Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Einheitsvernunft oder plurifunktionelle Rationalität?

"(...) gibt es überall wohl ein höheres Prinzip der Entscheidung, wenn über Wahrheit gestritten wird, als die Vernunft"? (Kant XI:311)

Wir haben nicht die Wahl zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern ob wir auf eine ge­sunde oder kranke Art rational sein wollen. Dazu müssen wir aber wissen, welche Art von Ra­tionalität vernünftig ist, oder ob das Absurde das letztlich Vernünftigere darstellt.

Rationalität ist notwendig auf die Einhaltung von Regeln oder Kriterien orientiert. Spinners (1994a) Konzept der okkasionellen Rationalität" erscheint gerade aus diesem Grunde angreif­bar. Denn den eigentümlichen Charakter dieser zweiten Vernunftart gelingt es Spinner nicht ty­pologisch plausibel zu machen. Rationalität ohne Kriterien ist ein leerer Dezisionismus und wi­derspricht seinem eigenen Prinzip. Eine Verherrlichung der „Entscheidung an sich" fügt sich dem allgemeinen Kulturverschleiß ein (Adorno 1971a:26), der sich auf puren Dezisionismus noch etwas zugute hält - nur dass derlei Kulturkritik, die fälschlich den Grundsatz voraussetzt, dass die Wirklichkeit als Kultur gewertet werden könne und müsse, letztlich bloß im phrasen­dreschenden Seufzen darüber versinkt, dass die edle Annahme eben doch nicht wahr, demnach falsch sei.

Die Frage steht allerdings, welcher unterschiedlichen Art diese Regeln oder Kriterien sein sollen:

deterministisch,

probabilistisch,

je nach dem Modell eines der Entscheidungsverfahrens, für welches man optiert.

Vielleicht kann in dieser Situation auch eine Prüfung von Lösungsvorschlägen aus der Truhe des Neukantianismus weiterhelfen. Denn bereits der Neukantianismus hatte im Zusammenhang begriffslogischer Untersuchungen das Problem der Wertung des Einzigartigen aufgeworfen, wie das Lask (1914a) gerade im Anschluss an Rickert an der philosophischen Entwicklung von Fichte aufzuweisen unternommen hatte. Dabei prüfte er, in welcher Weise die Logik der Wer­tung singulärer Gebilde („Wertindividualität") sich kategoriell von der Subsumierbarkeit unter generelle Wertkategorien („rationalistische Wertungslogik") unterscheiden ließe:

„Aber historische Erscheinungen, wie etwa einzelne Persönlichkeiten, lassen sich niemals dadurch erschöpfend würdigen, dass nachgeprüft wird, wie weit sie den Satz des Widerspruchs oder den kategorischen Imperativ in sich ver­wirklicht haben. (...) Die Wertung dringt hier nicht in den Kern der Individua­li­tät ein, sondern haftet an einem Teil, an einem Merkmal, das unzähligen Exem­pla­ren derselben Wertungssphäre gemeinsam sein muss. Um dieses Gemeinsa­men, nicht um seiner individuellen Eigenart willen, erhält das Objekt seinen Wert. Es erscheint zwar als ein einzelnes Wertvolles, aber nicht wertvoll in sei­ner Einzigkeit." (Lask 1914a:10f)

Wo der Standpunkt „Individualität, Wirklichkeit, bestimmtes Dasein der Charaktere" (Höl­der­lin 3:255f) ist, muss auch die umgebende Welt aus diesem Standpunkte erscheinen. Lask führt als exem­pla­rischen Gegensatz dafür Kant und Hegel an:

„Beim abstrakten Wertschema wird das Wertexemplar mit dem Wertall­ge­mei­nen, beim hegelschen Verfahren Wertindividualität mit Wertindividualität, näm­lich einzelne Gliedindividualität mit der sie realiter umfassenden Gesamt­in­divi­du­alität in Beziehung gesetzt." (Lask 1914a:13)

Außer einer an Hegel anschließenden Kritik der kantischen formalen Moralität (Werner 1974a) stößt man dann aber bei Lukács auf kollektiven Dezisionismus in Reinkultur:

„Diskussionen konnten eine Lösung nicht hervorbringen. Von beiden Seiten wur­den schon Bände voll von Argumenten zur Beurteilung der Situation ge­schrie­ben. Eine Überzeugung war hier von vornherein unmöglich, weil die tief­ste Quelle der Überzeugung mit keinem Argument erfassbar war: nämlich der einheitliche und entschlossene Wille des Proletariats, die Gewalt an sich zu rei­ßen." (Lukács 1968a:76)

Die Koinzidenz von Dezisionismus und einer politisch willkürlich einsetzbaren Legitima­ti­ons­i­deologie lässt sich hier wie selten fein säuberlich studieren. Wir entgehen diesem Sumpf je­doch nicht, wenn wir nicht über kognitive und/oder wertmäßige Kriterien verfügen, die über das Einmalige der konkreten Entscheidungssituation hinaus verweisen.

Die Frage allerdings ist berechtigt:

Darf Rationalitätstheorie sich auf die Vernunft des Individuums zurückziehen?

Damit wird 1. ein moralisches Problem wie 2. ein Problem individueller Informationsverar­beitungskapazität aufgeworfen.

ad1):
Wenn wir schon unsere Entscheidungen letztlich allein treffen müssen, so steht es uns gut an, sie unseren Mitmenschen gegenüber zu verantworten, sie argumentativ zu begründen. Zudem: Woher nehmen wir denn sonst unsere Kriterien?

ad2):
Wir stehen in realen kausalen und kommunikativem Zusammenhängen mit unseren Mitmen­schen, sind auf deren Unterstützung angewiesen, sogar lebensnotwendig abhängig. Geht es um Interaktionsprozesse zwischen mehreren handelnden Subjekten, ist keiner mehr frei in sei­ner Ent­scheidung. Das intersubjektive Ergebnis ist vom Individuum meist nicht beabsichtigt, zu­min­dest nicht in allen Nebenfolgen; zumeist ist es auch unmöglich für jeden einzelnen Be­tei­lig­ten, dieses vorherzusehen und geplant zu beeinflussen.

Dies sind alles Bedingungen, die eine Rationalitätstheorie nicht vernachlässigen darf und die er­zwingen, bei der Konzeption einer Rationalitätstheorie von vornherein eine Form inter­sub­jek­ti­ver, m.a.W.: kollektiver Rationalität ins Auge zu fassen.

„Jeder von uns denkt seine eigenen Gedanken; die Begriffe aber haben wir mit unseren Mitmenschen gemeinsam." (Toulmin 1978a:49)

Damit scheint Popper (1973a:22) bis zu einem gewissen Grade übereinzu­stim­men, wenn er sagt:

„I do not know of anything more ‘rational’ than a well-conducted critical dis­cus­sion."

Absolutes Wissen ist paradox und daher relativ wahr

Adorno (1969b:8) indessen weist die Forderung, ausschließlich immanente Kritik zuzulassen, zurück. Es kann daher gezweifelt werden, ob Adorno tatsächlich die ihm von Spinner zuge­schrie­bene Haltung eingenommen habe. Zumindest für die Möglichkeiten seines eigenen Kri­ti­sie­rens schien er dergleichen Beschränkung als Ungehörigkeit von sich zu weisen. Damit scheint die Rede von der „halbierten Rationalität" auf Popper wie auf Adorno zu passen: Die nor­mativen Anforderungen, die an die kritisierten Autoren gestellt werden, sind nicht diesel­ben, die man für sich selbst gelten lässt - eine eigentümliche, aber dennoch verbreitete Form me­thodologischer Blindheit auf dem Feld der Selbstwahrnehmung.

Aus dem Adorno-Kriterium folgt aber nicht sogleich das Problem der Immunisierung, son­dern zuerst stellt sich das der Identifizierung eines solchen Wissenssystems. Hegels Tota­litäts­be­griff setzt voraus, dass sich alles Wissen schon inbegriffen weiß. Nach dieser Totalitäts-Auf­fassung ist das sogenannte Adorno-Kriterium von vornherein unstimmig, da das absolute Wis­sen als absolutes Wissen auch die Kritik an sich selbst bereits umfassen würde. So als ob die Kri­tik an der Kultur des Westens schon immer derselben angehören müsse:

„If resistance to the West is another move in the inventory of the West, the West can have no limits." (Sayyid 1998a:383)

Selbstverständlich kennt das absolute Wissen auch schon längst das Adorno-Kriterium und Spin­ners darauf bezügliche Kritik. Spinner kommt einfach zu spät; der Igel ist schon da! - Es stellt sich also überhaupt erst das Problem, Kriterien für Originalität und die Einordnung ver­schiedener Beiträge zu diesem absoluten Wissen zu finden; einmal vorausgesetzt, man könne die Totalität historisch abgrenzen. Denn schon eine historische Abgrenzung widerstrebt dem Be­griff des Absoluten. So ist der (von Spinner zitierte) Vorwurf Feiblemans:

"Hegel composed a philosophy in which everything moves and evolves ex­cept the philosophy which says it does" [1])

trivialerweise entweder richtig oder falsch: Wenn man unter dem "absoluten Wissen" Hegels ei­gene Fixierung und Zusammenfassung des philosophischen Wissens seiner Zeit versteht, kam sie natürlicherweise mit dem Tode Hegels zum Stillstand. Da jedoch dieser schwerlich der Auf­fassung gewesen sein konnte, dass mit seinem Tode auch die Geschichte der Menschheit ins­ge­samt ende, ist das absolute Wissen konzeptionsgemäß der reinterpretierenden Weiter­ent­wick­lung durch andere Philosophen fähig. Wenn ein Philosoph lange genug lebt, kritisiert er sich in der Regel schon selber. Man muss nur dingfest machen, was er hinter allem branchenüblichen „window dressing" denn tatsächlich alles so treibt:

„Popper’s failure to portray these problems openly means that one is required to analyse the changing logic of the discussion to see what they are. The logic of Popper’s problems and the motives and reasons for the changes he intro­du­ces may be found, however, in the weaknesses for his former views." (Wettersten 1992a:187)

Entsprechend Hegel. Und man kann ihm nicht nachsagen, dass ihm diese Einsicht abging. Denn für ein absolutes System wie dasjenige Hegels stellt die Bestimmung des Verhältnisses der „Phänomenologie des Geistes" zur späteren „Enzyklopädie" nicht nur für den Hegelianer, sondern schon für den eigenen Autor eine offenkundige Verlegenheit dar (Bonsiepen 1988a:LIII). Selbst einem Hegel gelang es nicht, dem absoluten Wissen etwas hinzuzufügen, was dieses nicht schon immer wusste. Es genügt zur Kritik einer Philosophie gemeinhin schon, dass man diese beim Worte nehme. Das ist vielleicht sogar das einzig probate Mittel für Philosophen, die sich selbst nicht ernst nehmen [2]). Doch was einem endlichen Philosophen widerfahren kann, tut absolutem Wissen keinen Abbruch. Es findet immer genügend andere Philosophen - wenn nicht, dann hat es auch das schon immer gewusst und dadurch lediglich seine diesbezüglichen Pläne realisiert!

