Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Absoluter Wahrheitsanspruch (?!)

Wenn Hartwig (1977a:29ff) unterstellt, Marx erhebe für seine Theorie den Anspruch absoluter Wahr­heit [1]), so ist er damit vielleicht selbst Opfer seiner politischen Sozialisation. Es soll nicht nur ange­führt werden sowohl Engels’ wie Lenins offen deklariertes Eingeständnis, eine Philo­sophie wie etwa der Idealismus sei philosophisch unwiderlegbar. Marx nannte „Das Kapital" eine „Kri­tik der Natio­nal­ökonomie" [2]). Nach dem von Kant eingeführten Sprach­ge­brauch ist aber „Kritik" ei­ne solche Wissenschaft, die

„keine Regeln a priori gibt, die das Urteil hinreichend bestimmen, wie die Lo­gik, sondern ihre Re­geln a posteri­ori hernimmt, und die empirischen Gesetze, nach denen wir das Unvollkom­mene und Vollkommnere (...) erken­nen, nur durch die Vergleichung allgemeiner macht." (Kant VI:437)

Dieser wurde von Fichte aufgenommen und weiterentwickelt:

"Es kann nämlich über die Metaphysik, die nur nicht eine Lehre von den vor­geb­lichen Dingen an sich sein muss, sondern eine genetische Ableitung des­sen, was in unserem Bewusstseyn vorkommt, selbst wiederum philosophiert, - es können Untersuchungen angestellt werden über die Möglichkeit, die ei­gent­li­che Bedeutung, die Regeln einer solchen Wissenschaft; und es ist sehr vorteil­haft für die Bearbeitung der Wissenschaft selbst, dass dies geschehe. Ein Sy­stem von dergleichen Untersuchungen heisst in philosophischer Hinsicht Kritik; we­nigstens sollte man nur das angegebene mit diesem Namen bezeichnen. Die Kri­tik ist nicht selbst die Metaphysik, sondern liegt über sie hinaus: sie verhält sich zur Metaphysik gerade so, wie diese sich verhält zur gewöhnlichen Ansicht des natürlichen Verstandes. Die Metaphysik erklärt diese Ansicht, und sie selbst wird erklärt in der Kritik. Die eigentliche Kritik kritisiert das philo­so­phi­sche Denken: soll die Philosophie selbst auch kritisch heissen, so kann man von ihr nur sagen, dass sie das natürliche Denken kritisire. Eine reine Kritik - die kan­t­sche z.B., die sich als Kritik ankündigte, ist nichts weniger als rein, sondern gro­ßenteils selbst Metaphysik; sie kritisiert bald das philosophische, bald das na­türliche Denken ..." (Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre:7f)

Durch Bauer wurde „Kritik" zum Schlachtruf der Junghegelianer. Was darunter jeweils ge­nau zu ver­ste­hen war (insbesondere im Zusammenhang zur Entwicklung des Selbstbe­wusst­seins), hat sich im Laufe seines Lebens und der junghegelianischen Auseinanderentwicklung in­dessen deutlich verändert (McLellan 1969a:60f). Aber schon Engels sagte klipp und klar:

„... die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst un­souverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andre kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden." (Engels 1970a:80)

Denselben Gedanken hat Popper so formuliert:

„Thus without violating the idea of two valued logic (‘every unambiguous sta­te­ment is true or false, and there is no third possibility’), we can sometimes speak of fal­se statements which are more or less false, or further from the truth or nearer to it. And this idea of higher or lower verisimilitude is applicable both to false statements and to true statements: the essential point is their truth con­tent which is a concept lying entirely within the field of two-valued logic." (Popper 1973a:56f)

Es stellt sich umso mehr die grundsätzliche Frage: Was hinderte Hartwig, selbst wenn ein An­spruch auf absolute Wahrheit erhoben worden wäre, diesen und die damit verbundenen Be­haup­tungen kritisch auf ihre eigenen Verdienste hin zu überprüfen? Eine unkritische Position wird nicht allein schon durch eine Bezichtigung des Dogmatismus widerlegt. Ein kon­se­quen­ter Fallibilist kann nicht bei der Feststellung stehen bleiben, dass eine untersuchte Position recht­fertigungsorientiert sei und etwa dogmatische Ansprüche auf absolute Wahrheiten sich an­maße.

Habermas (1975a) zeigt sich - noch voll auf dem Boden von rechtfertigungsorientiertem fun­da­men­ta­li­stischen Denken - präokkupiert mit einer genetisch rückwärts argumentierenden er­kenntnis­the­o­re­tischen Begründungsstrategie. Niemals können jedoch alle genetische Bedin­gun­gen mit­re­flek­tiert werden, um schließlich eine These voll begründet behaupten zu können. Es ist nicht richtig, dass man einen Erkenntnisprozess nicht grundsätzlich an jedem beliebigen Punkt neu starten kann. Eine Rück­ver­folgung der Problemgenese hat stets nur relativen Er­kennt­niswert. Niemals je­doch kann sie den prinzipiellen Charakter einer absoluten Begründung im Sinne von Erkenntnistheorie gewin­nen.

Auf den Sophismus:

Der sicherste Weg, recht zu behalten, ist, den richtigen Standpunkt zum Ausgangspunkt zu wählen.

antwortet der andere:

Um den richtigen Standpunkt zu besitzen, ist es wichtig, die Frage so zu wählen, dass dieser Standpunkt richtig ist.

