Wenn Hartwig (1977a:29ff) unterstellt, Marx erhebe für seine Theorie den Anspruch absoluter Wahrheit [1]), so ist er damit vielleicht selbst Opfer seiner politischen Sozialisation. Es soll nicht nur angeführt werden sowohl Engels’ wie Lenins offen deklariertes Eingeständnis, eine Philosophie wie etwa der Idealismus sei philosophisch unwiderlegbar. Marx nannte „Das Kapital" eine „Kritik der Nationalökonomie" [2]). Nach dem von Kant eingeführten Sprachgebrauch ist aber „Kritik" eine solche Wissenschaft, die
„keine Regeln a priori gibt, die das Urteil hinreichend bestimmen, wie die Logik, sondern ihre Regeln a posteriori hernimmt, und die empirischen Gesetze, nach denen wir das Unvollkommene und Vollkommnere (...) erkennen, nur durch die Vergleichung allgemeiner macht." (Kant VI:437)
Dieser wurde von Fichte aufgenommen und weiterentwickelt:
"Es kann nämlich über die Metaphysik, die nur nicht eine Lehre von den vorgeblichen Dingen an sich sein muss, sondern eine genetische Ableitung dessen, was in unserem Bewusstseyn vorkommt, selbst wiederum philosophiert, - es können Untersuchungen angestellt werden über die Möglichkeit, die eigentliche Bedeutung, die Regeln einer solchen Wissenschaft; und es ist sehr vorteilhaft für die Bearbeitung der Wissenschaft selbst, dass dies geschehe. Ein System von dergleichen Untersuchungen heisst in philosophischer Hinsicht Kritik; wenigstens sollte man nur das angegebene mit diesem Namen bezeichnen. Die Kritik ist nicht selbst die Metaphysik, sondern liegt über sie hinaus: sie verhält sich zur Metaphysik gerade so, wie diese sich verhält zur gewöhnlichen Ansicht des natürlichen Verstandes. Die Metaphysik erklärt diese Ansicht, und sie selbst wird erklärt in der Kritik. Die eigentliche Kritik kritisiert das philosophische Denken: soll die Philosophie selbst auch kritisch heissen, so kann man von ihr nur sagen, dass sie das natürliche Denken kritisire. Eine reine Kritik - die kantsche z.B., die sich als Kritik ankündigte, ist nichts weniger als rein, sondern großenteils selbst Metaphysik; sie kritisiert bald das philosophische, bald das natürliche Denken ..." (Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre:7f)
Durch Bauer wurde „Kritik" zum Schlachtruf der Junghegelianer. Was darunter jeweils genau zu verstehen war (insbesondere im Zusammenhang zur Entwicklung des Selbstbewusstseins), hat sich im Laufe seines Lebens und der junghegelianischen Auseinanderentwicklung indessen deutlich verändert (McLellan 1969a:60f). Aber schon Engels sagte klipp und klar:
„... die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andre kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden." (Engels 1970a:80)
Denselben Gedanken hat Popper so formuliert:
„Thus without violating the idea of two valued logic (‘every unambiguous statement is true or false, and there is no third possibility’), we can sometimes speak of false statements which are more or less false, or further from the truth or nearer to it. And this idea of higher or lower verisimilitude is applicable both to false statements and to true statements: the essential point is their truth content which is a concept lying entirely within the field of two-valued logic." (Popper 1973a:56f)
Es stellt sich umso mehr die grundsätzliche Frage: Was hinderte Hartwig, selbst wenn ein Anspruch auf absolute Wahrheit erhoben worden wäre, diesen und die damit verbundenen Behauptungen kritisch auf ihre eigenen Verdienste hin zu überprüfen? Eine unkritische Position wird nicht allein schon durch eine Bezichtigung des Dogmatismus widerlegt. Ein konsequenter Fallibilist kann nicht bei der Feststellung stehen bleiben, dass eine untersuchte Position rechtfertigungsorientiert sei und etwa dogmatische Ansprüche auf absolute Wahrheiten sich anmaße.
Habermas (1975a) zeigt sich - noch voll auf dem Boden von rechtfertigungsorientiertem fundamentalistischen Denken - präokkupiert mit einer genetisch rückwärts argumentierenden erkenntnistheoretischen Begründungsstrategie. Niemals können jedoch alle genetische Bedingungen mitreflektiert werden, um schließlich eine These voll begründet behaupten zu können. Es ist nicht richtig, dass man einen Erkenntnisprozess nicht grundsätzlich an jedem beliebigen Punkt neu starten kann. Eine Rückverfolgung der Problemgenese hat stets nur relativen Erkenntniswert. Niemals jedoch kann sie den prinzipiellen Charakter einer absoluten Begründung im Sinne von Erkenntnistheorie gewinnen.
Auf den Sophismus:
Der sicherste Weg, recht zu behalten, ist, den richtigen Standpunkt zum Ausgangspunkt zu wählen.
antwortet der andere:
Um den richtigen Standpunkt zu besitzen, ist es wichtig, die Frage so zu wählen, dass dieser Standpunkt richtig ist.