Wenn Hegels Stehenbleiben bei seiner eigenen Zusammenfassung gegen sein systematisches Philosophieren verstößt, so ist es an Feibleman als philosophischem Kritiker, diesen Verstoß als Hegel eigentümlich abzuweisen und sich nur an Hegels systematisches Denken zu halten. Sein Einwand ist kein Einwand gegen Hegels Philosophie, sondern richtet sich lediglich gegen Hegel als historische Person, so wenig wie etwa die Gültigkeit der Arithmetik selbst in Frage steht, wenn die Deutsche Bank einen Buchungsfehler begeht, oder die Gesetze der Informati­ons­theorie widerlegt sind, weil Software crasht.

Das Denken wird von Hegel als ein absolutes Kontinuum gefasst; die Prädikation ergibt zu­gleich einen Prozess der Letztbegründung und der Konkretion des Wissens (Flach 1964a:64). Es ist also nur ein scheinbares Paradoxon, dass das Wissen gleichzeitig absolut und in beson­de­re Philosophien systematisch sich fixiert weiß.

„Aber auch in einem beschränkten Leben kann der Mensch unendlich leben, und auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit, die aus diesem seinem Le­ben für ihn hervorgeht, kann eine unendliche sein." (Hölderlin 3:264)

Das "absolute Wissen" hat sich seinem hegelschen Begriff nach schon in der Fixierung die­sem entschlagen. Die einzelnen philosophischen Systeme können nur Durchgangsstadien der Vernunft darstellen. Wenn daher Feibleman (1960a) Hegel unterstellt, sein eigenes System mit dem Absoluten schlichtweg zu identifizieren, so geht er damit vielleicht einen äußerlichen, ide­ologiekritisch gangbaren Weg, den ja schließlich schon Feuerbach und nach diesem Marx ge­gan­gen sind. Unterschlagen werden dabei allerdings die eigentlichen philosophischen Pro­ble­me, wie z.B. das des Endlichen und Unendlichen, die Hegel hierbei offensichtlich zu lösen such­te. Darin verschlungen ist weiter das Problem der semantischen Ebenen, das insbesondere dar­in besteht, dass bei Hegel in der Philosophie ein Philosophieren über das Philosophieren statt­findet. Übersehen wird dabei auch leicht, dass jede ideologiekritische Enthüllung des Scheins ihrerseits eine Theorie des wesentlich Wahren als gültig voraussetzt.

Das betreffende ideologiekritische wie praktisch-politische Argument hingegen findet sich aber schon bei Marx innerhalb seiner Dissertation in klassischer Form entwickelt.

"Bloß spekulatives Denken, idealistische Philosophie und Metaphysik, sind nicht deshalb Gegenstand von Ideologie-Kritik, weil diese von einem - dem utili­ta­ristischen Pragmatismus eigenen - Primat der Praxis vor aller Theorie ausgin­ge, sondern vor allem deshalb, weil die scheinbar in sich geschlossene gedank­li­che Totalität des philosophischen Systems die wirkliche Welt ihrem Schicksal überläßt, während es die vornehmliche Bestimmung des Denkens wäre, sich an der Realität zu messen." (Lenk 1972a:136)

Während für Hegel die dialektische Vernunft das sich selbst denkende Selbstbewusstsein vor­stellt, ist für Marx der abstraktlogische Prozess nur die Form der Bewegung des Subjekt-Ob­jekt-Verhältnisses, die bewusst gewordene Aneignung dieses Verhältnisses. Da Marx als Mate­ri­alist die Entzweiung in einer Realität außerhalb des Subjekts ansiedeln kann und nicht alles Sein auf Kategorialität reduziert weiß, entgeht er der Versuchung, den Geschichtsprozess in ei­nem starren Schema verenden zu lassen. Denn mit der Veränderung ihrer historisch-gesell­schaft­lichen Grundlage muss sich stets auch der Systematisierungszusammenhang der Totalität ändern.

Die Totalität von Philosophie beruht damit auf der Totalität von menschlicher Praxis: Der mensch­liche Geist umfasst niemals alles. Dennoch muss er jeden Augenblick entscheiden und not­ge­drungen unter der Prämisse handeln, dass sein Wissen total der Situation entspräche;

„und dann sind die Gesetze des unendlichen Zusammenhangs, in dem sich der Mensch mit seiner Sphäre befinden kann, doch immer nur die Bedingun­gen, um jenen Zusammenhang möglich zu machen, und nicht der Zusammen­hang selbst." (Hölderlin 3:262)


[1]) „Das hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt - aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem unheilbaren innern Widerspruch: einerseits hatte es zur wesent­li­chen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Ent­wick­lungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten abso­lu­ten Wahrheit seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbe­griff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes Sy­stem der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des di­alektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, dass die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesen­schrit­te machen kann." (Engels Anti-Dühring:36)

[2]) so wie etwa Feyerabend (1976a). Ihm ging es wohl vor allem darm, eine von sich selbst allzu sehr überzeugte Wissenschaftlichkeit zu therapieren. Und gewiss hat er hiermit recht: Lachen ist ge­sund, oft sogar erlösend!

Wahrheit und Glaube

Vermutlich ist eher das Gegenteil richtig, dass nämlich die objektive Wahrheit eher dem Un­gläubigen zugänglich ist. Ein Problem kann jedoch sein, es den Gläubigen auf eine passende und taktvolle Weise zu sagen, so dass sie dies verstehen und einzusehen mögen bzw. überhaupt zum Verlangen nach Einsicht gelangen. Mitunter wird dabei geschehen, dass der Kritiker auf der­lei Weise seinen eigenen Forschungsgegenstand zerstört. Aus solchen Erwägungen ergibt sich, dass „kritische Theologie" schon in ihrem Beginnen immer eine zerbrechliche Kiste ist, wie wohl Albert (1979a; 1980a) es sich nicht sauer werden ließ, dies bis ins einzelne auch nach­zu­we­isen. Dies wurde Theologen klar, als Anselm v. Canterbury zum Klärungsversuch mit den logi­schen Mitteln des Aristoteles und des Boethius verleitet wurde, was ein christlicher Priester von Amts wegen mit dem Spruch: Dies ist mein Leib!" wirklich aussage (Flasch 1981a:179ff). Wie so oft steht im Hintergrund eines derartigen Explikationsversuchs die verwegene Voraus­set­zung, dass sich hinter einer grammatisch richtig konstruierten Aussage immer auch ein ver­nünf­tiger Sinn verberge.

Sollte die totale Vernunft Gottes aber bei der Omnipotenz menschlicher Vernunft stehen ge­blie­ben sein?! An dieser Stelle hat Hegels Weltgeist den Gott der Theologen aus betriebs­be­ding­ten Gründen gekündigt, d.h. wegrationalisiert [1]), ohne dies jedoch durch eine Änderung der Firmenbezeichnung dem allgemeinen Publikum anzuzeigen. Dies soll heute sehr oft vor­kommen, dass das qualifizierte Personal entlassen wird und dennoch die Firma am Markt wei­terzubestehen hofft, und zwar nur noch aufgrund des guten Rufs, das sich dieses Personal durch seine Servicequalität einstmals erworben hatte. Kurz und gut: Indem Hegel den Geist und Staat vergöttlichte, hat er Gott zur politischen Vernunft verstaatlicht. Die irdische Rolle Gottes hat da­durch seine himmlische erschlagen, gleichsam wie ein Fundi schnellstens seinen Idealen ent­sagen muss, sobald er eine bürokratische Karriere einschlägt. Diese Problemlösung, so originell sie damals erschien, ward allen Seiten bis auf die streitbare Schar der Hegelinge ein Sakrileg, bot einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes von Preußen jedoch nicht geringen Vorteil: Die Einheit von Vernunft, Religion und Staat war damit von vornherein gewährleistet, da grund­legendes Prinzip des Systems. Der Philosoph diente, indem er allein der Vernunft, d.h. seiner Philosophie folgte, damit schon notwendigerweise dem Staatszweck: der unheimliche Philosophenkönig. Er konnte dem Staat geben, was des Staates ist und der Religion, was der Re­ligion ist, und dennoch als Philosoph über Allem schweben.

Popper (1973a:159, Anm.8) warnt, man solle sich hüten, Welt-3-Objekte als Gedanken eines übermenschlichen Bewusstseins zu interpretieren, wie dies Aristoteles, Plotin und Hegel getan hätten. Solange Popper uns jedoch nicht sagen kann, was er unter „Gott" versteht, verstehen wir nicht, was er bei Hegel als „Vergöttlichung" [2]) angreift. Offensichtlich sucht Hegel u. a. eine Alternative zur herkömmlichen Theologie zu liefern; damit ist jedoch noch lange nicht ge­klärt, in welcher Hinsicht seine Philosophie eine Fortsetzung der Theologie darstellt (oder etwa eine Sprengung derselben). Popper begnügt sich mit den wenigen Äu­ße­run­gen Hegels zu seiner Selbstdarstellung [3]), anstatt eine gründlichere Text­interpretation vorzunehmen.