Damit sind wir bei jenem Henne-Ei-Problem angelangt, das Albert "Münchhausen-Trilemma" ge­tauft hat und welches Rechtfertigungsstrategen unauflösbar ist. Habermas (1975a) wird mit sei­ner recht­fer­ti­gungs­orientierten Erkenntnistheorie ebenso bei seiner Marx-Rezeption fehl­ge­lei­tet. Denn eine derartige Erkenntnistheorie ist gerade das, was Marx bei Hegel und Feu­er­bach als eine scholastische Sackgasse zurückweist, die nur von der Lösung der jeweils kon­kre­ten prak­tischen Probleme wegzu­füh­ren vermag. Wenn Marx sagt, er wählt (im Gegensatz zu Hegel und Feuerbach) den wirk­li­chen Menschen in seinen konkreten gesellschaftlichen Ver­hältnissen zum Ausgangspunkt, dann erscheint das wohl auf den ersten Blick philo­so­phisch naiv (was dies indes für einen Journalisten in den damaligen deutschen Verhältnissen si­cher­lich nicht war) und deutet erst in Umrissen ein Er­kennt­nis­programm an. Aber eines ist die­ses dann mit Sicherheit nicht: die Zumutung, alle wissenschaft­li­chen und praktischen Er­kennt­nisse aus letzten er­kennt­nistheoretischen Prinzipien abzuleiten - und be­stünden diese auch in den gesell­schaft­li­chen Be­dingungen der Entstehung von Erkenntnis! Die Um­deutung marx­scher Wissensso­zio­lo­gie in ei­ne Erkenntnistheorie geht voll auf Rechnung von Haber­mas. Daher: Nicht Marx hat sich nicht selbst verstanden, sondern Habermas die marxsche In­ten­tion. Im Sinne letzterer kann eine Er­kenntnistheorie nicht den Charakter eines absoluten Fun­da­ments von Wahrheit besitzen, son­dern nur der Orientierung dienen hin auf die objektiv rich­tige Be­ziehung zwischen Theorie und Praxis (vgl. Baumgarten 1964a:572). Auch die "Rich­tigkeit" von Er­kennt­nistheorie ist letzt­lich ei­ne Frage, welche sich allein im Wech­sel­spiel von Praxis und Theorie beantworten lässt.

Dass eine einzelne These fälschlicherweise auf eine absolut wahre Basis zu­rück­ge­führt wur­de, entlässt den fallibilisti­schen Prüfer nicht aus seiner Pflicht, diese These auf ihren ei­genen Ver­dienst hin zu untersu­chen. Eine These ist nicht schon deshalb falsch, da sie falsch abgelei­tet wurde.[3]) Dies im­pli­ziert mitnichten, dass es Marx und Engels immer und stets gelang, die re­zi­pierte Li­teratur ohne Wei­teres in ein stimmiges Ganzes zu integrieren. Die Diskussion in­ner­halb des Mar­xismus kann nur als Ausfluss dessen verstanden werden, dass die marxsche The­o­rie eher in Richtung Hegel oder eher in Richtung Feuerbach oder Ricardo interpretiert werden kann. So entkräftet der Ablauf wissenschaft­li­cher Diskussion immer wieder die Naivität [4]) des the­o­retischen Monismus, zumindest als eine stim­mige Beschreibung der gegenwärtigen Situ­a­ti­on der sozialwissenschaftlichen Theorie. Es sind dies gerade auch innerhalb der marxschen The­o­rie die internalisierten Teile divergierender Systeme, die bei einer konkreten Pro­blem­ana­ly­se immer wieder nach verschiedenen Richtungen auseinander zu driften drohen.



[1]) „Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämp­fe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit ei­nem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nie­der! Wir entwickeln der Welt aus den Prin­zi­pi­en der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wol­len dir die wahre Parole des Kampfes zu­schrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Be­wusst­sein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will." (MEW 1:345) Hart­wigs Imputation kommt die­ser verqueren Linie der Argumentation recht nahe, welche Brentano (1971a:492) so genervt hat: „Die Begründung der Organisation und der Eliminierung von Konkurrenten durch den ‘Monopol­pluralismus’ ar­gu­mentiert umgekehrt: wir können sicher sein, dass alle Meinungen falsifizierbar sind, also darf diejenige aus­ge­schaltet werden, die sich für wahr hält."

[2]) "Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Dar­stellung Kritik desselben. (...) Das Ganze ist eingeteilt in 6 Bücher. 1) Vom Kapital (Enthält einige Vor­chapters.) 2) Vom Grundeigentum. 3) Von der Lohnarbeit. 4) Vom Staat. 5) Internationaler Handel. 6) Welt­markt" Marx an Lassalle, den 22.02.1858 (Lassalle-Nachlass, S. 116f), zit. nach (GR:IX). - "Close scrutiny of the notes which Marx originally wrote as the basis of Capital in 1857-8 (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie), leaves no doubt that Marx did not abandon the perspective which guided him in his ear­ly writings." (Giddens 1971a:ix)

[3]) Vgl. Al­bert (1972c:241), der folgendes im Hinblick auf das Naturrecht formulierte: "Es be­steht kein Anlass, die Beurteilung des Inhalts dieser Ideale davon abhängig zu machen, dass man sie im Gewande absoluter Erkenntnisse präsentiert hat."

[4]) "Wenn G. Rittig im Hinblick auf den Gegensatz von Arbeitswerttheorie und Grenznutzen­theorie die Frage stellte, ‘ob es in ein und derselben Wissenschaft hinsichtlich ihres Kerns zwei Theorien geben könne, und ob dieses Skandalon noch weitere hundert Jahre bestehen sollte’, so wird man sich heute zunächst einmal mit dem immer wieder verdrängten Skandalon beschäftigen müssen, dass selbst in ein und derselben Theorie hinsichtlich ihres Kerns mindestens drei disparate Aussagesysteme bestehen." (Backhaus 1978a:24)

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