie immer schon Aussagen dar, die im Lichte derselben Theorie und in deren Sprache formuliert sind. Deswegen sind zu einem strengen Test einer Theorie stets Alternativtheorien notwendig, welche in der Lage sind, ihre eigenen, evtl. zu konkurrierenden Theorien konträre Fakten zu produzieren [7]). Also ist der Theorienpluralismus eine notwendige Ergänzung des Fallibilismus [8]).
Außerdem kann gerade die Metaphysik, die einem empirischen Theorieansatz mehr oder weniger ausgesprochen zugrunde liegt, zur Kritik dieses Ansatzes eingesetzt werden. [9]) Auch die analytische Philosophie ist zu der Einsicht der Offenheit des philosophischen Entwurfs gelangt, nachdem es sich sowohl für die Logik und die Mathematik wie auch für die Erkenntnistheorie herausgestellt hat, dass grundsätzlich stets verschiedene Möglichkeiten vorhanden sind, dieselbe zu rekonstruieren und wir wohl nie zu definitiven Lösungen aller dieser Fragen gelangen werden [10]).
Dass Popper jedoch gerade in seiner Essentialismus-Kritik so tut, als ob er über die definitive Logik verfüge, ist eine andere Sache und wird im Anschluss erörtert werden. Es zeigt sich, dass sein Anti-Essentialismus einen proprietären Popper-Essentialismus [11]) zu seiner unübersehbaren, aber nicht eingestandenen Voraussetzung hat. Poppers Methodologie und Sozialphilosophie entpuppen sich dabei als die Inszenierung eines Diskurs, dessen half-hidden agenda auserkoren ist, seine eigentümlichen Glaubensartikel im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit und offene Gesellschaft als universell gültige Essenz von Rationalität und menschlicher Freiheit zu etablieren.
[1] ) Immanuel Kant: Werkausgabe, hrg. von Wilhelm Weischedel, Bd.XI, Frankfurt 4. Aufl. 1982, S. 296
[2] ) “Debate, I heard since my childhood, is the symptom of ignorance, and this is why politicians have debates but scientists agree among themselves. I hated this ideas before I could say why; later I came to think that it is the same idea as: clean people do not have to take a bath, only dirty people bathe regularly.” (Joseph Agassi: Science in Flux, Dordrecht Boston 1975, S. 21)
[3] ) „Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich durch Konstruktion und Kritik, wobei die Erfindung theoretischer Alternativen und die Erfindung und Herstellung brauchbarer experimenteller Situationen - bzw. die Suche nach relevanten Tatsachen - eine wichtige Rolle spielen. Zur Wissenschaftslehre des Kritizismus gehört also ein theoretischer Pluralismus, der ausdrücklich die positive Bedeutung von Alternativen für das Problemlösungsverhalten betont und darüber hinaus die Möglichkeit eines Erkenntnisfortschritts in kontra-intuitiver und in kontra-induktiver Richtung berücksichtigt.“ (Hans Albert: Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, Hamburg 1972, S. 199)
[4] ) Fidel Castro hält der Forderung des Auslands nach mehr Pluralismus entgegen, Kuba habe zu einer eigenen Form von Pluralismus ("pluralismo singular") gefunden. Dieser komme mit einer einzigen Partei aus, weil alle Strömungen und Tendenzen darin Platz gefunden hätten. (FAZ. wha, Havanna 17.11.99.
[5] "Nun gibt es endgültige Falsifizierbarkeit, wie bereits angedeutet. Trotzdem gibt es, wie ich in der Logik der Forschung nachdrücklich betonte, kaum so etwas wie eine Falsifikation durch Beobachtungen, die als unzweifelhaft (oder endgültig) bezeichnet werden kann." (Karl R. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930-1933, Tübingen 2. verbess. Auflage 1994, S. XXIX)
„Auch wenn Revisionen von Falsifikationen in der Praxis selten sind, so sind sie vom Standpunkt eines konsequenten Fallibilismus aus immer möglich. Aus diesem Grunde ist die Annahme, dass Falsifikationen endgültig sind, mit einem konsequenten Fallibilismus unvereinbar." (Gunnar Andersson: Kritik und Wissenschaftsgeschichte. Kuhns, Lakatos’ und Feyerabends Kritik des Kritischen Rationalismus, Tübingen 1988, S.110)
„... all appraisals of theories are appraisals of the status of their critical discussion.” (Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1973, zuerst: 1972, S. 58)
[6] „This is all that is needed: as soon as we have competing theories, there is plenty of scope for critical, or rational, discussion: we explore the consequences of the theories, and we try, especially, to discover their weak points - that is, consequences which we think may be mistaken. This kind of critical or rational discussion may sometimes lead to a clear defeat of one of the theories; more often it only helps to bring out the weaknesses of both, and thus challenges us to produce some further theory.” (Karl R. Popper: Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1973, zuerst: 1972, S. 35)
[7] Paul K. Feyerabend: Problems of Empiricism, in: R. G. Colodny, (ed.): Beyond the Edge of Certainty, Essays in Contemporary Science and Philosophy, vol. II, Englewood Cliffs, N.J. 1965, S. 150
[8] Helmut F. Spinner: Theoretischer Pluralismus, in: Hans Albert, (Hrg.): Sozialtheorie und soziale Praxis, Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag, Meisenheim 1971, S. 17 ff.
[9] Dies hat Hans Albert: Aufklärung und Steuerung, Aufsätze zur Sozialphilosophie und zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Hamburg 1976, S. 103, Anm.24 betont und selbst am Beispiel hervorragend demonstriert, indem er die Prämissen der Nutzenmetaphysik (Tapas Majumdar: The Measurement of Utility, London 1958) zur Kritik der Berechnungsmethoden des Sozialprodukts bzw. des Modelldenkens der neoklassischen Ökonomie verwendet.
„Wer also ein Maximum an Kritik in der Wissenschaft will, muss philosophische Theorien in die Wissenschaft einführen und wissenschaftliche Theorien mit philosophischen Ideen möglichst direkt (...) konfrontieren." (Helmut F. Spinner: Wege und Irrwege der Wissenschaft, 20, Soziale Welt, 1969, S. 331)
[10] Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin Heidelberg New York (verb. Nachdruck) 1974, S. XXVI
[11] so wie in analoger Weise die westliche Islam-Kritik einen Essentialismus in Form des „Universalismus" der besonderen Kultur des Westens vorauszusetzen pflegt (S. Sayyid: Anti-essentialism and Universalism, Innovation - The European Journal of Social Sciences, 11, 4, 1998, S. 377-390)
1 Kommentar:
Castros Argument erscheint zunächst als schierer Sophismus (zumindest für einen Vertreter von Parteiendemokratie; wenn man aber die Zugangsbedingungen für Partneugründugen konkret unter die Lupe nimmt (z.B. 5%-Klausel in der BRD), reduziert hier der Abstand zwischen Castro und den liberalen Demokratrietheoretikern ganz gewaltig!)
Wie zumeist steckt aber ein wahrer Kern in einer Argumentation. Wenn man das All-Eine untergliedert fasst in ein Mannigfaltiges, so kommt es noch darauf an, auf welcher Stufe einer solchen Hierarchie besser Pluralismus oder Monismus herrschen sollte.
Für Vertreter des Kritischen Rationalismus erscheint es meist vernünftiger, es gebe Pluralismus auf dem Boden dessen, was sie selbst für vernünftig halten. Es bleibt demnach immer noch zu klären übrig, was sie wirklich von Castros Position unterscheide.
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