[1]) Zumindest unternahm Bauer (1841a) dies zu zeigen, wobei er zweckmäßigerweise die Un­ter­scheidung zwischen einem exoterischem und esoterischem Hegel einführte (McLellan 1969a:54). „Wo, wie bei Hegel, sich alles von selbst macht, ist eine göttliche Persönlichkeit überflüssig." (En­gels 1973a:217) -"Be­geh­re nicht, Nathanael, Gott anderswo zu finden als überall. Jegliche Kreatur weist hin auf Gott, nicht eine enthüllt ihn. Sobald un­ser Blick auf einer Kreatur verweilt, zieht sie uns ab von Gott." (Gide 1974a:15)

[2]) „Hegel, following Aristotle, rejected the Platonic third world: he conflated thought pro­ces­ses and objects of thought. Thus he disastrously attributed consciousness to the objective mind, and deified it. (See especially the end of Hegel’s Encyclopedia with the very apt quotation from Aristotle’s Metaphysics, 1072b18-30)." (Popper 1973a:154, Anm.2)

[3]) Dies wäre, als wenn man eine Persönlichkeitsbeurteilung allein auf Grundlage der Bewer­bungs­schreiben der betreffenden Person vornehmen würde. Die Arbeiten eines Staatsphilosophen in spe haben indes stets einen derartigen Bewerbungscharakter; das wusste wohl auch Popper.

These der Inkommensurabilität

Von diesem Argument wird Feyerabends (1976a) These der Inkommensurabilität diffe­rie­ren­der kognitiver Systeme insofern nicht getroffen, als er dieses Konzept nur differenziert bei be­stimmten umfassenden Theoriesystemen anwendet, die covert classifications bzw. „Krypto­ty­pen" im Sinne Whorfs (1956a), d.h. entsprechende Wahrnehmungsgewohnheiten erzeugen. Ein lo­gi­scher Gehaltsvergleich zwischen solchen Theorien, Desiderat der Methodologien sowohl von Popper als auch von Lakatos [1]), werde dadurch verunmöglicht:

„Moreover, these standards, which involve a comparison of content classes, are not always applicable. The content classes of certain theories are incom­pa­rable in the sense that none of the usual logical relations (inclusion, exclusion, over­lap) can be said to hold between them. This occurs when we compare myths with science. It also occurs in the most advanced, most general and the­refore most mythological parts of science itself." (Feyerabend 1976a:321)

Feyerabend räumt triviale Arten der Vergleichbarkeit [2]) durchaus ein, besteht aber zurecht auf die Erforschung der Bedingungen, wobei und wodurch Vergleiche hergestellt werden und sich herstellen lassen. Feyerabends (1976a:391) Begriff von Inkommensurabilität" [3]) hebt sich dadurch von dem Kuhns ab, dass er weniger psychologisch und nicht ubiquitär ist noch un­vermeidlich zu Sinnverschiebungen und Zusammenbruch sinnvoller Kommunikation führt. Nie­mand bestreitet, dass sich Sprachen immer lernen und ineinander übersetzen lassen kön­nen. Dennoch können immer begrenzt spezifische Schwierigkeiten auftreten, wie sie Gid­dens (1971a:viii) beispielsweise im Hinblick auf die englische Übersetzung von "Geist" oder "repré­sen­ta­tion collective" vermeldet. Popper und Lakatos benötigen jedoch für ihre Methodologie mehr, um diese auch auf alle intertheoretischen Beziehungen anwenden zu können: eine per­fek­te Über­set­zung. Eine absolut präzise Übersetzung gibt es aber nicht! (Feyerabend 1970a:225; Pop­per 1979a: 27). Für Andersson (1988a:123) reduziert sich das Problem der Inkommensurabilität letztlich dar­auf, solche Prüfsätze aufzufinden, die als unproblematisch zu beurteilen man sich ei­nigen kann. Ob ein solcher Konsens stets erzielt werden kann, ist wohl aber eine offene Fra­ge, die kei­ne Logik oder Methodologie zu beantworten hoffen darf, sondern der wirklichen Kom­muni­ka­tion der Wissenschaftler überlassen bleiben muss.



[1]) „There is no falsification before the emergence of a better theory." (Lakatos 1970a:119)

[2]) z.B. kann eine physikalische Theorie harmonischer klingen als eine konkurrierende, wenn sie mit Gitarrenbegleitung vorgelesen wird

[3]) zuerst eingeführt in 1962a, im gleichen Erscheinungsjahr wie Kuhn. Zur Priorität bzgl. „In­kom­mensurabilität" und einem illustrativen Beispiel siehe Feyerabend (1970a:219f)

Immunisiert der Totalitätsbegriff ein philosophisches System?


„Yet just what is anathema in linguistics is now taken for granted by logical em­pi­ricists, a mythical ‘observation language’ replacing the English of the trans­la­tors. Let us commence field work in this domain also and let us study the lan­gu­age of new theories not in the definition factories of the double language mo­del, but in the company of those metaphysicians, experimenters, theoreticians, playwrights, courtesans, who have constructed new world views!" (Feyerabend 1970a:225)

In Kritik an Adorno wendet sich Spinner dagegen, die Totalitäts-Idee so zu verwenden, dass in­folgedessen das einzelne philosophische System gegen externe Kritik immunisiert wird. Glo­bal gesehen, beinhaltet diese Idee die Vorstellung, die Kritik einer philosophischen Totalität bzw. Weltanschauung sei nur immanent zulässig:

Man müsse sich erst auf den Standpunkt des Systems stellen, um dieses zu verstehen; daher sei erst dann Kritik überhaupt möglich. Also sei vernünftige Kritik immer nur als immanente sinnvoll vorzustellen.

Spinner erkannte hier auf eine „Halbierung des Kritizismus" und taufte dies Prinzip „Ador­no-Kriterium":

„Das Adorno-Kriterium schließt alle logischen Relationen - zum Beispiel die der Deduzierbarkeit, der Ableitbarkeit, des Widerspruchs (!) und der Reduzier­bar­keit - zwischen den fraglichen Begriffen und Theorien prinzipiell aus und als Fol­ge davon jede Möglichkeit des unmittelbaren Vergleichs." (Spinner 1969a: 342, Anm.47)

Man kann jedoch darüber streiten, ob man dasselbe mit vollem Recht nicht auch hätte "Pop­per-Krite­rium" nennen können. Denn Popper entwickelt den vergleichbaren Ge­danken, indem er eine immanente von einer transzendenten Methode der Kritik unter­schei­det und hierbei nur erstere für effektiv hält.

"Eine solche Kritik, die eine Position durch Voraussetzungen bekämpft, die ihr fremd sind (weshalb man eben sagt, dass diese Kritik transzendiert), die einen theoretischen Bau an einem ganz anderen messen will, kann grundsätzlich im­mer ebenso gegen die eine Position gewendet wer­den, wie gegen die andere. Sie ist also für die Diskussion völlig nichtssagend (auch dann, wenn sie recht überzeugend klingt). Ihr gegenüber muss nachdrücklich die Forderung erhoben werden, dass alle erkenntnistheoretische Kritik immanente Kritik sein muss." (Popper 1994b:53f)

In der später erfolgen An­mer­kung hierzu distanziert Popper sich von dieser Ansicht, doch nur halbherzig:

"Darüber bin ich jetzt ganz anderer Ansicht: auch eine transzendente Kritik kann überaus aufschlussreich sein, ob­wohl sie zu einer klaren Widerlegung nie­mals hinreicht." (*1)

Danach scheint Popper hier die Auffas­sung zu vertreten, dass ausschließlich eine immanente Kritik lo­gisch wirksam, d.h. "vernichtend" sein könne. Dies steht wohl in eklatantem Wider­spruch zu seiner Kuhn-Kritik, wonach es immer rationale Entschei­dungs­mög­lichkeiten zwi­schen konkurrierenden Paradigmata gebe.

Über­spitzt gesagt, wäre gemäß dem Adorno-Kriterium eine Kritik einer These erst nach voll­zo­gener Konversion [1]) möglich. Diese Argumentationsfigur ist der abendländischen Theo­lo­gie durch Augustin vertraut.[2]) It’s the same old story. Richtig ist wohl die Überlegung, dass ei­ne Aussage erst hermeneutisch nachvollzogen wer­den muss, bevor sie sinngemäß angewandt und geprüft werden kann (eine Trivialität, der aber Poppers kreativ rekonstruierte Ideenge­schich­te systematisch zuwiderhandelt). Falsch ist, dass Verstehen einen Prozess vollkommenen Identi­fi­kationslernens voraussetzte. Dieser Gedanke ver­mag aber nur Apologeten einzu­leuch­ten. Aller­dings macht das deutlich, was von einer sol­chen Kritik zu erwarten ist, wenn nur Gläu­bige ih­ren eigenen Glauben kritisieren dürfen und dann vielleicht auch die Mittel der Kri­tik aus dem­sel­ben entnehmen sollen, weil sie sonst ex­kommuniziert würden oder schon per De­finition aus dem Kreis der Kritikberechtigten aus­ge­schlossen wären. Der Denkfehler liegt hier wohl darin, zu unterstellen, nur vollzogene Kon­ver­sion erlaube erst erfolgreiche Anwendung her­meneu­ti­scher Verfahren.



[1]) Tatsächlich zeigt der Übergang Feuerbachs ebenso wie Marxens auf Hegels Philosophie psy­chisch alle Anzeichen einer Art „Konversion" oder zumindest einen emotional stressgeladenen „Ge­stalt switch" - der hier jedoch auch einen Karrierebruch implizierte, wie sich den betreffenden Brie­fen der beiden studiosi an ihre respektiven Väter unschwer entnehmen lässt. Feyer­abend (1976a: 317) möchte derlei Erfahrungen keineswegs auf die Kindheitsentwicklung beschränkt sehen: „Der Versuch, die Grenzen eines gegebenen Begriffssystems zu durchbrechen, gehört wesentlich zu sol­chen Forschungen (und sollte auch ein wesentlicher Bestandteil jedes interessanten Lebens sein)." Toulmin (1978a:129) meldet hingegen Zweifel an, ob Konversion das angemessene Erklä­rungs­mu­ster für die sog. „Wissenschaftliche Revolutionen" darstellt. Andersson (1988a:121) weist gegen Feyer­abend daraufhin, dass Gestaltwahrnehmungen keinesfalls letzte unüberschreitbare Gegeben­hei­ten darstellen: „Das gestalt­psy­chologische Modell der Erfahrung ist insofern richtig, als es die Theori­e­abhängigkeit der Erfahrung zeigt. Die Versuche, mit die­sem Modell zu zeigen, dass die Er­fah­run­gen und Prüfsätze mit verschiedenen Paradigmata inkommensurabel seien, sind da­ge­gen misslun­gen, weil Gestaltwahrnehmungen nicht als letzte, unkritisierbare unmittelbare Erfahrungen aufge­fasst werden müs­sen, sondern als kritisierbare implizite Hypothesen behandelt werden kön­nen." Es gebe nicht nur einen Theorienpluralismus, son­dern auch einen Pluralismus von Deutun­gen eines bestimmten vorliegenden Beobachtungsmaterials (122).

