"(...) gibt es überall wohl ein höheres Prinzip der Entscheidung, wenn über Wahrheit gestritten wird, als die Vernunft"? (Kant XI:311)
Wir haben nicht die Wahl zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern ob wir auf eine gesunde oder kranke Art rational sein wollen. Dazu müssen wir aber wissen, welche Art von Rationalität vernünftig ist, oder ob das Absurde das letztlich Vernünftigere darstellt.
Rationalität ist notwendig auf die Einhaltung von Regeln oder Kriterien orientiert. Spinners (1994a) Konzept der „okkasionellen Rationalität" erscheint gerade aus diesem Grunde angreifbar. Denn den eigentümlichen Charakter dieser zweiten Vernunftart gelingt es Spinner nicht typologisch plausibel zu machen. Rationalität ohne Kriterien ist ein leerer Dezisionismus und widerspricht seinem eigenen Prinzip. Eine Verherrlichung der „Entscheidung an sich" fügt sich dem allgemeinen Kulturverschleiß ein (Adorno 1971a:26), der sich auf puren Dezisionismus noch etwas zugute hält - nur dass derlei Kulturkritik, die fälschlich den Grundsatz voraussetzt, dass die Wirklichkeit als Kultur gewertet werden könne und müsse, letztlich bloß im phrasendreschenden Seufzen darüber versinkt, dass die edle Annahme eben doch nicht wahr, demnach falsch sei.
Die Frage steht allerdings, welcher unterschiedlichen Art diese Regeln oder Kriterien sein sollen:
deterministisch,
probabilistisch,
je nach dem Modell eines der Entscheidungsverfahrens, für welches man optiert.
Vielleicht kann in dieser Situation auch eine Prüfung von Lösungsvorschlägen aus der Truhe des Neukantianismus weiterhelfen. Denn bereits der Neukantianismus hatte im Zusammenhang begriffslogischer Untersuchungen das Problem der Wertung des Einzigartigen aufgeworfen, wie das Lask (1914a) gerade im Anschluss an Rickert an der philosophischen Entwicklung von Fichte aufzuweisen unternommen hatte. Dabei prüfte er, in welcher Weise die Logik der Wertung singulärer Gebilde („Wertindividualität") sich kategoriell von der Subsumierbarkeit unter generelle Wertkategorien („rationalistische Wertungslogik") unterscheiden ließe:
„Aber historische Erscheinungen, wie etwa einzelne Persönlichkeiten, lassen sich niemals dadurch erschöpfend würdigen, dass nachgeprüft wird, wie weit sie den Satz des Widerspruchs oder den kategorischen Imperativ in sich verwirklicht haben. (...) Die Wertung dringt hier nicht in den Kern der Individualität ein, sondern haftet an einem Teil, an einem Merkmal, das unzähligen Exemplaren derselben Wertungssphäre gemeinsam sein muss. Um dieses Gemeinsamen, nicht um seiner individuellen Eigenart willen, erhält das Objekt seinen Wert. Es erscheint zwar als ein einzelnes Wertvolles, aber nicht wertvoll in seiner Einzigkeit." (Lask 1914a:10f)
Wo der Standpunkt „Individualität, Wirklichkeit, bestimmtes Dasein der Charaktere" (Hölderlin 3:255f) ist, muss auch die umgebende Welt aus diesem Standpunkte erscheinen. Lask führt als exemplarischen Gegensatz dafür Kant und Hegel an:
„Beim abstrakten Wertschema wird das Wertexemplar mit dem Wertallgemeinen, beim hegelschen Verfahren Wertindividualität mit Wertindividualität, nämlich einzelne Gliedindividualität mit der sie realiter umfassenden Gesamtindividualität in Beziehung gesetzt." (Lask 1914a:13)
Außer einer an Hegel anschließenden Kritik der kantischen formalen Moralität (Werner 1974a) stößt man dann aber bei Lukács auf kollektiven Dezisionismus in Reinkultur:
„Diskussionen konnten eine Lösung nicht hervorbringen. Von beiden Seiten wurden schon Bände voll von Argumenten zur Beurteilung der Situation geschrieben. Eine Überzeugung war hier von vornherein unmöglich, weil die tiefste Quelle der Überzeugung mit keinem Argument erfassbar war: nämlich der einheitliche und entschlossene Wille des Proletariats, die Gewalt an sich zu reißen." (Lukács 1968a:76)
Die Koinzidenz von Dezisionismus und einer politisch willkürlich einsetzbaren Legitimationsideologie lässt sich hier wie selten fein säuberlich studieren. Wir entgehen diesem Sumpf jedoch nicht, wenn wir nicht über kognitive und/oder wertmäßige Kriterien verfügen, die über das Einmalige der konkreten Entscheidungssituation hinaus verweisen.
Die Frage allerdings ist berechtigt:
Darf Rationalitätstheorie sich auf die Vernunft des Individuums zurückziehen?
Damit wird 1. ein moralisches Problem wie 2. ein Problem individueller Informationsverarbeitungskapazität aufgeworfen.
ad1):
Wenn wir schon unsere Entscheidungen letztlich allein treffen müssen, so steht es uns gut an, sie unseren Mitmenschen gegenüber zu verantworten, sie argumentativ zu begründen. Zudem: Woher nehmen wir denn sonst unsere Kriterien?
ad2):
Wir stehen in realen kausalen und kommunikativem Zusammenhängen mit unseren Mitmenschen, sind auf deren Unterstützung angewiesen, sogar lebensnotwendig abhängig. Geht es um Interaktionsprozesse zwischen mehreren handelnden Subjekten, ist keiner mehr frei in seiner Entscheidung. Das intersubjektive Ergebnis ist vom Individuum meist nicht beabsichtigt, zumindest nicht in allen Nebenfolgen; zumeist ist es auch unmöglich für jeden einzelnen Beteiligten, dieses vorherzusehen und geplant zu beeinflussen.
Dies sind alles Bedingungen, die eine Rationalitätstheorie nicht vernachlässigen darf und die erzwingen, bei der Konzeption einer Rationalitätstheorie von vornherein eine Form intersubjektiver, m.a.W.: kollektiver Rationalität ins Auge zu fassen.
„Jeder von uns denkt seine eigenen Gedanken; die Begriffe aber haben wir mit unseren Mitmenschen gemeinsam." (Toulmin 1978a:49)
Damit scheint Popper (1973a:22) bis zu einem gewissen Grade übereinzustimmen, wenn er sagt:
„I do not know of anything more ‘rational’ than a well-conducted critical discussion."