Eine Kanonisierung setzt im Allgemeinen voraus, dass ein wissenschaftliches Gebiet erschöpft sei und seinen definitiven Abschluss gefunden habe, so wie ihn Kant auf dem Gebiet der (aristotelischen [1]) Logik erreicht geglaubt und wie er dasselbe in Bezug auf die Philosophie zu leisten erhofft hatte. Wird eine Kanonisierung auf einem Gebiet unternommen, das nicht erschöpfend behandelt ist oder aufgrund seiner inhaltlichen Problematik nie abgeschlossen werden wird [2]), so kann dieses Kanonisieren nur Scholastifizierung oder weitere Vulgarisierung bedeuten.
Dem Kritische Rationalismus aber drohte das Schicksal einer dogmatischen Philosophie zu erleiden, die ihre wesentlichsten Probleme bereits als gelöst ansieht. Sie erhält zwar immer mehr Zulauf von Menschen, die in ihr die Lösung ihrer Probleme vorhanden glauben, die nicht aber gekommen sind, um immer wieder neue Fragen zu stellen oder gestellt zu bekommen. Ab einer kritischen Masse solcher Anhänger überwiegt dann der Trend zur Selbstbestätigung und zur geistigen Inzucht. Die Zerfallsprozesse kritischen Bewusstseins werden gesteuert durch um sich greifende Sprachregelungen zur Umgehung prekär gehaltener Probleme. Kanonisierung führt unter solchen Umständen dazu, dass Antworten behauptet werden, von denen kein Mensch mehr zu sagen weiß, zu welchen Fragen sie gegeben wurden. Indikator für eine solche Entwicklung kann dann sein, inwieweit innerhalb der In-Group kritische Infragestellung des theoretischen Kerns überhaupt noch toleriert wird.
Kanonisierung unterschlägt die historische Entwicklung, die jeder Autor hinter sich gebracht hat.
Zu welchen unterschiedlichen Bildern einer Philosophie man dabei kommt, wenn man diese entweder retrograd oder in der historischen Entwicklung betrachtet, macht der Tagungsstreit zwischen Popper [3]) und Bartley deutlich: Popper betont die Kontinuität seiner Philosophie und sieht überhaupt keinen Widerspruch zwischen seiner Theorie der Demarkation und der Rationalität. Bartley sieht Brüche in der Entwicklung und Problemverschiebungen, die von Popper überkleistert wurden.[4]) Da Identität der Philosophie auch ein Problem der persönlichen Identität des Philosophen ist, ist verstehbar, dass dem Philosophen die Unterschiede seiner Entwicklung keineswegs so gravierend vorkommen wie einem Gegenüber. Wer schreibt, der bleibt. Wer schreibt, dessen Änderungen sind dafür aber anderen umso besser feststellbar. Auch Identität muss ja erst hergestellt, konstruiert werden, will das Individuum als solches weiter existieren, was uns allen heutzutage, wo der Kulturschock mittlerweile Alltagserfahrung darstellt, aus der eigenen Erfahrung bekannt sein dürfte. Wer sich aber berufen fühlt, einen intellektuellen Führungsanspruch auszuüben, erliegt umso schneller einer Neigung zum Window dressing.
Popper hat die aposteriorische Rekonstruktion seiner philosophischen Identität in seiner Autobiografie [5]) niedergelegt, die seitdem zum Springquell aller angeblich „authentischen“ Popper-Darstellung geworden ist. Während Popper seine Kontinuität fast schon im Sinne eines Triumphzugs der Unfehlbarkeit überbetont [6]), ist man geneigt, bei Alberts [7]) erratischer Wanderung von Heidegger über den Positivismus hin zu Popper ein viel stärkeres Profil nachzuzeichnen, als dieser selbst vielleicht zugeben würde. Wie einstens bei der Kanonisierung von Marx, Engels und Lenin ist bei solchem Vorgang zu erleben, dass die biografische Entwicklung des philosophischen Individuums unter der Hand zu einer hagiografischen Inkarnation changiert: Er kam auf die Welt, stach schon hervor vor Leuten seines Alters durch seine Weisheit und Tugend und brauchte fortan nur noch seine im Ganzen fertige Lehre zu verkünden [8]). Ob jedoch eine neu hinzugefügte Information als die kritische Masse betrachtet wird, die zu einer Änderung des Gesamten zwingt, hängt immer auch von der Masse des Ausgebreiteten ab.
[1] ) Die Weiterentwicklung der Aussagenlogik der Stoa durch das Mittelalter wird häufig übersehen; vgl. Karl Dürr: Aussagenlogik im Mittelalter, Erkenntnis, 7, 1937/38, S. 160-168
[2] ) was m.E. sowohl für die Philosophie im Allgemeinen wie die poppersche im besonderen zutrifft
[3] ) Karl R. Popper: Remarks, in: Imre Lakatos, Alan Musgrave, (eds.): Problems in the Philosophy of Science, Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science London 1965, vol. 3, Amsterdam 1968
[4] ) Joseph Agassi: A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993, S. 174 beklagt, dass Popper allfällige Hinweise auf Änderungen seiner Meinungen in der Regel unterlässt.
[5] ) Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1. Aufl. 1979
[6] ) zu nachträglichen, irreführenden sowie schönenden Korrekturen durch Poppers eigene Hand siehe John R. Wettersten: The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992, S. 146
[7] ) Hans Albert: Mein Umweg in die Soziologie, in: Christian Fleck: Wege zur Soziologie nach 1945. Biographische Notizen, Opladen 1996, S. 7-16
[8] ) John R. Wettersten: The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992, S. 197 mutet dermaßen Poppers Selbstdarstellung an.
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