[2]) „Der augustinische Weg der Selbsterkenntnis und Wahrheitssuche ist an eine Vorausset­zung geknüpft, die die erste Prämisse des frühmittelalterlichen Den­kens darstellt: Die Wahrheit zeigt sich nur denjenigen als personaler Gott, de­nen der christliche Glaube vollziehbar ist. Glau­bend kann der Mensch seine Wis­sensmöglichkeiten entfalten, und sein Wissen wird ihn in seinem Glauben be­stärken." (Schöpf 1981a:164)

Kann ein philosophisches System alle Probleme lösen?


"Die Wissenschaftslehre hat also absolute Totalität. In ihr führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie ist aber die einzige Wissenschaft, welche vollendet wer­den kann; Vollendung ist demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle an­de­re Wissenschaften sind unendlich, und können nie vollendet werden; denn sie laufen nicht wieder in ihren Grundsatz zurück. Die Wissenschaftslehre hat dies für alle zu beweisen und den Grund davon anzugeben." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:81f)

Kurz geantwortet: NEIN. Weil jedes einzelne System immer nur ein besonderer Teil der ge­samten Philosophie darstellt. Das Verständnis eines besonderen philo­sophischen Systems setzt schlechthin das Verständnis desjenigen Systems vor­aus, in Entgegensetzung zu welchem es ge­bildet wurde. So zum Beispiel der Ma­te­rialismus den Idealismus, der Empirismus den Ratio­na­lismus [1]), etc. Die Fra­gestellung geht zurück auf Fichtes Aufgabenstellung von "Wissen­schafts­lehre":

"1) Wie ist Wissenschaft überhaupt möglich? 2) Sie macht Ansprüche darauf, das auf einen einzigen Grundsatz gebaute menschliche Wissen zu erschöpfen." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschafts­leh­re:80)

Die Sachlage muss differenziert gesehen werden, wie denn Wettersten (1992a) im Fortgang sei­ner Rekonstruktion popperschen Philosophierens auch nicht ver­fehlt, dessen Ansprüche auf sy­stematische Kontinuität in Frage zu stellen und Kom­patibilitäten zu überprüfen.

„I will not appraise Popper’s systematic attempts, since I do not think that he has a system." (Wettersten 1992a:187)

Hierbei wird notwendigerweise unterstellt, dass jedes Philosophieren wenn nicht zu einem voll­endeten System führt, so doch wenigstens systematisch verfährt bzw. in der Gesamttendenz auf ein System angelegt ist.[2]) Denn irgendwie hängt die Lösung eines philosophischen Pro­blems immer mehr oder weniger mit der Lö­sung der anderen zusammen, wenn nicht sogar die Probleme durch die jeweilige Lösung erst geschaffen werden.[3])

Eine solche Systembildung muss jedoch stets mehr oder minder explizit eine An­ti­these vor­aus­setzen, die demnach sich außerhalb des Systems befindet.[4]) Ja, grundsätzlich gilt: Eine be­stimm­te Philosophie wird erst dadurch definiert, wozu sie in Gegensatz tritt. Der philoso­phi­sche Kosmos ist gepflastert mit Antinomien. Einige davon werden durch das jeweilige System explizit berücksichtigt, andere werden erst später bzw. gar nicht gewusst oder können schon aus Gründen sy­stem­logischer Möglichkeit und Unmöglichkeit innerhalb des Systems gar nicht auf­treten. Ein einzelnes philosophisches System kann demnach alle Probleme nur in­so­fern lösen, als es sie gar nicht alle zur Lösung stellt, d.h. einige schon von vorn­herein unter den Tisch fal­len lässt.

Nur wenn Alles Eins ist, d.h. hier: man eine einzelnes System mit dem absoluten Wissen, al­so mit allen denkbaren Systemen identifiziert, könnte man davon spre­chen. Das aber auch nur insofern, wie sich Alles in dem Einen wiederfindet. In die­sem Absoluten würden dann auch alle Gegensätze zusammenfallen, wie es der schauenden Vernunft des Nikolaus v. Kues [5]) mög­lich schien (Otto 1981a:250ff). Da aber unsere Argumentation hierbei ständig umkippt, ist wohl zu vermuten, dass wir hiermit insgeheim festen Platz auf einer theologischen Kippschaukel be­zogen haben, die uns in der Weisheitsliebe nicht einen Millimeter von der Stelle bringt.

Kritik am hegelschen System fällt insofern leicht, wenn es sich aus der Ent­täu­schung speist, dass es nicht das absolute Wissen sei, das es zu liefern zu ver­hei­ßen schien. Wenn jedoch ein­mal feststeht, dass absolutes Wissen nicht zu haben ist, so ist aber an Stelle des einfachen Zu­rückweisens des hegelschen Systems, die ungleich schwierigere Aufgabe gestellt, nachzu­weisen, worin es schlechter als ein anderes oder überhaupt kein System ist.



[1]) Bacon hat diesen Gegensatz, den gerade Kant sehr beschäftigt hat, sehr treffend in folgen­dem Bild ge­zeich­net: Rationalisten sind Spinnen, die ihr Netz aus sich selbst verfertigen; Empiri­sten sammelnde Ameisen; op­ti­mal verfährt jedoch die Biene: sie sammelt und verarbeitet (Krohn 1981a:271f).

[2]) "Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grund­satze zuammen und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen - auch dieses gesteht man all­gemein zu." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:15)

[3]) "Diese im strengen Sinne grundsätzlichen philosophisch-erkenntnistheoretischen Probleme des wissenschaft­li­chen Theoretisierens bilden ein eng verknüpftes Problemfeld, so dass isolierte Lö­­sungen der einzelnen Pro­ble­me und deren beliebige Kombination zu einer Gesamtkonzeption von Erkenntnis und Wissenschaft weitgehend aus­geschlossen sind." (Spinner 1974a:135) - „Aber das Ende der Ansprüche der Philosophie, in einem beliebigen System alle Probleme zu lösen, be­deu­tet noch nicht, dass die Philosophie nicht das Merkmal der Systematisiertheit be­sitzt. Sonst ist sie ein­fach kein Wis­sen oder stellt kein selbständiges Gebiet dar." (Kopnin 1978a:100)

[4]) "Da dieser Satz, dass alles menschliche Wissen nur ein einziges, in sich selbst zusammen­hän­gendes Wissen ausmache, selbst ein Bestandteil des menschlichen Wissens sein müsste, so könn­te er sich auf nichts Anderes gründen, als auf den als Grundsatz alles menschlichen Wissens aufgestellten Satz, und nirgendsher bewiesen werden, als aus demselben. Hierdurch wäre nun, vor derhand wenigstens, soviel gewonnen, dass ein anderer etwa einmal zum menschlichen Bewuss­sein gelangender Grundsatz nicht bloß ein anderer, und von dem aufgestellten Grundsatze ver­schie­de­ner, sondern auch ein demselben der Form nach widersprechender sein müsste. Denn unter der obigen Voraussetzung müsste im aufgestellten Grundsatze der Satz enthalten sein: im mensch­li­chen Wissen ist ein einiges System. Jeder Satz nun, der nicht zu diesem einigen Systeme gehören sollte, wäre von diesem Systeme nicht bloß verschieden, sondern widerspräche ihm sogar, inwie­fern jenes System das einige mögliche sein sollte, schon durch sein bloßes Dasein geradezu. Er wi­derspräche jenem abgeleiteten Satze der Einigkeit des Systems; und - da alle Sätze jenes Systems un­ter sich unzertrennlich zusammenhängen, wenn irgend einer wahr ist, notwendig alle wahr, wenn irgend einer falsch ist, notwendig alle falsch sein sollen, - einem jeden Satze des­sel­ben, und insbesondere auch dem Grundsatze. Vorausgesetzt, dass auch dieser fremde Satz auf die oben be­schriebene Weise systematisch im Bewusstsein begründet wäre, so müsste das System, zu welchem er gehörte, um des bloss formellen Widerspruchs seines Daseins willen, dem ganzen er­sten Sy­ste­me auch materialiter widersprechen, und auf einem dem ersten Grundsatze geradezu ent­gegenge­setzten Grundsatze beruhen; so dass, wenn der erstere z.B. der wäre: Ich bin Ich, - der zwe­ite sein müsste: Ich bin nicht Ich." (Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre:49f)

[5]) geboren 1401 als Sohn des Moselschiffers und Winzers Johann Cryffz, gestorben 1464 in To­di (Italien). Zur 600-Jahr-Feier wird in Bernkastel-Kues ein Symposion durchgeführt. In seinem Geburtshaus ist ein Museum eingerichtet; an der Universität Trier ein Institut, ein Studiengang so­wie eine alljährliche Cusanus Lecture.

Die Anarchie der philosophischen Systeme

Ohne Chaos keine Erkenntnis (Feyerabend 1976a:250). „Chaos[1]) setzt den Begriff der „Ord­nung“ voraus, worauf Schelling (5) aufmerksam macht. Wir können auch schon psy­chisch nicht anders, als immer wieder uns neu zu orientieren, wenn Unordnung pro­du­ziert wurde:

“the increased disorientation prompts new efforts at conceptual mapping.” (Gouldner 1971a:83)

Wie Popper (1994b: 313) in seiner Kritik an Wittgenstein hervorhob, führt die Annahme ei­ner unverbundenen Welt atomarer Sachverhalte für ein nomologisches Erkenntnisinteresse zu ab­sur­den Konsequenzen. Derlei Beispiele dürften klar machen: Es kann stets nur darum gehen, ei­ne brauchbare Synthese zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Anarchie und Selbstre­gu­lie­rung anzugeben.

