Dies ist der gebündelte Versuch einer Replik auf: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, was eine Replik darstellte auf: Karl Marx, Das Elend der Philosophie, was eine Replik darstellte auf: Proudhon, Die Philosophie des Elends

22.10.2005

Ein Mythos über Mythen

Ziel ist ein Verständnis der Gegenwart als einer geschichtliche Epoche (Mills 1963a:52). Ei­ne wahre, in sich stimmige historische Analyse hat demnach von der Gegenwartsanalyse des be­tref­fen­den Problems bzw. Systems auszugehen. Erst wenn diese deutlich geworden ist, kön­nen rück­schreitend in der wirklichen Geschichte die betreffenden Kategorien oder erklärenden Mo­mente aufgesucht werden und in ihrem logisch-historischen Zusammenhang gestellt wer­den. Al­les andere führt zu einer Pseudo-Geschichte [1]) bzw. zu einem unverdaulichen Brei aus Theorie und Ge­schichte


Poppers Vorge­hens­weise erinnert jedoch insoweit stark an Hegel, als für die­sen Geschichte es schon deshalb immer schon mit dem Gegenwärtigen [2]) zu tun ha­be, weil es der Phi­losophie um absolute Wahrheit gehe.

Als ein Popper gleichwertiges negatives Beispiel für eine schludrige Form der Geschichtsbe­trach­tung darf Becker (1972a) aufgeführt werden, der eine Vorgeschichte der marxschen Ar­beits­wert­theorie zu liefern vorgibt, ohne sich auch nur des Begriffes der Arbeitswerttheorie, ge­schwei­ge denn dem der marxschen, vergewissert zu haben. Dies ist exemplarisch für die ver­brei­tete schlechte Angewohnheit, Kurzbiographien und willkürlich zusammengestellte Theorie-abstracts zum willkürlichen narrative zu verrühren und sogleich für eine dem Leser zu­träg­li­che Aufarbei­tung einer Problemgeschichte auszugeben.

Die Monstrosität dessen, was Soziologen oft geneigt sind, für eine passable Geschichtsbe­trach­tung halten, erscheint Merton als umso gravierender, als zunehmend Wissenschafts­hi­sto­ri­ker auf So­ziologie als Hilfsdisziplin zurückgreifen möchten. Zuerst muss dann aber Theorie und Ge­schich­te analytisch unterschieden werden:

„The history and systematics of scientific theory can be related precisely be­cau­se they are first recognized to be distinct.” (Merton 1968a:3)

Es opponiert Merton zu Recht gegen „the artless merger of history and systematics“. Ein Wissen­schafts­historiker muss den gesamten Entwicklungsprozess neuen Wissens untersu­chen und darf dabei auch nicht der Fiktion erliegen, dass die veröffentlichte Form auch dieselbe Form ist, in der das Wissen entstanden ist:

„The public record of science therefore fails to provide many of the source ma­te­rials needed to reconstruct the actual course of scientific developments.” (Merton 1968a:4)

Vor allen Dingen darf er nicht eine amalgamierte, stilisierte Form einer Theorie als authenti­sche ge­schichtliche Tatsache vorstellen, sondern die Problementwicklung [3]) innerhalb der Ar­beit ei­nes The­oretikers nachverfolgen. Merton (1968a:21) sieht als eines der größten Pro­ble­me an, als ei­nen Draht­seilakt, dementsprechend eine Pro­blemkontinuität oder -diskontinuität au­then­tisch zu re­kon­struieren. Ein verbreitetes Laster der Wissenschaftsge­schichtsschreibung be­steht nämlich im „adum­bra­tio­nism“, einer Tendenz, sobald eine Idee neu expliziert worden ist, über­all dafür angebli­che Vor­läufer zu entdecken. Von derart Skrupeln wenig geplagt, ist es nur zu deutlich, dass Popper gerade auf dieser Tour geritten ist, wenn er nach dem historischen En­de von Hitler als Vorläufer des Faschismus mit einem Schlag Platon entdeckt. Alles in allem, lie­fert Popper nicht Geschichtswissenschaft, sondern einen Mythos, oder mo­der­ner ausge­drückt: ein narrative, d.h. ein Histörchen darüber, wie sich Klein-Erna die Ge­schichte vor­stellt und er wünscht, wie andere sie auch sehen möchten.

Ein Mythos war Platon eine zulässige dich­te­rische Form, einen Gedanken darzustellen. Aber er kannte demnach zumindest die Dif­fe­renz. Au­ßerdem gibt es noch so etwas wie eine Notwendigkeit in der Beziehung zwischen Form und Inhalt. Die Idee des Mythos hat Sorel (1981a) als ideologisches Kampfmittel auf­ge­grif­fen. Bloch hat später zu argumentieren versucht, man solle dieses mächtige irrationale Kampf­mittel [4]) nicht der politischen Rechten überlassen. Allein politische Kampfmittel sind selten wert­neutral. Das gilt übrigens auch für den „war of ideas“, an dem Popper teilzu­nehmen glaubte.



[1]) "Die Völker der Sowjetunion wurde über siebzig Jahre lang eine immer falsche Ge­schichte ge­lehrt. Daher der Witz aus jenen Zeiten: 'Die Zukunft ist gewiss, nur die Vergangenheit nicht.'" (Stern 1998a)

[2]) "Die Vernunft ist - bei diesem Ausdruck können wir hier stehen bleiben, ohne die Beziehung und das Ver­hält­nis zu Gott näher zu erörtern - die Substanz wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natür­li­chen und geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betäti­gung dieses ihres Inhalts. Wir ha­ben Ernst damit zu machen, die Wege der Vorsehung, die Mittel und Erscheinungen in der Geschichte zu er­ken­nen. Wir müssen beachten, dass die Weltgeschichte auf dem geistigen Boden vorgeht. Indem wir es mit der Idee des Geistes zu tun haben, und in der Welt­geschichte alles nur als seine Erscheinung betrachten, so haben wir, wenn wir die Vergangen­heit, wie groß sie auch immer sei, durchlaufen, es nur mit Gegenwärtigem zu tun; denn die Philo­so­phie als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d.h. er ist nicht vor­bei und ist noch nicht, sondern ist wesentlich jetzt." (Hegel, zit. nach Neurath 1931a:24)

[3]) Vorbildlich in diesem Sinne sind auf Marx bezogen Tuchscheerer (1968a) und im Hinblick auf Weber insbesondere Schluchter (1991a). Neuere gelungene Versuche einer Disziplingeschichte der Soziologie stellt Joas (1998a) vor.

[4]) „Myths are, indeed, straw-men; but when one is knocked down by a straw-man one is bound to feel hurt and humiliation." (Agassi 1993a:150)

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