Damit sind wir bei jenem Henne-Ei-Problem angelangt, das Albert "Münchhausen-Trilemma" getauft hat und welches Rechtfertigungsstrategen unauflösbar ist. Habermas (1975a) wird mit seiner rechtfertigungsorientierten Erkenntnistheorie ebenso bei seiner Marx-Rezeption fehlgeleitet. Denn eine derartige Erkenntnistheorie ist gerade das, was Marx bei Hegel und Feuerbach als eine scholastische Sackgasse zurückweist, die nur von der Lösung der jeweils konkreten praktischen Probleme wegzuführen vermag. Wenn Marx sagt, er wählt (im Gegensatz zu Hegel und Feuerbach) den wirklichen Menschen in seinen konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausgangspunkt, dann erscheint das wohl auf den ersten Blick philosophisch naiv (was dies indes für einen Journalisten in den damaligen deutschen Verhältnissen sicherlich nicht war) und deutet erst in Umrissen ein Erkenntnisprogramm an. Aber eines ist dieses dann mit Sicherheit nicht: die Zumutung, alle wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse aus letzten erkenntnistheoretischen Prinzipien abzuleiten - und bestünden diese auch in den gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung von Erkenntnis! Die Umdeutung marxscher Wissenssoziologie in eine Erkenntnistheorie geht voll auf Rechnung von Habermas. Daher: Nicht Marx hat sich nicht selbst verstanden, sondern Habermas die marxsche Intention. Im Sinne letzterer kann eine Erkenntnistheorie nicht den Charakter eines absoluten Fundaments von Wahrheit besitzen, sondern nur der Orientierung dienen hin auf die objektiv richtige Beziehung zwischen Theorie und Praxis (vgl. Baumgarten 1964a:572). Auch die "Richtigkeit" von Erkenntnistheorie ist letztlich eine Frage, welche sich allein im Wechselspiel von Praxis und Theorie beantworten lässt.
Dass eine einzelne These fälschlicherweise auf eine absolut wahre Basis zurückgeführt wurde, entlässt den fallibilistischen Prüfer nicht aus seiner Pflicht, diese These auf ihren eigenen Verdienst hin zu untersuchen. Eine These ist nicht schon deshalb falsch, da sie falsch abgeleitet wurde.[3]) Dies impliziert mitnichten, dass es Marx und Engels immer und stets gelang, die rezipierte Literatur ohne Weiteres in ein stimmiges Ganzes zu integrieren. Die Diskussion innerhalb des Marxismus kann nur als Ausfluss dessen verstanden werden, dass die marxsche Theorie eher in Richtung Hegel oder eher in Richtung Feuerbach oder Ricardo interpretiert werden kann. So entkräftet der Ablauf wissenschaftlicher Diskussion immer wieder die Naivität [4]) des theoretischen Monismus, zumindest als eine stimmige Beschreibung der gegenwärtigen Situation der sozialwissenschaftlichen Theorie. Es sind dies gerade auch innerhalb der marxschen Theorie die internalisierten Teile divergierender Systeme, die bei einer konkreten Problemanalyse immer wieder nach verschiedenen Richtungen auseinander zu driften drohen.
[1]) „Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will." (MEW 1:345) Hartwigs Imputation kommt dieser verqueren Linie der Argumentation recht nahe, welche Brentano (1971a:492) so genervt hat: „Die Begründung der Organisation und der Eliminierung von Konkurrenten durch den ‘Monopolpluralismus’ argumentiert umgekehrt: wir können sicher sein, dass alle Meinungen falsifizierbar sind, also darf diejenige ausgeschaltet werden, die sich für wahr hält."
[2]) "Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben. (...) Das Ganze ist eingeteilt in 6 Bücher. 1) Vom Kapital (Enthält einige Vorchapters.) 2) Vom Grundeigentum. 3) Von der Lohnarbeit. 4) Vom Staat. 5) Internationaler Handel. 6) Weltmarkt" Marx an Lassalle, den 22.02.1858 (Lassalle-Nachlass, S. 116f), zit. nach (GR:IX). - "Close scrutiny of the notes which Marx originally wrote as the basis of Capital in 1857-8 (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie), leaves no doubt that Marx did not abandon the perspective which guided him in his early writings." (Giddens 1971a:ix)
[3]) Vgl. Albert (1972c:241), der folgendes im Hinblick auf das Naturrecht formulierte: "Es besteht kein Anlass, die Beurteilung des Inhalts dieser Ideale davon abhängig zu machen, dass man sie im Gewande absoluter Erkenntnisse präsentiert hat."
[4]) "Wenn G. Rittig im Hinblick auf den Gegensatz von Arbeitswerttheorie und Grenznutzentheorie die Frage stellte, ‘ob es in ein und derselben Wissenschaft hinsichtlich ihres Kerns zwei Theorien geben könne, und ob dieses Skandalon noch weitere hundert Jahre bestehen sollte’, so wird man sich heute zunächst einmal mit dem immer wieder verdrängten Skandalon beschäftigen müssen, dass selbst in ein und derselben Theorie hinsichtlich ihres Kerns mindestens drei disparate Aussagesysteme bestehen." (Backhaus 1978a:24)
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