„Choice is inherent in chaos. Even in a random set, some things will happen mo­re than others; some things will become prominent.” (Phillips 1994a)

Spätestens an dieser Stelle hier erscheinen mir unter diesem Gesichtspunkt eini­ge Gedanken zum prinzipiellen Verhältnis philosophischer Systeme untereinander angebracht, welches Pro­blem oft unter dem Titel„Anarchie der philosophischen Sy­steme“ abgehandelt wurde:

„in der Philosophie aber erlebten wir das Schauspiel (das auf Menschen wis­sen­schaftlicher Gesinnung niederdrückend wirken muss), dass nacheinander und nebeneinander eine Vielzahl philosophischer Systeme errichtet wurde, die mit­einander unvereinbar sind.“ (Carnap 1998a:XIV).

Die Anarchie der philosophischen Systeme hat indessen bereits Kröner (1970a) als eine nur scheinbare erwiesen. Denn dieselbe wird durch die besondere Betrach­tungsweise der Syste­ma­to­logie in einen Kosmos verwandelt. Systematologisch be­trachtet, weist die philosophische Ent­wicklung eine feststellbare, theoretisch be­schreibbare Ordnung auf. Die Geschichte der Phi­lo­sophie, diese „3000-year-old- conversation“ (Rosenberg 1990a), ist dement­spre­chend durch sy­ste­matologische Ei­genschaften gekennzeichnet, die uns gleichermaßen als kenn­zeichnende Cha­rakte­ristika von „Philosophie“ dienen können. Philosophie ist somit alles, was dieser Ord­­nung in der Unordnung angehört.

1. Es gibt nur eine Philosophie, jedoch in historisch bedingt unterschiedlicher Ei­gen­tüm­lich­keit.

2. Philosophische Systeme weisen eine antinomische Grundstruktur [2]) auf:
Die Anatomie der Philosophie sind ihre Antinomien.

3. Kein einzelnes philosophisches System kann alles umfassen bzw. alle Pro­bleme lösen.

4. Philosophie wird am wirksamsten durch Philosophie kritisiert.

5. Jeder Geschichte philosophischen Denkens liegt mindestens 1 Antinomie zu­grunde.

Diese Bestimmungen wurden vor allem auch durch Hegels Leistung freigelegt und sind daher auch insbesondere für die Beurteilung seines Systementwurfs von nicht zu unterschätzender Be­deutung. Es tritt hier auch klar zutage, dass die an­dauernde Aktualität Hegels vorrangig in der Bewältigung und Verarbeitung der Ge­schichte der Philosophie gründet (Windelband 1976a: 526ff). Jede einzelne Philo­so­phie ist die einzigartige Verwirklichung der Philosophie:

„Das wahre Eigentümliche einer Philosophie ist die interessante Individualität, in welcher die Vernunft aus dem Bauzeug eines besondern Zeitalters sich eine Gestalt organisiert hat; die besondre spekulative Vernunft findet darin Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch; sie schaut sich in ihm als ein und das­sel­be und als ein anderes lebendiges Wesen an. Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich.“(Hegel 1962a: 12)

Die einfachste Lösung des Problems der Anarchie der Philosophie bestünde frei­lich darin, dass sich eine bestimmte Philosophie als die einzig wahre und allumfas­sen­de nachweisen oder wenigstens plausibel machen ließe. So war Reinhold okku­piert von der Idee einer in sich selbst einsichtigen, weder eines Beweises fähigen noch einer Begründung bedürftigen Ele­men­tar- und Fundamentalphilosophie, die auf eine ganz neue Weise Logik und Metaphysik, Denk- und We­senslehre zugleich sein sollte (Klemmt 1961a:98).

Ganz anders Hegel. Wenn die Philosophie mit der Erkenntnis des Absoluten be­fasst ist, jede einzelne Philosophie eine besondere Form der Erkenntnis des Abso­lu­ten ist, so ist auch jede ein­zelne Philosophie absolute Erkenntnis.

„Wenn aber das Absolute wie seine Erscheinung, die Vernunft ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist, so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst ge­richtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie produziert und sich die Auf­gabe gelöst, welche wie ihre Auflösung zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst er kennt, es nur mit sich zu tun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Tätigkeit, und in Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger und Nachgänger.“ (Hegel 1962a:10)

Hegel vollbringt diesen Klimmzug der einen absolut wahren Philosophie allein da­durch, dass er alle und eine Philosophie gleichsetzt. Das Verhältnis von Unendli­chem und Endlichem herrscht damit auch zwi­schen der absoluten Philosophie und den einzelnen, von sterblichen Phi­losophen konstruierten Systemen.

„Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie im Gan­­zen ihres Systems an seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das unpoetische, weil es zur rechten Zeit und am rech­ten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hie­zu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brau­chen, wenn du noch scheu darüber ver­weilst, und nicht weist, wie an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Hei­terkeit, ist Got­tes­freude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es ge­hört; deswe­gen ohne Verstand, oder ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.“ (Hölderlin 3:244)

Da er mit diesem grundlegenden Schachzug alle Philosophien, auch die seiner Kri­ti­ker und al­les, was noch nach seinem Tode wird kommen können, in sein Sy­stem (zumindest auf diese ab­strak­te Weise) integriert sieht, hat er damit scheinbar bereits alle bestehende und künftige Kri­tik dar­in „verdaut“. Deswegen ist Hegel aber noch kein philosophisches Wundertier oder Mon­ster. Er vollzieht auf eine viel­leicht etwas undurchsichtigere, so man will anspruchsvollere Weise das­selbe Ma­nö­ver, welches einem Popperianer spätestens dann als letztes einfällt, wenn er nichts mehr hat, seine Position zu retten: Bin ich nicht Falli­bilist, sage ich nicht im­mer, dass Irren menschlich ist?! So ersäuft denn auch Hegel alles Wissen und Nicht­wissen wie eine Kat­ze, der man den Strick um den Hals gehängt hat, in dem Ozean des Absoluten.

Für einen Allwissenden sind eigentlich aber keine theoretischen Begriffe mehr not­wendig (vor­ausset­zungs­gemäß weiß er ja alles, daher schon jedes Einzelne!). Dass wir alles wis­sen, ist aber eine schon im Denken schwer vollziehbare, mit­nich­ten aber eine reale Voraus­set­zung - dies geben mittlerweile sogar schon viele neoklassische Ökonomen zu! Wir wollen da­her das Absolute lie­ber wieder zur Sei­te legen und uns in gewohnter Weise auf der irdischen Er­de unter un­se­ren sterbli­chen Zeitgenossen bewegen, wofür wir uns als Nicht-Theologen ja im Allge­mei­nen am meisten erwärmen und wofür wir auch im Übrigen, wie uns die Evoluti­ons­the­oretiker be­rich­ten, am zweckmäßigsten ausgestattet sind. In Anbetracht unserer be­­­messenen Kräf­te dür­fen wir in dieser unserer Biosphäre dann getrost die Annah­me zugrunde legen:

Ein einzelnes absolutes System ist aus sachlichen Gründen undurchführbar und un­möglich.

Kröner (1970a:10ff) weist dies an unterschiedlichen Typen von Philosophien im Einzelnen nach:

a) die naiv-absolutistischen Philosophien: Sie erklären sich schlicht allein für wahr und al­le anderen für falsch. Es wird dann möglich, von einem solchen System aus in bestimm­ter Weise den „Fehler“ anzugeben, den eine andere Philosophie gemacht hat. Natürlich ist ein solcher „Fehler“ ganz und gar re­lativ, wird in ihm doch einfach der Punkt getrof­fen, worin sich das kritisierte System vom an­geblich absoluten unterscheidet. Des einen Vernunft ist des andern Wahnsinn (Feyerabend 1975a:305).

b) Integration des Kritikers: Man kann versuchen, mit widerstreitenden Auffas­sungen da­durch fertig zu werden, dass man sie auf einer untergeordneten Ebe­ne als berechtigt an­er­kennt. Damit werden sie auf dieser Ebene in das ei­gene System integriert. Diese Strate­gie läuft aber letztendlich darauf hin­aus, dass man den Zwist mit dem Nachbarn nur eben dadurch loswird, indem ihn ins eigene Haus [3]) trägt.

c) Konvergenz-These: Es wird unterstellt, dass sich innerhalb der Entwicklung der Philo­so­phie lang­fristig eine Konvergenz der bislang divergenten Ansich­ten sich herausbildet. So wie es jedoch sach­lich unmöglich ist, dass sich zwei bestimmte Philosophien in allen Punk­ten wi­dersprechen, so ist es im­mer möglich, auch Gemeinsamkeiten beider aufzu­finden. Ein Ent­wick­lungs­trend lässt sich da­durch nicht begründen, vielmehr das Gegen­teil.

d) Perspektivismus: Jede Philosophie stelle gewissermaßen eine Perspektive des Wahren dar. Die ver­schiedenen Philosophien werden dabei auf eine nur formale Weise zur Ein­heit ge­bracht. Die Beziehungen der Systeme zueinan­der sind jedoch nicht nur solche ei­nes bloß äußer­lichen Unterschieds, eines Neben- oder Außereinanders, sondern auch ei­nes Gegen- und In­ein­anders. Durch den Aspektbegriff allein sind solche Beziehungen nicht zu fassen.




