Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

06.08.2007

Man sollte Popper erst gar nicht zu kanonisieren suchen!

Nichts erscheint abwegiger zu sein, als das Bestreben, die Begriffe eines Autoren definieren zu wollen, der Definitionen selber verabscheute.

Ei­ne Kanonisie­rung setzt im Allgemeinen voraus, dass ein wissenschaftliches Gebiet erschöpft sei und seinen de­finitiven Abschluss gefunden habe, so wie ihn Kant auf dem Gebiet der (ari­sto­telischen [1]) Lo­gik erreicht geglaubt und wie er dasselbe in Bezug auf die Philosophie zu lei­sten erhofft hat­te. Wird eine Kanonisierung auf einem Gebiet unternommen, das nicht er­schöpfend behandelt ist oder auf­grund seiner inhalt­lichen Problematik nie abgeschlossen werden wird [2]), so kann dieses Ka­nonisieren nur Scholasti­fi­zie­rung oder weitere Vulgarisierung bedeuten.

Dem Kritische Rati­o­nalismus aber drohte das Schick­sal einer dogmatischen Philosophie zu erleiden, die ihre we­sent­lichsten Pro­bleme be­reits als gelöst ansieht. Sie erhält zwar immer mehr Zulauf von Men­schen, die in ihr die Lö­sung ihrer Probleme vorhanden glauben, die nicht aber gekommen sind, um immer wie­der neue Fragen zu stellen oder gestellt zu bekommen. Ab einer kritischen Masse sol­cher An­hän­ger überwiegt dann der Trend zur Selbstbestätigung und zur geistigen Inzucht. Die Zer­falls­pro­zesse kritischen Bewusstseins werden gesteuert durch um sich greifende Sprach­re­ge­lun­gen zur Umgehung prekär gehaltener Probleme. Kanonisierung führt unter sol­chen Um­stän­den da­zu, dass Antworten behauptet werden, von de­nen kein Mensch mehr zu sa­gen weiß, zu wel­chen Fragen sie gegeben wurden. Indikator für eine solche Entwicklung kann dann sein, in­wie­weit innerhalb der In-Group kritische Infragestellung des theoretischen Kerns über­haupt noch toleriert wird.

Kanonisierung unterschlägt die historische Entwicklung, die jeder Autor hinter sich gebracht hat.

Zu wel­chen unterschiedlichen Bildern einer Philosophie man dabei kommt, wenn man diese ent­we­der retrograd oder in der historischen Entwicklung betrachtet, macht der Tagungsstreit zwi­schen Pop­per [3]) und Bartley deutlich: Popper betont die Kontinuität seiner Philo­so­phie und sieht überhaupt keinen Widerspruch zwischen seiner Theorie der Demarkation und der Ra­ti­onalität. Bart­ley sieht Brüche in der Entwicklung und Problemverschiebungen, die von Pop­per überkleistert wurden.[4]) Da Identität der Philosophie auch ein Problem der persönlichen Iden­ti­tät des Philosophen ist, ist verstehbar, dass dem Philosophen die Unterschiede seiner Ent­wick­lung keineswegs so gra­vie­rend vorkommen wie einem Gegenüber. Wer schreibt, der bleibt. Wer schreibt, dessen Ände­run­gen sind dafür aber anderen umso besser feststellbar. Auch Iden­ti­tät muss ja erst hergestellt, konstruiert werden, will das Individuum als solches wei­ter exi­stie­ren, was uns allen heutzutage, wo der Kultur­schock mittlerweile All­tags­er­fahrung darstellt, aus der eigenen Erfahrung bekannt sein dürfte. Wer sich aber berufen fühlt, ei­nen in­tel­lek­tuel­len Führungsanspruch auszuüben, erliegt umso schneller einer Neigung zum Window dressing.

Popper hat die aposteriorische Rekonstruktion seiner philosophischen Identität in seiner Au­to­bi­o­grafie [5]) niedergelegt, die seitdem zum Springquell aller angeblich „authentischen“ Pop­per-Dar­stel­lung geworden ist. Während Popper seine Kontinuität fast schon im Sinne eines Tri­umph­zugs der Unfehlbarkeit überbetont [6]), ist man geneigt, bei Alberts [7]) erratischer Wan­derung von Hei­deg­ger über den Positivismus hin zu Popper ein viel stärkeres Profil nach­zu­zeichnen, als die­ser selbst vielleicht zugeben würde. Wie einstens bei der Kanoni­sie­rung von Marx, Engels und Lenin ist bei solchem Vorgang zu erleben, dass die bio­gra­fi­sche Entwick­lung des phi­lo­so­phischen In­di­viduums unter der Hand zu einer hagiografischen In­karnation chan­giert: Er kam auf die Welt, stach schon hervor vor Leuten seines Alters durch seine Weis­heit und Tu­gend und brauchte fortan nur noch seine im Ganzen fertige Lehre zu ver­künden [8]). Ob jedoch eine neu hin­zu­gefügte Information als die kritische Masse be­trachtet wird, die zu ei­ner Än­derung des Ge­samten zwingt, hängt im­mer auch von der Masse des Ausgebreiteten ab.



[1] ) Die Weiterentwicklung der Aussagenlogik der Stoa durch das Mittelalter wird häufig über­sehen; vgl. Karl Dürr: Aussagenlogik im Mittelalter, Erkenntnis, 7, 1937/38, S. 160-168

[2] ) was m.E. sowohl für die Philosophie im All­ge­mei­nen wie die poppersche im besonderen zutrifft

[4] ) Joseph Agassi: A Philosopher's Apprentice. In Karl Popper's Workshop, Amsterdam Atlanta, GA 1993, S. 174 beklagt, dass Popper allfällige Hinweise auf Änderungen seiner Mei­nun­gen in der Regel unterlässt.

[5] ) Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1. Aufl. 1979

[6] ) zu nachträglichen, irreführenden sowie schönenden Korrekturen durch Poppers eigene Hand siehe John R. Wettersten: The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992, S. 146

[7] ) Hans Albert: Mein Umweg in die Soziologie, in: Christian Fleck: Wege zur Soziologie nach 1945. Biographische Notizen, Opladen 1996, S. 7-16

[8] ) John R. Wettersten: The Roots of Critical Rationalism, Amsterdam Atlanta, GA 1992, S. 197 mutet dermaßen Pop­pers Selbstdarstellung an.

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