[1]) "... ein Chaos ohne alle Einheit und Ordnung: Es geht alles durcheinander wie Mäuse­dreck und Koriander." (Hegel Aufsätze:45)

[2]) "Wenn auch die höchste philosophische Erscheinung der letzten Zeit die fixe Polarität des Innerhalb und Au­ßerhalb, Diesseits und Jenseits nicht so weit überwunden hat, dass nicht eine an­dere Philosophie, mit der man sich im Wissen dem Absoluten nur nähert, und eine andere, die im Absoluten selbst ist (gesetzt, die letztere wer­de auch nur unter dem Titel des Glau­bens statuiert), als entgegengesetzte zurückblieben, und wenn auf diese Art dem Gegensatze des Dualismus seine höch­ste Abstraktion gegeben und die Philosophie damit nicht aus der Sphä­re unserer Reflexions­kul­tur herausgeführt worden ist, so ist schon die Form der höchsten Abstraktion des Ge­gen­satzes von der größten Wichtigkeit und von diesem schärfsten Ex­trem der Übergang zur echten Philo­so­phie um so leichter, weil die Idee des Absoluten, die aufgestellt wird, eigentlich selbst schon den Ge­­gensatz, den die Form einer Idee, eines Sollens, einer unendlichen Forderung mit sich führt, ver­­wirft. Es ist nicht zu überse­hen, wie sehr durch die mannigfaltige Bearbeitung, welche der Ge­gen­satz überhaupt, den jede Philosophie überwinden will, dadurch erfahren hat, dass gegen eine Form desselben, in der er in einer Philosophie herrschend war, sich eine folgende Philosophie rich­tete und sie überwand, wenn sie schon bewusstlos wieder in eine andere Form desselben zu­rück­fiel, das Studium der Philosophie überhaupt gewonnen hat, zugleich aber, in welcher Mannig­faltig­keit der Formen sie sich herumzuwerfen fähig ist." (Hegel Aufsätze:18)

[3]) Diese Beschreibung kennzeichnet m.E. die Problemsituation des Marxismus gut, dessen Vor- wie Nachteile gerade auf seiner Hybridisierung teilweise divergierender Theorien beruhen. Die­se Integration erweist sich prak­tisch immer nur fallweise als auf Zeit geglückt vollzogen. Kon­sistenz wurde meist nur durch Dogmatisierung ei­ner ausgewählten Problemlösung hergestellt, ging aber dann regelmäßig zulasten einer fruchtbaren Weiter­entwick­lung derselben. Im Vergleich zur historischen Wirklichkeit ist die Rekonstruktion von Burawoy (1990a) (à la Lakatos) schon eine Über­zeichnung in Richtung einer law and order-Darstellung.

Wie kann eine bestimmte Philosophie evaluiert werden?


Darauf berief sich schon Engels (1970a): The proof of the pudding is in the eating. Wirk­lich­­keit und Wahrheit einer Philosophie liegen in ihren praktischen Anwendbarkeit. Dieser Ve­r­weis auf in­dustrielle Anwendung geht einen großen Schritt über Chur­chills Argument der ma­schi­nel­len Prüfbarkeit von Theorien hinaus, welches Popper (1973a:43) als erkenntnisthe­or­eti­sche Idee ge­feiert hat. Worin besteht aber die be­son­dere erkenntnistheoretische Leistung einer ma­schinellen Prüfung? Diese ver­mag im Idealfall einen beherrschten technischen Prozess [1]) zu liefern, wel­cher ein objektives, d.h. intersubjektiv reproduzierbares Modell der Metamor­pho­sen ei­ner Sub­jekt/Objekt-Dialek­tik darstellt.

Demgegenüber unterstreicht Popper:

„no theory of knowledge should attempt to explain why we are successful in our attempts to explain things” (Popper 1973a:23)

Folglich stellt Zahar (1998a:110) anscheinend zurecht heraus, dass für Popper we­der Beobach­tung [2]) noch technologische Anwendbarkeit ein geltungsfähiges erkenntnistheoretisches Ar­gu­ment darstellen. Daraus folgert er:

„Thus sustained technological progress becomes an ongoing miracle.”

Denn Logik sei so konstruiert, dass innerhalb derselben nur Aussagen begründen oder wider­legen können. Beobachtungen oder andere nichtlogische Entitäten können in solchem Sinne kei­nerlei logische und somit keine erkenntnistheoretische Dignität beanspruchen. Zahar (1998a: 110ff) zieht daraus die Konsequenz: er geht dazu über, Popper phänomenologisch zu ergänzen. Ob dies jedoch unbedingt erforderlich, erscheint mir doch sehr fragwürdig zu sein. Poppers (1973a:146ff) 3-Welten-Theorie kann als ein erkenntnistheoretischer Lösungsversuch genau desselben Problems interpretiert werden.

„Trotz jeder künftigen Systematisierung ist die Struktur der Metaphysik keine wis­senschaftliche, apo­dik­tische, sondern eine dialektische, im sokratischen und aristotelischen Sinne dieses Wortes. Es han­delt sich nicht, wie im modernen Ge­brauch oder Missbrauch der Dialektik, um einen Prozess, der durch die Hin­dernisse hindurch notwendig zu seinem Ende führt, sondern um eine offene und ständig offen ge­haltene Struktur: diejenige eines Dialogs ohne Schluss, wie in den sogenannten kleinen sokratischen Dialogen Platons oder wie in der Tra­gö­die, deren theoretische Übertragung die aristotelische Lehre der Aporie zu sein scheint.“ (Aubenque 1961a:324)



[1]) wie z. B. in der Programmierung eines expert system (Barr, Feigenbaum 1981a:9)

[2]) "So ist die Beobachtung eine problemgesteuerte Handlung; eine Handlung, die von einer zusammenhän­gen­den Struktur von Erwartungen gesteuert wird (von einem 'Erwartungs­hori­zont'...)." (Popper 1979a:68)

Ist eine wissenschaftliche Philosophie möglich?


„... wer mag, kann in der Kritik auch nichts weiter als das ewig sich wälzende Rad, das jeden Augenblick eine Gestalt, welche die Welle oben hinauf trug, hin­un­terzieht, erblicken, - es sei, dass er, auf der breiten Base des gesunden Men­schen­verstandes ruhend, seiner selbst sicher, nur an diesem objektiven Schau­spiel des Erscheinens und Verschwindens sich weidet und aus ihm selbst sich noch mehr Trost und Befestigung für seine Entfernung von der Philosophie holt, indem er a priori durch Induktion die Philosophie, an welcher das Be­schränkte scheitert, auch für eine Beschränktheit ansieht, - oder dass er mit in­niger und neugieriger Teilnahme das Kommen und Gehen der aufschießenden Formen bewundernd und mit vieler Bemühung aufgreift, dann mit klugen Au­gen ihrem Verschwinden zu­sieht und schwindelnd sich forttreiben lässt.“ (Hegel, Aufsätze:24)

Es würden nun aber Poppers Attacken auf Hegel völlig unverständlich, wenn es für ihn keine philosophische Wahrheit gäbe. Stritt er gegen ihn etwa um Glaubens­fra­gen?!

„Die Vernunft ist die Regel, der Glaube die Ausnahme von der Regel. Selbst in der besten Harmonie ist daher eine Kollision zwischen beiden unvermeidlich, denn die Spezialität des Glaubens und die Universalität der Vernunft decken sich nicht vollkommen, sondern es bleibt ein Überschuss von freier Vernunft, wel­cher für sich selbst, im Widerspruch mit der an die Basis des Glaubens ge­bun­denen Vernunft, wenigstens in besonderen Momenten, empfunden wird. So wird die Differenz zwischen Glauben und Vernunft selbst zu einer psycho­lo­gi­schen Tatsache." (Feuerbach 1976a:11)

Feuerbach hält die Differenz von Glaube und Vernunft zu recht für eine real er­fahr­­ba­re psy­chische Möglichkeit. Ihr verdankt sich Aufklärung. Aufklärung ist aber kein All­zweck­rei­niger, der Aberglaube [1]) raus und Vernunft rein zwingt. Das Ziel der Mündigkeit schließt nicht die Ge­fahr der psychischen Beschädigung auf dem Wege dahin aus. Brauchen wir vielleicht, wie Hinrichs (1999a:151) fragt, unsere in­tellektuelle Beschränktheit, um bei Trost zu bleiben? Aber: Schon der Mythos ent­hält aufklärerische Momente, wie auch Auf­klä­rung nie dagegen gefeit ist, in einen Mythos neuesten Designs umzuschlagen (Horkheimer, Adorno 1998a:18).

Auf das Problem des Mythos hatte sich damals Schelling geworfen. So steht es schon 1796 in „Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ [2]), von Hegels Hand überliefert, zu dessen Auto­renkreis zum größten Teil Schelling und nicht zuletzt wohl auch Hölderlin rech­nen dürften. In­wiefern überschreitet so ver­stan­dene Mythologie [3]) die Grenzen des Rationa­len? Ist sol­chem philosophischen Trachten, vielleicht in Anbetracht der demagogischen Erfolge tota­li­tä­rer Ideologi­en, nachzueifern oder zu konkurrieren? Sehen Leute wie Hegel oder Popper die Welt voreingenommener Weise durch eine rationalistische Brille? Die Welt ist ein logisch auf­lösbares Rätsel - alles andere ist nicht (worüber ich nicht rational reden kann, davon muss ich schwei­gen). Für die Gegenposition ist das Wesentliche nicht rational erfassbar. Dieser Wi­derspruch lässt sich niemals definitiv lösen, sondern muss für immer eine offene Wunde der Phi­losophie blei­ben. Für Feyerabend aber ist nicht einmal die Differenz von Wis­senschaft und Mythos gesichert. [4])

Rational widerlegen lässt sich nur der, wer rationale Argumente annimmt, also sich auf den Bo­den rationaler Argumentation stellt und vor allem intersubjektive Kri­terien der Wahrheit ak­zeptiert:

„Der Wahrheitsbegriff ist für den hier entwickelten Kritizismus unentbehrlich. Was wir kritisieren, das ist der Wahrheitsanspruch.“ (Popper 1969b:116)

Immunisierung ist aber erzwungener Konformismus durch Nichtzulassen von Al­ter­nativen (Fey­erabend 1976a:57).

Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Mythologen wie Schelling Philosophie er­setzen durch Re­ligi­o­sität oder andere Arten von Subjektivismen. Man kann die­ses Pro­blem jedoch kei­nesfalls durch eine Definition von „Philosophie“ lösen, weil dies nur zu einer Vor­herrschaft des jeweils persönlich bevorzugten Dogmatismus führen würde. Auch auf der Grundlage des Kri­tischen Rationalismus kann man zu­mindest dies Ergebnis festhalten: Eine Philosophie ist nicht erschöpfend zu wider­legen, werde sie aufgefasst als eine konkrete Totalität im Sinne He­gels oder aber als ein historisches Individuum mit unendlich vielen Facetten analytischer In­ten­si­tät und Beziehungsmöglichkeiten (Weber).

Uns geht es wie Euthyphron in seinem Dialog mit Sokrates:

„Aber ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich denke. Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben.“ (Platon:53)



[1]) "Aberglaube ist der Hang, in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Ver­trauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt - es sei im Phy­si­schen oder Moralischen." (Kant XI:335, Anm.*)

[2]) „- wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ide­en stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. my­tho­logisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie ver­nünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufge­klärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Ein­heit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Prie­stern. Dann erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Ein­zelnen sowohl als aller Individuen: Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht all­ge­meine Freiheit und Gleichheit der Geister! - Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muss die­se neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Mensch­heit sein." (Höl­derlin 3:621ff)

[3]) „Der Mythos muss verstanden werden als wirkliches religiöses Geschehen, als Werden der Gottes-Erkennt­nis. Weder Mythos noch Offenbarung sind rein-rational verstehbar oder gar be­weis­bar. Nicht um sie kritisch zu behandeln, wohl aber um kritisch zu beweisen, dass die kritisch-ra­tionale Methode ihre unüberschreitbare Gren­ze hat, führt Schelling in den umfangreichen Einlei­tungen diese ‘negative Philosophie’ aus." (Hildebrandt 1961a:25)

[4]) „Thus science is much closer to myth than a scientific philosophy is prepared to admit. It is one of the many forms of thought that have been developed by man, and not necessarily the best. It is conspicuous, noisy, and im­pudent, but it is inherently superior only for those who have alrea­dy decided in favour of a certain ideology, or who have accepted it without having ever examined its advantages and its limits. And as the accepting and re­jec­ting of ideologies should be left to the individual it follows that the separation of state and church must be supp­lemented by the sepa­ra­ti­on of state and science, that most recent, most aggressive, and most dogmatic religious institution. Such a separation may be our only chance to achieve a humanity we are capable of, but have never fully realised." (Feyerabend 1976a:395)

Globalisierung und die Kommunen

Die Ubiquität des Globalismus [1]), insbesondere als kognitives Schema,zu bezeugen, könn­ten wir Schlimmeres tun, als zum Jahreswechsel 1998/99 dem Oberbürgermeister of the home town of Karl Marx, Mr. Schröer [2]) zu lauschen. Trier liegt nämlich ganz im Trend so­wohl der Republik wie des gesamten „globalen Dorfes". Die kommunale Selbstverwaltung (Müller 1966a) war einstens das Geschenk der preußischen Modernisierungsstrategen bzw. pie­ce-meal-Ingenieure wie v. Stein, Hardenberg oder auch Hegel an die vielen regionalen Split­ter Deutsch­lands, das damals Preußen dargestellt hat. Auch zum Ende des Jahrtausends war wieder ein­mal große Rede von der Notwendigkeit der Strukturanpassung von Staat und Bü­ro­kratie. Ein­mal wie­der gab es Volksvertreter, die sich ggf. fragten bzw. fragen lassen mussten, wen sie wie ver­treten sollen. Durch den Druck der leeren Kassen bei zunehmenden Verwaltungserfor­der­nissen, die an ein regionales Oberzentrum gestellt werden, zweifeln jedoch die demokratisch gewähl­ten Volksvertreter im Trie­rer Stadt­rat [3]) immer mehr an ihrem Daseinszweck.

„Heute ist das einstige Königsrecht der Abgeordneten zumindest in einer Stadt wie Trier zu einer Ab­nick-Arie verkommen, zum puren Vollzug von Sach­zwän­gen." (Lintz 1999a)

Wie in einer Nussschale wird da deutlich: Finanzielle Probleme haben ihre strukturelle Ur­sa­chen. Strukturen sind jedoch immer auch gemacht, zum Teil von interessierter Seite so ge­wollt, oft aber auch nur Ausfluss unbeabsichtigter Nebenwirkungen von Politik. Im Zeichen der Glo­ba­lisierung erleben wir den Wettbewerb der Kommunen und Stadtregionen [4]). Die Stadt ist nicht mehr ein Ort, wo Menschen sich treffen und leben, sondern vorrangig ein an­gebotspoliti­sches Instrument, die Wirtschaftskraft der Region [5]) zu stärken. In ent­sprechen­der Weise wur­de aus der liberalen Mini-Idee eines Minimalstaates in unserer heutigen politi­schen Realität das praktische Programm eines angebotspolitischen Wirtschaftsförderungs- bzw. Subventionsbe­trugs­staates [6]) ("crony capitalism"), dessen sozialreaktionäre Vorkämpfer und Förderer beim Wohl­fahrtsstaat (Offe 1998a) ebenso bereits die Grenze zum Sozialismus überschritten wähnen wie bei der weltweiten Abschaffung von Kinderarbeit. Alle wollen sich bereichern und drän­gen dadurch zur Unge­rech­tig­keit. Der Staat, angeblich geschaffen, dem abzuhelfen, soll wirt­schafts­freundlich sein, wird jedoch gerade dadurch zum ungerechten Staat.

Auf der richtigen Gewichtung beruht also der Vorteil der Realpolitik! Näheres nachzulesen bei Machiavelli (1977a). Dazu gilt: Der Staat in seiner Gesetzeskraft dient der moralischen Be­stimmung (Batscha 1977a:26), wie man sich bei jedem Klein-, Mittel- und Großunternehmen über­zeugen kann.

„But now that we are all on our own, that we are not our brothers' and sisters' keepers, we've changed the subject. The problem of reducing poverty has been redefined into the problem of reducing welfare rolls. Now that's not really a hard problem. You just cut people off and throw them on the street. It's ama­zing it took them so long to figure it out." (Faux 1998a)

Ordnungs- wie Sozial- und Umweltpolitik sollen Leistungsanreize richtig setzen. Richtig. Es werden meist jedoch zu gerne unterschiedliche Maßstäbe [7]) angelegt je nach dem, ob etwas in die eigene Tasche hineinkommt und aus derselben hinausgeht.[8]) Die Wirtschaft verkommt da­bei immer mehr zu einem staatlich subventionierten Hochleistungssport, dem ein immer grö­ßer und zynischer werdendes Publikum nur noch zuschaut. Olympische Idee und Staats­lot­terie ha­ben ausgedient; die Bundesligatabelle wird funktional äquivalent ersetzt durch DAX und dow jones.

Globalisierung - das ist zum einen das Schlagwort für eine neue internationale Arbeitsteilung (Obst 1998a), gekennzeichnet durch eine globale Öffnung der Märkte („global sourcing") und ei­nem entsprechenden Rückgang nationaler politischer Eingriffs- und Gestaltungs­möglichkei­ten.



[1]) "Doch da stellt in der Koalition eine Art Gesinnungsgemeinschaft aus Kommunisten, links­katholischen Christdemokraten und Gewerkschaftlern fest, dass das Herz immer noch links schlägt. Und so soll es bleiben, versprechen sie treuherzig, mögen sich die ökonomischen Naturge­setze tunlichst danach rich­ten. Das kann nicht gut gehen, weder in Italien noch anderswo." (Fi­scher 1999b)

[2]) „Die ‘Globalisierung’, ein viel verwandter Begriff zur Kennzeichnung unserer weltumfas­sen­den Vernetzun­gen, hat für uns alle merkliche Auswirkungen. Das gilt auch für die Kommunalpo­litik ’vor Ort’: Da unterhalten ehemals renommierte heimische Firmen in Trier nur noch ‘Zentralen’ - produziert wird irgendwo sonst in der Welt zu günstigen Preisen. Da brechen in Trier Märkte weg, weil andernorts in der Welt wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten kein Bedarf mehr an den hier er­zeugten Pro­duk­ten besteht. Mehr und mehr werden die Entscheidungen des Marktes global ge­troffen. Die Idee und Verpflichtungen einer ‘sozialen’ Marktwirtschaft weichen dem reinen Wett­be­werb. Soziale Schäden aber treffen die Menschen in der Stadt ‘vor Ort’, auch bei uns. In dieser Si­tuation wäre es jedoch kein zukunftsträchtiger Gedanke, die Globalisierung am Ende des zweiten Jahrtausends rückgängig zu machen. Wir müssen im Gegenteil die Herausforderungen, die durch die Globalisierung entstehen, annehmen und aktiv die Voraussetzungen für unsere Wettbewerbs­fä­higkeit verbessern. Dabei stellt sich immer drängender die Frage, ob und wie wir als Stadt für die Menschen in dieser Zeit Haltepunkte, Werte und Orientierung anbieten können. Ich bin sicher: Wir haben im Zeitalter der Globalisierung durchaus die Chance, durch solidarisches Miteinander Verankerung und Sicherheit zu vermitteln. Werte, die global in Unordnung geraten sind, können in unserer unmittelbaren Umgebung - in unserer Heimat - wieder neu zu einem ordnungspolitischen Gerüst aufgebaut werden." (RZ 22.12.98:3)

[3]) Der „Trierische Volksfreund" (28.011999) titelt zu den städtischen Haushaltsberatungen: „Wenn Hase und Igel im Stadtrat laufen - Immer mehr Ratsmitglieder zweifeln an ihren Mitwir­kungs­mög­lich­kei­ten - Viel Arbeit und wenig Einfluss": „Die angegriffene Gemütslage der Kom­mu­nalpolitiker hat zwei ganz unterschiedliche Ursachen. Die eine liegt in der allgemein miesen Finanzlage, die kaum mehr Spielraum für Ideen lässt. Es gibt aber auch ein ‘hausge­mach­tes’ Problem, und das hängt mit der neu­en Haushaltsstruktur, der ‘Budgetierung’ zusammen. Als sie vor we­ni­gen Jahren eingeführt wurde, hat­te man den Ratsmitgliedern den Mund wässrig gemacht: Jetzt werde alles durchschaubarer, es ge­be neue, ungeahnte Mitwir­kungs­mög­lichkeiten. Die Praxis sah dann an­ders aus. Schon im Früh­jahr werden heute in einem Eckwertebeschluss die Korsettstangen des Haushalts eingezogen. Da­bei domi­niert die Verwaltung mit ihrem immensen Informations­vor­sprung. Und wenn es dann am Jahresende in die de­tail­lierten Haushaltsverhandlungen geht, fühlen sich viele Ratsmitglieder wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel: Wann immer sie etwas vor­schla­gen, ist die Verwaltung schon da und erklärt, warum es nicht geht. Suchen die Dezer­nen­ten selbst nach Finanzie­rungs­mög­lichkeiten in ihren Budgets, werden sie fast stets fündig."

[4]) "Vor diesem Hintergrund wird von der neueren Regionalpolitik eine Neubewertung regio­na­ler Wirtschafts­zu­sam­menhänge gefordert, in der die Stadtregionen sich nicht als ‘passive’ Stand­orte definieren, sondern sich auf ih­re spezifischen endogenen Potentiale (gewachsene Wirtschafts­tra­di­ti­o­nen, Institutionsstrukturen und Hand­lungs­optionen) besinnen. Nach der ersten Phase der An­sied­lungs- und Standortpolitik, die auf externer Kapi­tal­zu­fuhr aufbaute, stellt sich heute die be­son­ders dringliche Aufgabe, die geschaffenen industriellen Kerne als Ka­ta­lysatoren für die örtliche Wirt­schaft zu sichern und zu einer regional verankerten wirtschaftlichen Basis mit re­gi­onalen Wert­schöpfungsketten und Innovationsnetzen weiterzuentwickeln. Zweitens stehen die Städte und Re­gi­onen heute - anders als in der ersten Phase des Transformationsprozesses, in der die Prozesse noch weitgehend von Bund und Ländern, also zentral, gesteuert wurden - vor der großen Heraus­for­derung, selbständig Strategien zu entwickeln, die aus den regionalen Besonderheiten heraus zu einer besseren Position im Wettbewerb bei­tra­gen. Eine solche Herausforderung lässt sich nur in­ner­halb einer effizienten institutionalisierten kommunalen und re­gionalen Handlungsstruktur mei­stern. Damit sind nicht nur formelle politische Institutionen gemeint; diese sind auf der regionalen Ebene auch nur relativ schwach entwickelt. Entscheidend sind vielmehr die besonderen re­gionalen informellen institutionellen Arrangements, das Verhalten und die spezifischen Beziehungsmuster (Ko­a­litionsmuster, Machtstrukturen, Kooperationsformen) der relevanten organisierten Akteure: der Bür­ger­grup­pen, Investoren, Unternehmen, Verbände, Parteien und staatlichen Akteure." (Ku­jath 1999a:15f) - "If it is difficult to get financing in a distressed area, does that mean that the mar­kets have failed? More likely, it means that there is more risk than the markets are willing to bear. Prices will eventually adjust so that people in these areas will either leave or rebuild." (Arthur J. Rol­nick, Is State and Local Economic Development Policy a Zero-Sum Game ... or Worse?, fedga­zette 1/1993)

[5]) „Im Trierer Rotlicht-Skandal sind nach ihrer Auffassung Verbindungen und Verflechtungen zwischen Ord­nungs­amt, Polizei, Landeskriminalamt, Staatsanwaltschaft und Richtern mit Bordell­be­treibern und Organisierter Kri­mi­nalität »deutlich sichtbar« geworden. Während die Stadt einer­seits rigide Aufenthaltsgenehmigungen ver­wei­gert habe, seien bei Prostituierten unbesehen Aus­nah­men gemacht worden, sagte Lea Ackermann, die sich seit 15 Jahren gegen Frauenhandel und Zwangs­pro­sti­tu­ti­on engagiert." Grüne fordern besseren Opferschutz. Stadt Trier begünstigte an­geb­lich Frauen­han­del, Trierischer Volksfreund, 19.03.1999

[6]) In Rheinland-Pfalz scheint gerade die FDP als neoliberale Unternehmerpartei durch ihre ei­genes Regie­rungshandeln bewei­sen zu wollen, dass Strukturpolitik notwendigerweise zu Misswirt­schaft führen muss: „Mainz in der Schusslinie des Rech­nungs­hofes. Millionen werden verschwen­det: Rüffel des Landes­rech­nungs­hofs Rheinland-Pfalz für die Konversionspolitik der Mainzer Lan­desregierung: Zu unprofessionell und ver­schwen­derisch wurde vor allem bei den Flughäfen Hahn und Zweibrücken zu Werke gegangen. In die Schuss­li­nie geriet auch die millionenschwere Sanie­rung des ehemaligen Zettelmeyer-Geländes in Konz." (TV 10.02.99) - Die öffentliche Miss­wirt­schaft zugunsten einzelner Privatinteressen setzt sich fort bis in die Kommunen: „Auf Ein­nahmen in Milllionen-Höhe verzichtet. Landesrechnungshof rügt die Stadt Konz: Grundstücke zu billig ab­ge­geben, Beiträge nicht erhoben, Förderungen doppelt kassiert." (TV 10.02.99). - "Kommission will Wildwuchs lichten. Neue Regelung für Landräte und Bürgermeister" (TV Nr.288,1999) "Auf strengere Vor­gaben für Minister und mehr Kontrolle einer offenkundig laschen Handhabung bei Landräten und Bürgermeistern in puncto Nebenjobs dringt eine Expertenkommission." Wozu aber schärfere Re­ge­lungen, wenn die bestehenden schon nicht eingehalten werden, wie man selbst augenzwinkernd zugibt?! "Be­trü­ge­reien bei Exporterstattungen, Zöllen und Mehrwertsteuer" meldet Hajo Friedrich (FAZ 23.11.1999,S.28) auch von der Euro­pä­ischen Union. "Kommission und Mitglieds­staaten be­kommen die EU-Finanzverwaltung nicht in den Griff". 5% des EU-Haushalts (d.h.: jähr­lich rund 8 Milliarden DM) laut EuRH-Präsidiumsmitglied Bernhard Friedmann mit Unregelmä­ßig­keiten be­haftet. - Jahres­be­richt 1998 zur EU-Betrugsbekämpfung Der Fall Doer­fert und der Kanzler-Altlast Helmut Kohl sind notorisch. Den Apologeten, natürlich auf der Son­nenseite des Wirtschaftssy­stems, ist sol­ches stets nie mehr als ein Schönheitsfehler. So Yardeni, Moss (1990a) im Hinblick auf beson­dere US-Finanzskandale. Sie sind beruhigt durch den Gedan­ken, dass derlei immer nur natürliche „Auswüchse" darstellten, wie sie schon Smith als ständig ge­gen­wärtige systemimmanente Ten­denzen der Wettbewerbsgesellschaft erkannt habe. Ob man sich bei dieser Diagnose beruhigt, dürfte si­cher­lich davon stark abhängen, ob man Nutznießer oder Leid­tragender solcher Missstände ist.

[7]) „Daimler und die zu hohen Steuern. Bonn reagiert erstaunt auf Konzernkritik: Seit 1995 keine müde Mark gezahlt": „Das Bundesfinanzministerium hat am Montag Kritik von Daimler-Chrysler an der geplanten Steuerreform zu­rückgewiesen. Daimler-Finanzchef Manfred Gentz hat in einem Brief an Bundeskanzler Schröder (SPD) die Steu­erreform als wirt­schafts­feind­lich angeprangert und eine dro­hende Abwanderung von Konzernen ange­kün­digt. Am Montag sagte Gentz: ‘ Es könnte dazu füh­ren, wenn man nicht eine vernünftige Regelung findet, dass Kon­zernzentralen und deren Spitzen ihren Sitz aus Deutschland heraus suchen.' Das Bonner Bun­desfinanz­mini­ste­rium nahm den Brief ‘mit Erstaunen zur Kenntnis’. Der Konzern sei nicht gerade als einer der Haupt­steuer­zah­ler aufgefallen, sagte Sprecher Tor­sten Albig. Weil Daimler Verlustvorträge in zweistelliger Milliardenhöhe vor sich hergetragen ha­be, habe der Konzern seit 1995 in Deutschland keine Steuern mehr bezahlt. Bei der Gel­tend­ma­chung von Verlusten werde sich auch künftig nichts ändern. Es sei aber nicht auszuschließen, dass der Kon­zern in Zukunft Steuern zahlen werde. Das würde die Bundesregierung begrüßen." (TV 16.03.1999) - Hier zeigt sich vielleicht eine abnehmende Elastizität der kaufbaren Politik: Eine Re­gierung wird von der Wirt­schaft umso weniger erpressbar, je weniger diese faktisch überhaupt noch Steuern zahlt. Dies macht aber noch ein ganz anderes „utilitaristisches Dilemma" deutlich, als es Parsons (1937a) noch im Au­ge hatte: „Strenggenommen müsste für den Betroffenen die Rechts­ord­nung, wo sie ihm keinen Nutzen oder ei­nen Nachteil bringt, ihre Verbindlichkeit verlieren und seine ‘natürliche Verpflichtung’ zur Gerechtigkeit en­den." (Kulenkampf 1981a:452, Humes Moral­phi­lo­sophie interpretierend). Dieses Dilemma fühlt bis heute aber noch jedes Privatinteresse: der schlan­ke Staat ist ihm nur Mittel zu seinem Zweck und gerade insoweit noch legitim. Der Einzige und sein Eigentum unterhält mit dem Staat über seine Dien­ste gewissermaßen gerade noch einen Mietvertrag; darüber hinaus gibt es keine öffentliche Ver­pflichtung (die Ersetzung der allgemeinen Wehrpflicht durch Söldner und der staatlichen Polizei durch private body guards ist nur zu kon­se­quent). Selbst dann noch entsteht im Sinne Olsons (1985a) das „Trittbrettfahrer" - Problem beim An­gebot eines frei zugänglichen Kollektivgutes. Auch das Vertrauen in die Vertragstreue ist ab ei­nem gewissen Punkt nicht mehr einklagbar; die Eu­trophie der Überlastung der Rechtswege und des Rechtsschutzes indizieren eine Eskalation der Transaktionskosten (wie in den USA evtl. die Eu­trophie des Plastikgeldes zur Zerstörung des Vertrauens in Währung und Kreditsystem führt). Wenn Kollek­tivgüter aber nicht mehr honoriert werden, werden sie über kurz oder lang auch nicht mehr hergestellt werden. Ein Schmarotzer-Kapitalismus entzieht sich dadurch selbst seine eigene Grundlage, da er 1. die Erstattung der Reproduktionskosten seines eigenen polit-ökono­mi­schen Systems nicht zu organisieren vermag und 2. systemfremde Grundlagen nur auszubeuten in der La­ge ist. Auf­grund solcher Überlegungen erscheinen marxistische oder Schumpeters Erwartungen hin­sichtlich eines sy­stem­bedingten Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nur all­zu begründet. Dass der Schma­rot­zer bisher überlebt hat, ist nur den bisher vorhandenen Wirten zu danken.

[8]) „Nous les payons, en quelque sort, pour qu’ils nous achètent." (Servan-Schreiber 1967a:44)

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